DAS VEILCHEN «MARINA ZWETAJEWA»
«
Man muss zuerst den Dichter lieben, bevor man das Recht hat, Gedichte zu lieben.
Ariadna Sergejewna Efron
«Und das Wichtigste – ich weiß, wie ich geliebt werden werde … in hundert Jahren», schrieb Marina Zwetajewa in einem Brief an Kolbasina-Tschernowa. Genies antizipieren die Zukunft. Zwetajewas Gedichte berühren sogar unser modernes Herz, und ihre poetischen Feuer der Liebe und Erinnerung lodern heute nicht nur in Tarussa, sondern auch in entlegenen Winkeln der Welt … Sie entflammen in unseren Herzen und vereinen heute Enthusiasten in der Rue Jean-Baptiste Potin an dem Haus, in dem von 1934 bis 1938 die Familie Efron lebte. «In einer schönen Kastanienstraße …», so nannte Marina diese grüne Ecke von Vanves. Sie liebte dieses keltische Wort, das in der Übersetzung an einen «Damm» am Bach zum Fischen erinnert. Leider verschwand der Bach unter dem Ansturm des Asphalts, aber die Riesen – die Kastanien, denen sie ihre Gedichte widmete, waren immer noch eine Freude für das Auge. Immer wieder lesen wir ihre poetischen Zeilen auf der Gedenktafel:
Mein Leben und mein Quartier
Ersetzt durch eine Kastanie
Da ist mein Fenster …
Mit zurückgeneigten Köpfen können wir die Erwartung in den Augen der Fenster Zwetajewas sehen. Als Schwarm von Frühlingsvögeln fliegen wir in die ehemalige Wohnung der Dichterin, in der noch immer die Willkür göttlicher Poesie regiert. Es ist schwierig, mit Marina Iwanownas Gedichten zu streiten, wie auch mit einem Kind. Man stimmt sofort allem zu, was sie anbieten, andeuten, behaupten. Denn ihr Atem der reinen Wahrheit fesselt, und es scheint, als würde man in der nächsten Zeile das finden, wonach man sein ganzes Leben lang gesucht hat.
Der heutige Besitzer der Wohnung, Florent Delporte, hat seine Türen und seine Seele weit geöffnet. Seine Liebe und sein Dienst im Namen der Dichterin Marina Zwetajewa sind bewundernswert. Ich dachte immer, es gibt keine Nation auf der Welt, für die Poesie so wichtig ist wie für uns. Wir atmen mithilfe der Poesie und werden sie auch weiterhin atmen. Aber die Bekanntschaft mit Florent hat alle Klischees erschüttert. Am 9. August 1975 im Norden Frankreichs geboren, lebt er die Musik der Poesie im wahrsten Sinne des Wortes. Der Musiker und Komponist Florent trägt Marinas Gedichte zu der von ihm geschriebenen Musik vor und erreicht so eine Bezwingung der Realität, in der Zwetajewa nicht zu einer Erinnerung, sondern zu einer Präsenz wird. Hier, in dieser Wohnung, tauchen wir ein in die Atmosphäre eines glühenden und unermesslichen Gefühls für… Humor:
Wir alle werden nicht an COVID sterben,
Viel eher an Glück und Poesie!
Ein Scherz von jemandem, der freundliches Gelächter hervorrief, erinnerte uns an das Misanthropen-Virus. «Lassen Sie sich nur nicht anstecken von… Gleichgültigkeit», sagte die sonnenblonde Lena, und alle lachten wieder. Wenn Zwetajewa im 20. Jahrhundert die «geheime Schwermut» von Paris empfunden hatte, so legt sich jetzt die wahre Schwermut über die Stadt, beraubt sie des glücklichen Geschmacks des Pariser Alltags. Krise … Übrigens, das Wort «Krise» besteht im Chinesischen aus zwei Ideogrammen: «Gefahr» und «günstige Gelegenheit». Also nutzten wir diese Gunst der Stunde, um den Tag der Poesie zu feiern, der in Frankreich seit März 1999 begangen wird. Florent strahlte und leuchtete. Dies ist seine beseelte Empfänglichkeit für den Klang des Frühlings und der Freundschaft. Wie glücklich sind wir darüber, die Dichterin nach einer langen Pause wieder zu besuchen. Es ist ein echter Festtag mit Überraschungen. Lesya Tyschkowskaja, Dichterin, Komponistin, Sängerin, Schriftstellerin, schenkte Florents «Museum» ihre Monografie «Mythen der Marina Zwetajewa», die vor Kurzem vom Aletheia Verlag in St. Petersburg veröffentlicht wurde.
