Lectio XXXII

Das gute Leben

Lucius Annaeus Seneca, den du schon in Lektion XXV kennengelernt hast, wurde zu Beginn unserer Zeitrechnung in Corduba in Spanien als Sohn eines sehr wohlhabenden römischen Ritters geboren.

Das genaue Geburtsjahr kennen wir genauso wenig wie den Grund, aus dem er im Kleinkindalter von seiner Tante nach Rom gebracht wurde. Der Vater war dort über lange Zeit mit rhetorischen Studien beschäftigt und war nicht unbedingt erfreut, als sein Sohn sich schon früh für Philosophie interessierte. Lucius hörte Philosophen aus verschiedenen Philosophenschulen und wendete sich schliesslich der Stoa zu. Wie die meisten Söhne wohlhabender Eltern trat er die Ämterlaufbahn an (wir wissen jedoch nur, dass er Quästor war), liess sich zum Anwalt ausbilden und arbeitete später auch als solcher.

Aufgrund einer Intrige von Messalina, der Frau des Kaisers Claudius, wurde er im Februar 41 nach Corsica verbannt.

Das war wohl die schlimmste Strafe für einen Intellektuellen aus Rom: Corsica war eine Provinz, in der nichts an die Eleganz der Hauptstadt erinnerte, eine wüste Insel mit unkultivierten Bewohnern, unter denen Seneca nur leiden konnte. So zog er sich zurück und widmete seine Zeit dem Verfassen philosophischer Schriften.

Manuskriptseite aus Senecas Briefen an Lucilius (15. Jh.)

Nach der Hinrichtung der Messalina im Jahre 48 n. Chr. wurde er wieder nach Rom gerufen, und die neue Kaisergattin Agrippina, eine alte Gönnerin Senecas, liess ihn am Kaiserhof als Lehrer ihres Sohnes, des späteren Kaisers Nero, arbeiten. So hatte er grossen Einfluss auf den zukünftigen Kaiser und spielte auch eine wichtige Rolle am Hofe, nachdem Nero seinem Adoptivvater Claudius im Amt nachgefolgt war.

Doch das Schicksal ist launisch, und am Schluss war es der exzentrische Kaiser Nero, der Seneca im Jahre 65 n. Chr. zum Selbstmord zwang.

Das Werk De tranquillitate animi («Von der Seelenruhe») ist als Dialog mit seinem Freund Annaeus Serenus aufgebaut. Serenus fragt sich, ob er eine politische Karriere im Licht der Öffentlichkeit antreten oder doch lieber zurückgezogen leben soll, und klagt dabei über die eigene Antriebslosigkeit.

Das Werk fällt in eine Kategorie, die man heute vielleicht als philosophisch-psychologischen Lebensratgeber bezeichnen könnte, denn einerseits diskutiert es verschiedene Aspekte von Serenus’ Fragestellung, andererseits beschäftigt es sich auch intensiv mit der Frage, wie die eine oder andere Tätigkeit den seelischen Zustand eines Menschen beeinflusst. Dabei spricht Seneca auch die für die Menschheit verhängnisvolle Rolle des Geldes an.

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