Lectio IX

Grammatik

9 Das Perfekt

Es gibt sowohl im Lateinischen wie auch im Deutschen ein Tempus, das «Perfekt» heisst. Trotzdem wird dieses Tempus in den beiden Sprachen nicht gleich verwendet. Im Deutschen wird für das Erzählen vergangener Ereignisse das Präteritum verwendet:

Es war einmal eine Königin, die hatte eine Tochter, die nicht nur hübsch, sondern auch sehr klug war und ein gutes Herz hatte. Eines Tages sagte die Prinzessin zu ihrer Mutter…

Das Perfekt kommt nur dann zum Einsatz, wenn ein Ereignis in der Vergangenheit einen engen Bezug zur Gegenwart aufweist:

«Warum kommst du zu spät?» – «Ich habe verschlafen.» – «Wo sind deine Bücher?» – «Ich habe sie zuhause vergessen.»

Dagegen stehen vergangene Handlungen und Ereignisse im Lateinischen grundsätzlich im Perfekt. Mehr dazu erfährst du unter 9.3.

9.1 Die Formen des lateinischen Perfekts

Zu den Verben, die du gelernt hast, waren jeweils mehrere Formen angegeben: die Stammformen. Du weisst bereits, dass du die zweite Stammform zur Bildung von Präsens und Imperfekt benötigst. Die dritte Stammform ist die 1. Person Singular des Perfekts. Wir nennen sie die Perfekt-Stammform, weil sie uns den Perfektstamm des Verbs verrät:

vocāre, vocō, vocāvī, vocātum

dare, dō, dedī, datum

Indem du diese Form in Stamm und Endung trennst, erhältst du den Perfektstamm des Verbs: vocāvī; dedī

Das Perfekt hat eigene Personalendungen, die an den Perfektstamm angefügt werden:

Stammformen Perfektstamm + Endung Person
parāre, parō, parāvī parāvī 1. Sg.
iacēre, iaceō, iacuī iacuistī 2. Sg.
manēre, maneō, mansī mansit 3. Sg.
venīre, veniō, vēnī vēnimus 1. Pl.
currere, currō, cucurrī cucurristis 2. Pl.
bibere, bibō, bibī bibērunt 3. Pl.
esse, sum, fuī fuisse Infinitiv

Wie du siehst, weisen die Perfektstämme verschiedene Bildungsmuster auf, die sich jedoch in Kategorien ordnen lassen:

Bildungsweise Beispiel Typisch für…
v-Perfekt parāre, parō, parāv sehr viele Verben der 1. und der 4. Konjugation
u-Perfekt iacēre, iaceō, iacu viele Verben der 2. Konjugation
s-Perfekt manēre, maneō, mans Verben aus verschiedenen Konjugationen
Dehnung venīre, veniō, vēn
Reduplikation currere, currō, cucurr
Perfektstamm = Präsensstamm bibere, bibō, bib

Bei den Verben, deren Perfektstamm gleich wie der Präsensstamm lautet, sind einige Formen mehrdeutig: Das Präsens bib-i-t lautet gleich wie das Perfekt bib-it, ebenso das Präsens bib-i-mus wie das Perfekt bib-imus. Welches Tempus im Einzelfall vorliegt, kann nur mithilfe des Kontextes entschieden werden.

9.2 Die Verwendung des Perfekts im Lateinischen

Das lateinische Perfekt wird verwendet, um…

… Geschichten zu erzählen:

Im Rahmen einer längeren Erzählung schreibt Caesar:

Vēnī, vīdī, vīcī. — Ich kam, sah und siegte.

Da im Deutschen Geschichten im Präteritum erzählt werden, übersetzen wir nicht im Perfekt, sondern im Präteritum.

… um ein vergangenes Ereignis zu nennen, das Auswirkungen auf die Gegenwart hat:

Turba gaudet, nam Fortunatus vīcit. — Die Menschenmenge freut sich, denn Fortunatus hat gewonnen.

Da im Deutschen vergangene Ereignisse mit direkter Auswirkung auf die Gegenwart im Perfekt erzählt werden, übersetzen wir hier im Perfekt.

Zur Erinnerung: Auch das Imperfekt  bezeichnet vergangene Ereignisse. Es kommt jedoch nur zum Einsatz, wenn die Dauer oder die Wiederholung eines Ereignisses betont werden soll.

9.3 Der Infinitiv der Vorzeitigkeit

Sowohl im Deutschen wie auch im Lateinischen gibt es mehrere Infinitive. In dieser Lektion lernst du neben dem «normalen» Infinitiv der Gleichzeitigkeit neu den Infinitiv der Vorzeitigkeit kennen.

Infinitiv der Gleichzeitigkeit (GZ):

Ich glaube, zu siegen. — Vincere putō.

→ Ich glaube, jetzt, zum selben Zeitpunkt, zu siegen.

Infinitiv der Vorzeitigkeit (VZ):

Ich glaube, gesiegt zu haben. — Vīcisse putō.

→ Ich glaube, zu einem vorherigen Zeitpunkt gesiegt zu haben.

Der Infinitiv der Vorzeitigkeit wird aus dem Perfektstamm und der Endung -isse gebildet: parāvisse; vēnissecucurrisse.

9.4 Der gleichzeitige und der vorzeitige AcI

Du kennst bereits den gleichzeitigen AcI:

Liberi vident Fortunatum vincere. – Die Kinder sehen, dass Fortunatus gewinnt.

Diese Gleichzeitigkeit gibt es auch in der Vergangenheit:

Liberi vidērunt Fortunatum vincere. — Die Kinder sahen, dass Fortunatus gewann.

Der gleichzeitige Infinitiv ist also nicht an ein bestimmtes Tempus gebunden, sondern er zeigt bloss an, dass die Handlung des AcI zur selben Zeit wie das Prädikat stattfindet – sei das in der Gegenwart oder in der Vergangenheit.

Der vorzeitige AcI zeigt dagegen an, dass seine Handlung vor dem Prädikat stattgefunden hat:

Liberi narrant Fortunatum vīcisse. — Die Kinder erzählen, dass Fortunatus gewonnen hat.

Diese Vorzeitigkeit gibt es auch in Bezug auf die Vergangenheit:

Liberi narravērunt Fortunatum vīcisse. — Die Kinder erzählten, dass Fortunatus gewonnen hatte.

Um einen AcI richtig ins Deutsche zu übersetzen, musst du also immer zweierlei beachten:

  1. In welchem Tempus steht das Prädikat?
  2. Findet die AcI-Handlung gleichzeitig mit derjenigen des Prädikats statt (markiert durch den gleichzeitigen Infinitiv) oder vor dieser (markiert durch den vorzeitigen Infinitiv)?

Du kannst die Tempora deiner deutschen Übersetzung gemäss dieser Tabelle wählen:

Tempus des lat. Prädikats lat. Infinitiv Tempus im deutschen dass-Satz
Präsens Infinitiv GZ Präsens
Infinitiv VZ Perfekt
Perfekt/Imperfekt Infinitiv GZ Präteritum
Infinitiv VZ Plusquamperfekt

 

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