Als Ergebnis der literarisch-linguistischen Analyse von Zwetajewas Gedichten hat die Autorin des Buches das mythopoetische Modell ihrer Welt rekonstruiert und gezeigt, wie die semantische Realität im Leben verkörpert wird. Die sprachliche Anatomie des Wortes half, in das schöpferische Laboratorium der Dichterin einzudringen, und bewies einmal mehr, dass «Zwetajewas Wortschöpfertum ein Wandern auf der Spur des Gehörten ist, von Volk und Natur» (Olga Kolbasina-Tschernowa), und Zwetajewa selbst behauptete: «Das Wort ist der Schlüssel zu meiner Seele – und zu all meiner Poesie!» Zwetajewas Wohnung in Vanves ist ein Ort, an dem sich die Erinnerung mit der Realität verknüpft. Ihre unhörbaren Schritte sind hier wahrnehmbar, und im Kamin scheint ein Feuer zu brennen … Vergessen Sie nicht, dass dies die letzte Unterkunft ist, die letzte Wohnung, in der die Familie Efron vor ihrer Ausreise in die Sowjetunion lebte. Den Aikanows, russischen Nachbarn aus der unteren Etage, überließ Zwetajewa ihre Möbel und Haushaltsgegenstände – «Krempel». Es gelang, Marinas Lieblingstruhe aufzuspüren und an ihren Platz zurückzubringen, und ihr treuer Schreibtisch wurde ans Museum in Moskau geschickt. Aber das Wichtigste ist, dass meine Bekanntschaft mit den Nachkommen der Familie Aikanow es ermöglicht hat, neue Details über das Leben der Dichterin in Vanves herauszufinden. Davon handelt meine Geschichte «In einer wunderbaren Kastanienstraße», die in der Zeitschrift «Smena» veröffentlicht wurde. Florent nahm die «Smena» als Geschenk freudig entgegen, während Marina Zwetajewa uns neugierig vom Deckblatt aus anschaute. Mit charmantem französischen Akzent las er ihre Zeilen unter dem Porträt:
Sie und ich sind verschieden, welche Gnade!
Wir ergänzen uns wunderbar.
Was kann uns die Gleichartigkeit geben?
Nur das Gefühl eines geschlossenen Kreises.
Der Fotograf Boris Davidovitch Guessel hielt diesen Moment für Florents Archiv fest, das alle Zeugnisse der Liebe zur Dichterin Marina Zwetajewa und zu ihrem Werk sammelt. Und plötzlich, zum ersten Mal in dieser Wohnung, erklang die Gusli hell und nachklingend! Dieses Instrument ist auf wunderbare Weise mit dem Geist von Zwetajewas Gedicht «Molodets» verbunden. Die Gusli-Spielerin Alexandra Lumel, die extra aus Toulouse angereist war, um Florent zu überraschen, faszinierte uns von den ersten Tönen an. Sie erzählte uns, dass der Name «gusli» vom altrussischen «gusla» – Bogensehne – kommt. Wenn man einen Pfeil abschießt, erzeugt er ein charakteristisches Geräusch, in dem die Russen Musik wahrgenommen haben. Um die Saiten «klingend» und rostfrei zu machen, wurden sie früher aus Gold mit einem Kupferzusatz hergestellt. Aber das Bemerkenswerteste ist, dass die Noten des ersten Liedes für die Darbietung auf der Gusli von dem französischen Komponisten François Boieldieu im Jahre 1803 in St. Petersburg aufgeschrieben wurden. So eng sind unsere Kulturen miteinander verwoben.
