Lectio XXVIII

Eine Gesellschaft voller Ungleichheit

Im ersten Jahrhundert nach Christus lebte etwa eine Million Menschen in der Stadt Rom. Doch nicht alle waren gleichgestellt: Wer das römische Bürgerrecht besass, genoss Privilegien und Sicherheiten, von denen die übrigen Römer*innen nur träumen konnten. So wurden römische Bürger*innen, die eines Kapitalverbrechens für schuldig befunden worden waren, weniger streng bestraft als Nichtbürger*innen. Doch auch unter den Bürgerinnen und Bürgern waren nicht alle gleich. So konnten nur erwachsene Männer abstimmen und für Ämter kandidieren.

Schätzungen gehen davon aus, dass 10–25% der Bevölkerung Sklavinnen und Sklaven waren. Sie gehörten ihren Herrinnen und Herren und galten als Sache. Das Wort servus/serva stammt vermutlich von dem indoeuropäischen Wort für «Beute», und tatsächlich waren Sklavinnen und Sklaven meistens Kriegsgefangene oder deren Nachkommen. Die Römer haben die Sklaverei übrigens nicht erfunden; auch in Griechenland und im Orient wurden die Bewohner*innen eroberter Städte versklavt.

Die Römer*innen hatten ein komplexes Verhältnis zur Sklaverei: Als Romulus und Remus Rom gründeten, nahmen sie auch geflohene Sklaven in ihre Reihen auf, und einer ihrer sieben Könige, Servius Tullius, soll selbst der Sohn einer Sklavin gewesen sein. Da für gewöhnlich das Kriegsglück darüber entschied, ob jemand versklavt wurde, war vielen Herrinnen und Herren bewusst, dass ihre Sklavinnen und Sklaven Menschen waren wie sie selbst. Dennoch behandelten sie sie sehr unterschiedlich: Manche gingen respektvoll mit ihnen um, vertrauten ihnen in wichtigen Angelegenheiten, zahlten ihnen einen kleinen Lohn und liessen sie nach einer gewissen Zeit in ihren Diensten frei. Es gab aber Sklavinnen und Sklaven, die schon bei kleinen Vergehen übertrieben hart bestraft wurden; auch sexueller Missbrauch war weit verbreitet.

Sklavenhalskette mit der Aufschrift «FVGI TENE ME / CVM REVOCV / VERIS ME D(OMINO) M(EO) / ZONINO ACCIPIS / SOLIDVM»

Welches Schicksal eine Sklavin, einen Sklaven erwartete, hing einerseits von deren Ausbildung und Begabung ab: Waren sie klug, konnten sie lesen und schreiben, so wurden sie gern als Sekretäre oder Hauslehrer eingesetzt. Solche Sklaven waren wertvoll, und es lag im Interesse der Besitzerin, sie gut zu behandeln. Geschickte Sklav*innen arbeiteten als Handwerker*innen und waren nicht unbedingt schlechter dran als arme Freie. Hübsche Jungen und Mädchen wurden dagegen oft Opfer sexueller Übergriffe; viele Sklavinnen mussten auch als Prostituierte in Bordellen arbeiten. Noch schlimmer traf es die Sklaven, die in Bergwerken eingesetzt wurden. Die Lebensbedingungen dort waren derart katastrophal, dass die meisten nach kurzer Zeit starben.

Zwar hatten Sklavinnen und Sklaven keine Rechte; sie konnten auch nicht heiraten oder ihren Besitz vererben. Trotzdem waren sie ihren Besitzern und Besitzerinnen nicht immer schutzlos ausgeliefert. In der Kaiserzeit wurden Gesetze erlassen, die das Töten von Sklavinnen und Sklaven verboten, und wer seinen Sklaven grausam behandelte, konnte gezwungen werden, ihn zu verkaufen.

Sklavinnen und Sklaven, die freigelassen worden waren, erhielten das römische Bürgerrecht, wodurch sie manchmal sogar bessergestellt waren als freie Nichtbürger*innen. Einige Freigelassene brachten es zu grossem Reichtum und Einfluss.

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AMOЯ von Islème Sassi und Beatrice Gerber wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

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