Lectio XIX

Grammatik

19.1 Die Possessivpronomina

Wie im Deutschen bezeichnen Possessivpronomina auch im Lateinischen die Zugehörigkeit einer Sache oder einer Person.

Librum meum quaero. — Ich suche mein Buch.

Libros vestros invēnimus. — Wir haben eure Bücher gefunden.

Im Lateinischen wird das Possessivpronomen für gewöhnlich nur dann genannt, wenn sich die Zugehörigkeit nicht von selbst versteht.

Sororem amo. — Ich liebe meine Schwester.

Servam vocavit. — Sie rief ihre Sklavin.

Servam tuam in foro vidi. — Ich habe deine Sklavin auf dem Forum gesehen.

19.1.1 Die Possessivpronomina der 1. und 2. Person

Die Possessivpronomina der 1. und 2. Person Singular und Plural funktionieren wie Adjektive der 1. und 2. Deklination.

Singular Plural
1. Person meus, mea, meum noster, nostra, nostrum
2. Person tuus, tua, tuum vester, vestra, vestrum

Sie passen sich ihrem Bezugswort in Kasus, Numerus und Genus an. Ihr Bezugswort ist die Sache oder Person, deren Zugehörigkeit erklärt wird.

Equi tui celeres sunt.Deine Pferde sind schnell.

Equos tuos currere vidi. — Ich sah deine Pferde laufen.

Cum amicis vestris locutae sumus. — Wir sprachen mit euren Freunden.

Libros amicorum vestrorum amisimus. — Wir haben die Bücher eurer Freunde verloren.

19.2 Reflexive und nicht-reflexive Pronomina

Während die Possessivpronomina 1. und 2. Person immer eindeutig sind, kann die Situation in der 3. Person unklar sein:

Er hat sein Buch verloren. → Wessen Buch? Sein eigenes oder das eines Freundes?

Sie sprechen mit ihren Freunden. → Mit wessen Freunden? Mit ihren eigenen oder denen anderer Leute?

Im Deutschen können wir solche Situation mit zusätzlichen Wörtern klären: «Er hat sein eigenes Buch verloren.»

Auch bei den Personalpronomina kann es zu solchen Unklarheiten kommen:

Manlia sagt, sie habe das Buch verloren. → Wer hat das Buch verloren? Manlia selbst oder ihre Freundin?

Die Brüder erzählten, sie hätten gewonnen. → Wer hat gewonnen? Die Brüder oder andere Leute?

Das Lateinische dagegen unterscheidet zwischen reflexiven und nicht-reflexiven Pronomina. Reflexive Pronomina beziehen sich auf das Subjekt des Satzes. Nicht-reflexive beziehen sich nicht auf das Subjekt des Satzes.

19.2.1 Die Personalpronomina der 3. Person

Die nicht-reflexiven Personalpronomina der 3. Person entsprechen den Formen von is, ea, id (L7). Die reflexiven Formen lernst du jetzt kennen; in der folgenden Tabelle werden sie den entsprechenden nicht-reflexiven Formen gegenübergestellt:

Singular reflexiv nicht-reflexiv
Nom. is, ea, id
Akk. eum, eam, id
Gen. suī eius
Dat. sibī ei
Abl. eō, eā, eō
Plural
Nom. iī, eae, ea
Akk. eōs, eās, ea
Gen. suī eōrum, eārum, eōrum
Dat. sibī eīs, eīs, eīs
Abl eīs, eīs, eīs

→ Die Formen des Singulars und des Plurals sind sich gleich; auch alle Genera haben dieselben Formen.

Und so werden die Formen angewendet:

Hersilia sieht eine Frau im Spiegel. Wer ist es?

a) Es ist ihre Sklavin, die ihr beim Frisieren hilft → nicht-reflexiv:

Hersilia eam in speculo videt. — Hersilia sieht sie (die Sklavin) im Spiegel.

b) Sie ist es selbst → reflexiv:

Hersilia se in speculo videt. — Hersilia sieht sich (selbst) im Spiegel.


Cretus kauft in der Basilica das neuste Buch des Dichters Martial. Für wen kauft er es?

a) Es ist ein Geschenk für Chrysus, weil dieser heute Geburtstag hat → nicht-reflexiv:

Cretus ei librum emit. — Cretus kauft ihm (Chrysus) ein Buch.

b) Cretus kauft das Buch für sich selbst, weil er endlich wissen will, worüber seine Herrin Cornelia ständig grinst → reflexiv:

Cretus sibi librum emit. — Cretus kauft sich (selbst) ein Buch.

19.2.2 Die Possessivpronomina der 3. Person

Soll die Zugehörigkeit einer Sache oder einer Person zum Subjekt des Satzes ausgedrückt werden, so verwendet das Lateinische das reflexive Possessivpronomen suus, sua, suum. Es flektiert nach der 1. und 2. Deklination und ist mit der Sache oder der Person kongruent, deren Zugehörigkeit geklärt wird.

Chrysus: «Ubi est liber tuus, Manlia?» Lucius: «Manlia librum suum amisit.» — Chrysus fragt: «Wo ist dein Buch, Manlia?» Lucius antwortet: «Manlia hat ihr (eigenes) Buch verloren.»

Hodie vicerunt in circo et Fortunatus et Felix! Equos suos laudant. — Heute haben Fortunatus und Felix auf der Rennbahn gewonnen! Sie loben ihre (eigenen) Pferde.

Soll dagegen die Zugehörigkeit einer Sache oder einer Person zu einer anderen Sache oder Person als dem Subjekt des Satzes ausgedrückt werden, so verwendet das Lateinische als nicht-reflexives Possessivpronomen die Genitivform von is, ea, id (L7): eius (Sg.)/eorum, earum, eorum (Pl.). Die Form orientiert sich an der Sache oder Person, zu der die Zugehörigkeit besteht.

Chrysus: «Ubi est liber tuus, Manlia?» Lucius: «Marcus librum eius amisit.» — Chrysus fragt: «Wo ist dein Buch, Manlia?» Lucius antwortet: «Marcus hat ihr (Manlias) Buch verloren.»

Hodie vicerunt in circo et Fortunatus et Felix! Venetiani et prasiniani equos eorum laudant. — Heute hat Fortunatus auf der Rennbahn gewonnen! Die Blauen und die Grünen loben ihre (Fortunatus’ und Felix’) Pferde.

19.2.3 Reflexivität im AcI

Da der AcI kein Nebensatz ist, muss bei den Personal- und Possessivpronomina unterschieden werden: Wenn sie sich auf das Subjekt des Satzes beziehen, werden die reflexiven Formen verwendet. Wenn sich die Personal- und Possessivpronomina hingegen nicht auf das Subjekt des Satzes beziehen, verwendet das Lateinische die nicht-reflexiven Formen.

Melissa [se servam probam esse] arbitratur. — Melissa meint, dass sie (selbst) eine tüchtige Sklavin sei.

Etiam Thales [eam servam probam esse] arbitratur. — Auch Thales findet, dass sie (Melissa) eine tüchtige Sklavin sei.

Thales [Melissam sibi semper paruisse] dicit. — Thales sagt, Melissa habe ihm (selbst) immer gehorcht.

Et amici [Melissam ei semper paruisse] dicunt. — Auch seine Freunde sagen, dass Melissa ihm (Thales) immer gehorcht habe.

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