Alexandra Lumel, die wusste, dass Zwetajewa Veilchen vor allen anderen Blumen bevorzugte, brachte ihre Lieblingsblumen aus Toulouse mit. Aber warum Veilchen? So einfach ist das nicht. Echte Poesie ist Rebellion, und bei Marina ist es nicht nur die Poesie: Leben und Tod sind Rebellion. Seit ihrer Kindheit war sie eine «Rebellin mit einem Wirbelwind im Blut» und liebte immer denjenigen, der verlor. Sie wählte die Besiegten und Verbannten. «Seit dem Alter von elf Jahren habe ich Napoleon geliebt, in ihm, in seinem Sohn liegt meine ganze Kindheit, Jugend und Adoleszenz … Es lässt mich nicht gleichgültig, wenn ich seinen Namen sehe», schrieb Zwetajewa. Sie lebte von Büchern (ihr Vater hatte sie aus Paris abonniert) und hatte gelesen, dass Napoleon vor seiner Verbannung auf die Insel Elba seinen Gefährten versprochen hatte, in der Jahreszeit der Veilchen zurückzukehren. Diese Blume wurde zum Emblem der Bonapartisten, die als Erkennungszeichen Ringe mit emaillierten Veilchen trugen, auf denen eingraviert war: «Es blüht im Frühling.» Diejenigen, die in das Geheimnis eingeweiht waren, nutzten den Trinkspruch «Auf den Korporal der Veilchen!». Die Rückkehr Napoleons im März 1815 bereicherte die Blumenverkäufer. Man zahlte exorbitante Summen für die unscheinbaren Veilchen und bereute es am 15. Juli, nachdem Napoleon festgenommen wurde. Verbannt und von allen vergessen, starb er am 5. Mai 1821 auf der unwirtlichen britischen Insel St. Helena. Natürlich wurden die Veilchen für Marina zum Symbol einer naiv-romantischen Verehrung für Napoleon und untermalten ihren Wunsch, «sich allen zu widersetzen».
Zufälligerweise bewunderte auch einer von Zwetajewas Lieblingsdichtern, Heinrich Heine, die Frühlingsveilchen «unter dem lachenden Tau». Die schnellfüßige Marina brachte Blumen auf den Friedhof von Montmartre und las das von Heine selbst verfasste Epitaph: «Wo wird einst des Wandermüden letzte Ruhestätte seyn?» Damals wusste sie noch nicht, dass es einen so schrecklichen Ort auf der Erde gibt wie … Jelabuga.
Es war einmal (bis er erschossen wurde) ein anderer Veilchenliebhaber – der berühmte Schriftsteller Isaak Babel. Sein Freund, Sergej Eisenstein, hatte ursprünglich eine Szene mit Veilchen im Nachttopf eines Kindes inszeniert und sie Babels Tochter zum Geburtstag geschenkt. So verschönerten kleine Blumen das Leben von bedeutenden Menschen mit tragischen Schicksalen. Meine Veilchengeschichte fesselte Florent, aber er wusste nicht, dass das Wichtigste unerwartet eintritt. Bis zum heutigen Treffen hatte ich es geheim gehalten, dass Alexandra Bassenina zum 125. Geburtstag der Dichterin eine neue Sorte gezüchtet hatte: die Veilchen «Marina Zwetajewa» – eine lilafarbene Blüte mit goldgrünen (wie Marinas Augen) Blütenblattspitzen. Die Künstlerin Lela Migirov hielt deren Zartheit auf Leinwand fest und schenkte sie Florent, mit dem sie seit vielen Jahren gut befreundet ist. Wenn das Schreiben für Zwetajewa dem Öffnen von Venen gleichkommt, aus denen Gedichte fließen, sprudelnd wie das Leben selbst, so verlaufen für Lela, eine Medizinprofessorin, die das Skalpell durch einen Pinsel ersetzt hat, alle Operationen mit Farben auf der Leinwand. Es scheint ihr, dass die Farben Zwetajewas, ihre Gedichte eine unberührte Palette von Licht/Farben sind, mit denen man seine eigene Vision der Vergangenheit und der Zukunft realisieren kann. Lela ist Gewinnerin vieler internationaler Wettbewerbe, aber es ist unnötig, ihre zahlreichen Auszeichnungen aufzuzählen, denn die Hauptsache ist, dass sie ihren einzigartigen Stil gefunden hat, der unverkennbar ist. Ihre philosophischen Reflexionen in Farbe laden den Betrachter ein, zum Komplizen und Schöpfer zu werden.
