Lectio XVIII

Ein verschollenes Buch

Warum wird ein Buch verboten? Welche Geheimnisse verbergen sich in ihm? Und warum sollen sie nicht ans Licht kommen?

Die Rede ist vom Lehrgedicht De rerum natura («Über das Wesen der Dinge») des römischen Dichters und Philosophen Titus Lucretius Carus (1. Jh. v. Chr.). Über sein Leben wissen wir nicht viel. Angeblich soll ein Liebestrank ihn wahnsinnig gemacht haben – in den Pausen dieses Wahns soll er an seinem Werk gearbeitet haben.

In über 6’000 Versen präsentiert Lukrez seine für die damalige Welt kontroverse Lehre. Dabei geht er stets von der Betrachtung der Natur aus: Wie können Geräusche durch Wände, wie die Kälte in den Körper dringen? Wie ist es möglich, dass wir verschiedene Geschmäcker und Gerüche wahrnehmen? Was passiert, wenn wir sterben? Und woraus besteht die Welt?

Besonders zur letzten Frage entwickelten griechische Philosophen bereits seit dem 6. Jh. v. Chr. Theorien. Einigen zufolge war der Grundstoff der Welt Feuer oder Wasser, Luft oder Erde, für andere bestanden die Dinge aus Kombinationen dieser vier Grundelemente. Und wieder andere meinten, dass die für das Universum eigentümliche Ordnung der Beweis für einen unsichtbaren Geist sei, der die einzelnen Teile gemäss einem vorgefertigten Plan zusammenfüge.

Handschrift von «De rerum natura», geschrieben für Papst Sixtus IV. im Jahr 1483

Lukrez folgte in seinen Vorstellungen zum Aufbau der Welt denjenigen des griechischen Philosophen Epikur. Er legte seinen Zeitgenossen ein enorm mutiges Konzept vor, in dem Themen vorkommen, die wir heute Bereichen wie Astrophysik, Genetik und Evolutionstheorie zuordnen. Weder Gottheiten noch die Menschen stehen im Zentrum seiner Lehre.

Dieses antike Werk galt lange als verschollen, bis es im 15. Jh. vom italienischen Humanisten Poggio Bracciolini in einem deutschen Kloster wiederentdeckt wurde. Die Philologen reagierten auf den Text mit Bewunderung, die Theologen mit Abscheu. Im 16. Jh. wurde das Werk als Schullektüre verboten, denn die «jungen Seelen» durften solchen Inhalten auf keinen Fall ausgesetzt werden.

Später aber wurde De rerum natura wichtig für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften.

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