Lectio XXVII
Kann die Philosophie korrupte Politiker bremsen?
Publius Cornelius Scipio entstammte einer angesehenen Familie. Er war ein erfolgreicher Feldherr, dessen grösste Erfolge – die endgültige Zerstörung der Erzfeindin Karthago und die Niederschlagung eines bewaffneten Aufstandes in der spanischen Stadt Numantia – ihm die Ehrennamen Africanus und Numantinus bescherten. Doch auch in innenpolitischen Angelegenheiten war er sehr aktiv, denn nach der Zerstörung Karthagos (146 v.Chr.) erlebte das Imperium Romanum eine unruhige und herausfordernde Zeit.
Knapp hundert Jahre später brodelte es wieder in Rom: Seit Gaius Julius Caesar nach der Alleinherrschaft trachtete, geriet die Republik ins Wanken. Diese hatte seit über 450 Jahren bestanden: Nachdem der letzte römische König, der Tyrann Tarquinius Superbus, um 509 v.Chr. aus der Stadt vertrieben worden war, hatten die Römer beschlossen, dass sie nie mehr einem einzigen Mann so viel Macht zugestehen wollten. Fortan war die Macht auf verschiedene Personen und Gremien, die Konsuln, den Senat und das Volk, verteilt. Diese Machtverhältnisse brachte Caesar durch seinen Ehrgeiz in Gefahr.
Er und seine Verbündeten hatten auch den ehemaligen Konsul Marcus Tullius Cicero von seiner einflussreichen Position verdrängt und ihm verboten, sich politisch zu äussern. Cicero griff zum einzigen Mittel, das ihm in dieser Situation noch blieb: zur Literatur. Unter dem Vorwand, er wolle nur die Werke der griechischen Philosophie ins Lateinische und in den römischen Kontext übertragen, versuchte er, seine Zeitgenossen davon zu überzeugen, dass die römische Republik die beste Staatsform sei .
In einem fiktiven Dialog lässt Cicero den längst verstorbenen, doch noch immer hochangesehenen Scipio und dessen engen Vertrauten Gaius Laelius mit ein paar Freunden über die Frage diskutieren, welche Staatsform die beste sei. Dabei fliessen einerseits griechische Vorbilder (v.a. Platon und Polybios) in die Überlegungen mit ein, doch der Appell an die Zeitgenossen kann allein Cicero zugeordnet werden: Eine Staatsform ist nur so gut, wie die Menschen, die sie tragen, und keine Struktur ist gänzlich vor Machtmissbrauch geschützt.
Viel erreicht hat Cicero mit seinem Werk De re publica indes nicht: Wenige Jahre später installierte sich Caesar endgültig als Alleinherrscher, und obwohl Cicero den Despoten um etwas mehr als ein Jahr überlebte und nach Caesars Ermordung 44 v.Chr. nochmals an Einfluss gewann, fiel er schliesslich der Machtgier von Caesars Nachfolgern zum Opfer und starb 43 v.Chr. nach langem, doch letztlich vergeblichem Kampf für die Republik.
Das deutlichste Zeugnis dieses Kampfs, der Dialog über den Staat, wäre der Nachwelt beinahe abhandengekommen. In der Antike noch viel gelesen, verschwand das Werk mit dem beginnenden Mittelalter und galt als verloren. Erst 1819 wurde ein Exemplar wiederentdeckt: In der Vatikanischen Bibliothek wurden Pergamente gefunden, die mit Psalmenkommentaren des spätrömischen Bischofs Augustinus beschrieben waren. Doch das war nicht die erste Verwendung dieser Seiten: Auf den Pergamenten war ursprünglich Ciceros Dialog De re publica niedergeschrieben worden. Da Pergament ein teurer Werkstoff war, hatte man die Schrift später abgewaschen und die Seiten neu beschrieben. Mit chemischen Methoden gelang es, einen Grossteil des ersten Textes wieder sichtbar zu machen und Ciceros Worte vor dem Vergessen zu bewahren.