Beim Anblick der malerischen Veilchen «Marina Zwetajewa» freute sich Florent und sagte: «Die ungewisse Gegenwart ist von wirklich angenehmen Überraschungen geprägt», womit er alle zum Lachen brachte und eine Reihe von Witzen und literaturgeschichtlichen Anekdoten anstimmte. Es ist überliefert, wie Zöllner an der Grenze Majakowski mit ihren Fragen nach dem Vorhandensein von Schmuck ärgerten. «Hier», zeigte er seinen «Hammer- und Sichel»-Pass. «Und führen Sie irgendwelche Kunstwerke mit sich?», setzte der Beamte sein Verhör fort. Wladimir Wladimirowitsch ließ sich nicht einschüchtern und antwortete scharfzüngig: «Nur mein Genie.» In Paris, bei einem Treffen mit Vertretern der russischen Emigration, war es sogar noch Majakowski bemerkte, dass er unter Russen ein Russe, unter Franzosen ein Franzose war. Eine Stimme aus dem Publikum: «Und unter Dummköpfen?» Der Dichter lachte: «Unter Dummköpfen bin ich zum ersten Mal!» Hier äußerte sich anmutiger Scharfsinn in einer lebendigen Sprache. In dieser Wohnung atmeten wir Zwetajewa ein, ihre Gedichte, ihr Leben, in dem sich persönliches Leid mit der Tragödie des Jahrhunderts vermischte. Eine Rückkehr in die Sowjetunion als anerkannte und freudig erwartete Dichterin war nicht möglich. Das gleichgültige Schicksal erlaubte es Marina nicht, das Meer des Lebens bis zum Ende auszukosten. Auch das biblische Diktum «Und er starb alt und lebenssatt» beruhigt uns nicht. Zwetajewa besaß kein Übermaß an Sein, und der Tod reimte sich nicht auf ihre lebensbejahenden Verse. Alles missachtend, dichtete die rebellische Marina aus freien Stücken und trieb damit nicht nur die Poesie, sondern auch ihr Schicksal auf die Spitze. Und doch hätte alles anders kommen können, wenn Ariadna nur ein einziges Wort gesagt hätte: «Ja.» Es ist eine geheimnisvolle, mystische Geschichte. Eine unwahrscheinliche Wahrheit.
Ariadna/Alya Efron wuchs erstaunlich lebhaft, ausgelassen und wissbegierig auf und steckte jeden mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Humor an. Ihr widerfuhren die unwahrscheinlichsten Begebenheiten. Sie liebte das Gute und empfand die Schönheit der Dinge. In der Geologie gibt es nur ein Nugget unter einer Million Funden, in der Gesellschaft ist es noch seltener. Ariadna war eine «blühende Tochter», der Marina all ihre Lieblingsbücher, Gedichte, Musik, Malerei und die Liebe zur Natur vermittelte. Es war harte Arbeit, die Perlen einer verstreuten (nicht systematisierten) Kette von Wissen zu sammeln. An sie wurden überhöhte Anforderungen gestellt. Ihr Vorbild war Maria Baschkirzewa, die in ihr Tagebuch schrieb: «Ich muss nur noch wenige Pinselstriche meinem Bild hinzufügen, um das Recht zu haben, es zu zerreißen.» Die Tagebücher von Baschkirzewa sind weit bekannt, ihr Porträt hing im Zimmer der jungen Marina. Leider wird über die Tagebücher von Alya Efron fast nie gesprochen, jedoch sind sie voller brillanter Anmerkungen, die ihre ausgeprägte Persönlichkeit und ihren eigenwilligen Charakter erkennen lassen.
