Lectio XXXI

Non vitae, sed scholae discimus

Im altrömischen Bildungssystem gab es keine Schulen. Es waren vorwiegend die Eltern, die ihre Kinder grosszogen. Nachdem die Kinder Lesen und Schreiben zu Hause gelernt hatten, führten die Väter ihre Söhne ins Leben ein, indem sie sie zu den Senatssitzungen und auf das Forum mitnahmen. So lernten sie am Vorbild der Älteren, den exempla, und am mos maiorum, an den Bräuchen der Vorfahren.

Erst im 2. Jh. v. Chr. begannen reiche Familien gebildete Griechen – Sklaven, Freigelassene oder nach Rom Zugezogene – als Hauslehrer für ihre Kinder einzustellen. Der griechische Einfluss bewirkte zudem, dass es neben dem privaten Unterricht zu Hause einen öffentlichen Unterricht in Schulen gab. Dabei handelte es sich jedoch nicht um staatliche Schulen – der Staat kümmerte sich nämlich nicht um das Schulwesen und schrieb auch keine Schulpflicht vor. Gebildete Männer gründeten eigene Schulen, die jedes Kind besuchen durfte, sofern die Eltern das nötige Schulgeld aufbringen konnten. Kinder aus den unteren Schichten konnten sich zwar handwerklich ausbilden, kamen aber nie in den Genuss einer schulischen Ausbildung.

Relief mit einer Schulszene; 2. Jh., aus Rheinland-Pfalz

Die römische Schule umfasste drei Stufen. Auf der Elementarstufe (von 8 bis 12 Jahren) beschäftigten sich die Kinder besonders mit Lesen, Schreiben und Rechnen. Es wurde viel diktiert, nachgeschrieben und auswendig gelernt. In Mathematik lernten die Kinder Addition und Subtraktion. Mit diesen Basiskenntnissen konnten sie sich später im Alltag durchschlagen. Für viele von ihnen war ihre schulische Laufbahn damit abgeschlossen. Für die Kinder der reicheren Eltern ging es mit der Sprach- und Literaturschule weiter. In den folgenden vier Jahren vermittelten die grammatici den Schülern grammatische und literarische Kenntnisse in Latein und Griechisch. Der Unterricht verlief häufig in einem Wechsel von Frage und Antwort.

Magister: Arma virumque cano Troiae qui primus ab oris. – Wie viele Wörter hat der Vers?

Discipulus: Neun.

Magister: Wie viele Nomina?

Discipulus: Sechs: arma, virum, Troiae, qui, primus, oris.

Magister: Wie viele Verben?

Discipulus: Eines: cano.

Magister: Wie viele Präpositionen?

Discipulus: Eine: ab.

Magister: Wie viele Konjunktionen?

Discipulus: Eine: –que

Magister: Untersuche die Worte der Reihe nach. Nehmen wir arma: Was ist das für eine Wortart?

Discipulus: Ein Substantiv.

Magister: In was für einem Kasus?

Discipulus: Akkusativ.

Von 16 bis 20 Jahren besuchten die jungen Erwachsenen die letzte Stufe der Ausbildung, die Rhetorikschule. Unterrichtsstoff war die Theorie der Rede, Lektüre berühmter Redner und das Halten von eigenen Reden.

Gegen die römische Hochschulbildung wurden schon in der Antike kritische Stimmen laut. Sie wurde aufgrund ihres formalen Charakters im Gegensatz zur altrömischen öffentlichen Erziehung als weltfremd angesehen. Der Philosoph Seneca bringt dies am Ende eines Briefes folgendermassen auf den Punkt: «Non vitae, sed scholae discimus.»

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AMOЯ von Islème Sassi und Beatrice Gerber wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

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