Lectio IX

Ein Blick in die Zukunft

Oidipous, Sohn des Königspaares von Korinth, hat in sportlichen Wettkämpfen alle anderen jungen Männer geschlagen und bekommt nun von den frustrierten Konkurrenten zu hören, er sei ein Ausländer, jedenfalls nicht der Sohn des Königspaars. Was tut ein junger Held in dieser Situation? – Er fragt den Gott Apollon, wer er denn in Wirklichkeit sei…

Nach dem Verschwinden der Königin Helena wollen die griechischen Könige Troja angreifen und stehen bereit, nach Osten zu segeln, aber der Wind weht über Wochen von der falschen Seite. Was tun sie? – Sie fragen den Seher Kalchas, weshalb die Götter ihr Auslaufen verhindern wollen…

Kroisos, König der Lyder, fürchtet sich vor den Persern, die immer mächtiger werden, und möchte sie in einem Präventivkrieg «unschädlich machen». Was tut er? – Er schickt Boten nach Delphi mit dem Auftrag, Apollon zu fragen, ob die Götter einen solchen Krieg unterstützten…

Die drei Beispiele zeigen, wie selbstverständlich die Menschen in der Antike davon ausgingen, dass die Göttinnen und Götter in ihr Handeln eingriffen. Man war überzeugt, dass eine kriegerische Expedition, aber auch eine Ehe nicht erfolgreich sein konnten, wenn die Götter das Vorhaben nicht unterstützten. Und wie das Beispiel Oidipous zeigt, suchte man auch in persönlichen Krisen Rat und Hilfe bei den Göttern und Göttinnen.

Dafür war nicht immer eine Reise in eines der berühmten Heiligtümer notwendig. Es gab auch in der näheren Umgebung der meisten Menschen Seherinnen und Seher, die mit bestimmten Techniken den göttlichen Willen erkundeten. So war es z.B. üblich, bei politischen Entscheidungen Spezialisten (Auguren) zu fragen. Sie beobachteten den Flug grosser Vögel und leiteten daraus Aussagen darüber ab, ob für ein Vorhaben mit göttlicher Unterstützung gerechnet werden konnte. Wenn ein Tier geopfert wurde, untersuchte zudem oft ein Eingeweideschauer dessen Leber und las daraus den göttlichen Willen. In vielen Städten gab es auch professionelle Traumdeuter, die man um Rat fragen konnte. Manchmal äusserte sich der göttliche Wille sogar ungefragt: Wenn zum Beispiel in einer Volksversammlung jemand einen epileptischen Anfall erlitt, galt das als göttliches «Veto» – die Versammlung wurde sofort abgebrochen. Ebenso interpretierte man auch plötzlich hereinbrechende Unwetter oder astronomische Phänomene wie etwa eine Sonnenfinsternis.

Der Apollontempel in Delphi

Für besonders wichtige Fragen schickten Adelige oder Städte Boten zu heiligen Städten, den sogenannten Orakeln. Das berühmteste Orakel befand sich in der griechischen Ortschaft Delphi. Es bestand aus einem grossen heiligen Bezirk, in dessen Zentrum ein Tempel des Apollon stand. Auf dessen Fassade soll, so wird berichtet, in grossen Lettern ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ («Erkenne dich selbst!») gestanden haben. Im innersten Raum des Tempels, bei der Statue des Gottes, sass die Pythia, eine Priesterin, auf einem Dreifuss über einer Erdspalte, aus der Dämpfe quollen. Die Pythia geriet dadurch in eine Art Trance. Wenn ihr die Fragen eines Bittstellers vorgelesen wurden, sprach der Gott durch sie hindurch, allerdings nicht in schönen Sätzen, sondern in einem kaum verständlichen Gestammel. Die Priester hatten dann die Aufgabe, dieses gottbegeisterte Gestammel in schöne griechische Hexameter umzuformen, die sie dann den Ratsuchenden übergaben. Manipulation war nicht ganz ausgeschlossen.

In einigen berühmten Fällen ist überliefert, dass diese Auskünfte mehrdeutig waren. Auch Kroisos, von dem eingangs die Rede war, erhielt einen uneindeutigen Spruch, darüber berichtet der Lesetext. Kroisos war im 6. Jh. v. Chr. König von Lydien. Er dehnte das Herrschaftsgebiet der Lyder stark aus: Einerseits unterwarf er die griechischen Städte an der kleinasiatischen Küste, andererseits erweiterte er im Osten seine Herrschaft bis an den Fluss Halys. Im Osten dieses Flusses lag das Gebiet der Meder und der Perser. Durch die Abgaben der unterworfenen Gebiete und die Ausbeutung von Goldminen wurde Kroisos sehr reich. Schon im 5. Jh. v. Chr. waren sein Reichtum und seine Freigebigkeit sprichwörtlich: So kannte der griechische Historiograph Herodotos von Halikarnassos etliche grosse Weihgaben aus massivem Gold, die Kroisos dem Orakel von Delphi geschenkt haben soll.

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AMOЯ von Islème Sassi und Beatrice Gerber wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

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