Charles De Costers «Thyl Ulenspiegel» war ein Lieblingsbuch aus ihrer Jugendzeit. Alya war überrascht, als sie erfuhr, dass Madame De Coster an der École du Louvre, wo sie studierte, Kunstgeschichte lehrte. Mit der ihr üblichen Direktheit fragte sie die Dozentin, ob sie mit dem Schriftsteller verwandt sei. Madame De Coster strahlte vor Freude. Zum ersten Mal las eine Schülerin, noch nicht mal Französin, sondern Tochter armer russischer Emigranten, ihren bekannten Verwandten aus dem XIX. Jahrhundert und bewunderte ihn. Von diesem Moment an empfand die Dozentin eine besondere Sympathie für sie. Die Kunsthochschule im Louvre hatte einen englischen Mäzen, dessen verstorbene Frau einst ebenfalls dort studiert hatte. In Erinnerung an sie bezahlte Mr. Waddington die Studiengebühren für einige begabte, aber mit begrenzten Mitteln ausgestattete Studenten. Gelegentlich lud er sie sogar nach Südfrankreich ein, wo er den Sommer in seiner Luxusvilla verbrachte. Sein Gärtner, der Chauffeur, die Haushälterin und die Köchin, die seine charmante Frau gekannt haben, gaben sich alle Mühe, das Leben des Witwers aufzuhellen, aber der ehemalige britische Marineoffizier trug weiterhin Trauer, nicht nur in der Kleidung, sondern auch im Herzen. Als Madame De Coster einen Brief von ihm erhielt, in dem er sie bat, eine talentierte Schülerin zu empfehlen, wählte sie ohne zu zögern die schöne und intelligente Ariadna Efron. In der Tat war das Mädchen so hübsch, dass die Männer ihr in die schmerzhaft-schönen Augen schauten und ihr auf den Fersen folgten. Eines Tages beschwerte sie sich bei einem Gendarmen und deutete auf einen jungen Mann, der sie seit einer Stunde verfolgte. Der Gendarm seufzte und sagte: «Ich verstehe ihn. Wenn ich nicht im Dienst gewesen wäre, hätte ich dasselbe getan.»
Alya nahm Mr. Waddingtons Einladung begeistert an, bestieg den Zug und machte sich auf den Weg, um der Sonne und dem Azurblau zu begegnen. Als sie an dem kleinen Bahnhof ausstieg und auf den Chauffeur wartete, strahlte sie, im Angesicht der Sonne. Der Wind blätterte in den Falten ihres blauen Rocks wie in einem Buch. Die Zikaden zirpten unaufhörlich. Der Chauffeur, der erschien, nahm ihren Koffer, und der Wagen fuhr Ariadna ins Ungewisse. Sie bemerkte, dass der Fahrer sie seltsam und mit einer Art von Unrast ansah, aber nichts sagte. Bald kamen sie an die Tore eines gepflegten Parks, hinter dem ein zweistöckiges Haus zu sehen war, imposant und Ehrfurcht gebietend. Die Bediensteten, die Alya an der Veranda trafen, waren äußerst verwirrt, als sie sie sahen. Die verunsicherte Haushälterin führte Alya verlegen in die dem Gast zugewiesenen Zimmer und bat sie, in einer Stunde im Salon zu erscheinen, um Mr. Waddington zu treffen.
Die verblüffte Ariadna blieb allein. Helle Sonnenstrahlen strömten durch die halb geschlossenen Fensterläden. Sie öffnete die Fenster und begann neugierig ihre vorübergehende Wohnstätte zu untersuchen, in der alles zum Ausruhen und Arbeiten vorhanden war: ein Bücherregal, ein großer Eichentisch, Kisten mit Aquarellfarben, Pinsel, Gouache, Stapel von verschiedenen Papiersorten. Frisch geschnittene Blumen posierten in Vasen, und ungewohnte Gerüche brachten den Kopf zum Schwirren. Trotz ihres Verlangens zu malen, zwang die unerbittliche Zeit Alya, in das geräumige Kaminzimmer hinabzusteigen. Ein großes Porträt an der Wand fiel ihr ins Auge. Sie näherte sich ihm … und dann, Efron zitierend: «Und dieses Porträt war von mir. Aber nicht das Ich, das ich gerade im Spiegel gesehen hatte, sondern das Ich in der Zukunft, wenn ich in meinen Dreißigern war. Ich konnte meine Augen nicht von dem Porträt abwenden. In einer Erregung aller Sinne sah ich meine Zukunft, ich las in diesem Gesicht alle Gefühle, die ich noch nicht erlebt hatte …» Erschüttert von Ariadnas unglaublicher Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau, verlor Mr. Waddington fast den Verstand. Er glaubte an ein Wunder: Der Himmel hatte ihm eine Tochter geschickt! Ein paar Tage später bot er diesem russischen Mädchen an, die Erbin seines gesamten Vermögens zu werden. Seine aufrichtigen Worte strahlten väterliche Zärtlichkeit aus. Einverstanden? Sich so ihren Traum zu erfüllen – Unterricht in der Technik der Radierung bei den besten englischen Meistern zu nehmen, um Marinas Gedichte zu illustrieren, das Leben ihrer Eltern und ihres Bruders zu verändern, sie aus dem Labyrinth des Alltags mit seinem nutzlosen, sich täglich wiederholenden, die Zeit verschlingenden Rhythmus der Sorge herauszuholen. Trotz ihres glühenden Temperaments veranlassten der Zwetajewsche Stolz und die nationale Verwaistheit Alya Efron dazu, mit «Nein» zu antworten. Mit bemerkenswerter Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit strebte sie in die Sowjetunion, in der Hoffnung, dass sich dort all ihre Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche erfüllen würden. Ihre Weigerung hatte völlig unvorhersehbare Folgen: Gefängnisse, inszenierte Erschießungen, Lager, Verbannung, ein tragisches Leben mit dem Schmerz tödlicher Verluste und Trennungen.
Ariadna schenkte der Heimat das Wertvollste, was ein Mensch hat – die Zeit ihres Lebens. Alyas unerschütterlicher Optimismus, dessen freudige Spuren sogar in der Turuchansker Verbannung wahrnehmbar waren, ihre Geistesgröße und ihr Pflichtbewusstsein, das Bewusstsein ihrer Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen, als einzige Überlebende der Familie Efron, als Zeugin des Lebens von Marina Zwetajewa, die Fähigkeit, ihre Erinnerungen talentiert niederzuschreiben, lassen uns die geliebte Dichterin besser kennenlernen.
Wassily Kandinsky sagte mit erstaunlicher Genauigkeit: «Einfachheit ist das, was schwierig ist. Das Einfachste wird immer das Schwierigste sein.» Alya gelang diese geniale Einfachheit: «Meine Mutter, Marina Iwanowna Zwetajewa, war nicht groß – einhundertdreiundsechzig Zentimeter, mit der Figur eines ägyptischen Jungen.»
In jeder Zeile klingt Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Mut, Weltoffenheit, Liebe …
Durch die Jahre hindurch vernehmen wir ihre Stimme.
Florent öffnete den Deckel des Klaviers. Seine Finger wanderten über die Tasten. Er hatte schon lange nicht mehr gespielt, aber sobald Lesja sich auf Zwetajewas Truhe setzte, half ihnen die retrospektive Energie des «Genies des Ortes», Zwetajewas Gedichte zu singen, in denen die Dichterin instinktiv alle Hauptgesetze der Poesie erriet und sie überschritt. Ihre Gedichte sind aus dem russischen literarischen Erbe nicht mehr wegzudenken. Versuchen wir, es einfach auszudrücken: Ohne die Dichtung von Marina Zwetajewa wären wir heute anders. Die Zeiger der Uhr drängen uns zum Aufbruch. Wir verabschieden uns von Florent und überlassen es ihm, das Veilchen «Marina Zwetajewa» auf Lelas Leinwand und die frischen Blumen auf dem Tisch zu bewundern, ein Symbol des Frühlings und unvergänglicher Jugend. Haben Sie jemals die Blütenblätter von Veilchen mit Ihren Lippen berührt? Haben Sie schon einmal ihre duftende Frische verspürt?
P.S. Die Geschichte unserer irdischen Zivilisation wurde früher in zwei Perioden eingeteilt: vor unserer Zeitrechnung und unsere Zeitrechnung. Im 21. Jahrhundert markiert das Auftauchen des Virus in der «Krone» den Beginn der Pandemie, vor der alle frei und glücklich waren, ohne es zu merken, und die aktuelle Epoche, um die es schlecht bestellt ist. Von einer Renaissance können wir nur träumen! Die nachfolgend erzählte Geschichte fand zuvor statt. Damals flogen noch Flugzeuge, was Olga ermöglichte, in einer Stunde von Berlin nach Paris zu kommen. Sie kannte die Stadt wie ihre Westentasche, fühlte eine tiefe Zuneigung und herzliche Anziehung zu ihr. Olga ist eine ehemalige Dozentin für Mathematik, eine glühende Verehrerin der schöpferischen Arbeit von Marina Zwetajewa, eine aktive, energische Person, die ihre Ziele erreicht. Sie hat viel Zeit damit verbracht, auf den Spuren der russischen Emigration zu «wandern». Schließlich begann im Berlin der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts der Weg ins Exil nicht nur für Marina Zwetajewa, sondern auch für viele andere russische Schriftsteller, Dichter, Künstler und Musiker. Sie trafen sich im Café «Prager Diele», wo Ilja Ehrenburg einen eigenen Tisch mit einer Schreibmaschine hatte. Seine reizende Frau hat Marina unterstützt und darauf bestanden, ein neues Kleid zu kaufen: das blaue, im bayerischen Stil, das wir von den Fotos kennen. Durch die Fenster des Cafés bewunderte Zwetajewa den Prager Platz, der mit prächtigen Gebäuden mit spitzen Ziegeldächern bebaut war. Der Krieg hatte sie nicht verschont. Aber auch heute, im Grün der Bäume und mit dem Plätschern des Brunnens, ist es ein Ort, den Marina geliebt hätte, dank der Anwesenheit ihres Freundes Rainer Maria Rilke. Im Jahr 2007 schenkte der tschechische Bildhauer Miroslav Vochta der Stadt eine Stele mit Gedichten von Rilke, als ob sie für sie geschrieben wären.
Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
Werden weniger. Überzähliges Dasein
Entspringt mir im Herzen.
Wie sehr fehlt hier eine Skulptur von Zwetajewa, die der Stimme des Freundes lauscht. Das ist Olgas Traum, und auch, dass das jetzige Café am Prager Platz wieder seinen früheren Namen erhält. Übrigens werden hier die köstlichsten Florentiner Kekse hergestellt, benannt nach Heinrich Heines «Florentiner Nächten», die Zwetajewa von Abram Wischnjak zur Übersetzung vorgeschlagen wurden. Ihre Bekanntschaft mit ihm gipfelte in Zwetajewas Meisterwerk der Liebe in Briefen, das später «Die Florentiner Nächte» genannt wurde. Olga bringt diese Kekse regelmäßig nach Vanves mit und verwöhnt alle Anwesenden großzügig. Natürlich nennen wir die Plätzchen Florent-Kekse, was dem Gastgeber ein Lächeln entlockt. Nicht weit vom Prager Platz entfernt steht das Haus, in dem Marina und ihre neunjährige Alya lebten. Es ist bewegend, dass die Gedenktafel an der Fassade des Hauses mit von Slawistikstudenten gesammelten Mitteln angebracht wurde. Als Olga das erste Mal die Lobby dieses Hauses betrat, blickte sie neugierig und ehrfürchtig in die Spiegel aus Venedig, die seither erhalten geblieben sind. In ihnen spiegelten sich Marina Zwetajewa, Ariadna Efron, Ilja Ehrenburg, Vladimir Nabokov, Mark Slonim … Alyas Notizen wurden bewahrt: «Wir wohnten in dem Haus, in dem ein Löwe lebt.» Die Beobachtungsgabe eines Kindes half, ihre Wohnung im vierten Stock aufzuspüren, in der ein Buntglasfenster mit der Darstellung eines Löwen erhalten blieb. Die Wohnung gehört nun außergewöhnlichen Menschen, berühmten Musikern, die mit den größten Orchestern der Welt auftreten. Nach der Theorie der Unwahrscheinlichkeit lockt die Musik von Zwetajewas Versen russischsprachige Musiker in ihre «ehemaligen Wohnungen».
David Geringas wurde 1946 in Vilnius geboren und studierte Cello bei Mstislaw Rostropowitsch am Moskauer Konservatorium. Zusammen mit seiner Frau, der Pianistin Tatjana Geringas, die seine Konzertpartnerin wurde, gehörten sie zu den ersten Musikern, die die neusten russischen und litauischen Avantgarde-Komponisten dem westlichen Publikum vorstellten. Trotz ihres engen Tourneeplans folgten sie Olgas Einladung und kamen zur Vernissage der Berliner Künstlerin Margit Grüger, die ihre Ausstellung Marina Zwetajewa gewidmet hatte, in das Café am Prager Platz. Dieser ikonische Ort füllte sich mit Erinnerungen und ihren Gedichten. Wie bei edlen Weinen – nun war ihre Zeit gekommen. Apropos Wein. Hier verwöhnten die Ehrenburgs Zwetajewa mit einem leichten, angenehm säuerlichen Riesling. An den Ufern des Rheins wachsen seit dem 15. Jahrhundert Reben, deren dunkle Trauben dem Wein seinen Namen gaben. Aber an diesem außergewöhnlichen Abend beschloss der Besitzer des Cafés, alle zu überraschen. Auf den Etiketten der Flaschen stand «Riesling Marina Zwetajewa». Tatjana Geringas war gerührt und schlug vor, sich bei ihnen, in der ehemaligen Wohnung von Marina Zwetajewa in Berlin, im Jahr 2022 zu versammeln, d. h. zum 100. Jahrestag, mit obligatorischer Anwesenheit von Florent aus Vanves. Sie sagte: «Mein Mann und ich sind Musiker und die einzigen gebürtigen Russen in diesem Haus. Wir fühlen uns Marina Zwetajewa verpflichtet und verbunden und möchten die russischen musikalischen und poetischen Traditionen fortführen.» Olga, übervoll mit freudigen und überwältigenden Neuigkeiten, flog auf Flügeln (eines Flugzeugs) nach Paris, um an einem Treffen von Freunden bei Florent teilzunehmen, zur Feier des Geburtstags der Dichterin. Sie konnte es kaum erwarten, alles zu erzählen, doch wie hätte sie an einem solchen Abend ohne Marinas Lieblingsblumen erscheinen können? Mit mathematischer Folgerichtigkeit schritt sie alle Blumenläden im Quartier Latin ab, aber die Floristen breiteten nur die Hände aus: «Es gibt keine Veilchen. Es ist außerhalb der Saison.» Sie antwortete mit deutschem Akzent auf Englisch: «Die Liebe zu Zwetajewa kennt keine Jahreszeiten. Anstatt mit den Schultern zu zucken, züchtet Veilchen!» Olga ging weiter durch die Straßen, sie hatte die Hoffnung nicht verloren. Als sie den Alma-Platz erreichte, der zum Gedenken an die tragisch verstorbene Lady Diana zu einem Wallfahrtsort geworden ist, war sie überrascht von der großen Menschenmenge, den vielen Blumen, Geschenken und Briefen. Rosen, in verschiedenen Farben und Schattierungen, lagen traurig auf dem Bürgersteig. Sie fühlte sich sofort an Rilke erinnert: «Rose, oh reiner Widerspruch …» In der Tat ist die Rose ein Widerspruch, denn sie ist gleichzeitig ein Symbol des Seins und des Nicht-Seins. Zart, anmutig, duftend, ist sie die Verkörperung des Lebens und der Liebe, aber gleichzeitig ist sie die Blume der Trauer und des Kummers. Als wahre Mathematikerin fühlt sich Olga immer von Zahlen angezogen, in denen sie seltsame Zusammenhänge erkennt, die andere nicht einmal erahnen können. Dies war auch hier der Fall. Das Sterbedatum der Prinzessin ist der 31. August 1997. Ein weiterer Zufall: Der 31. August 1941 markiert den tragischen Tod von Marina Zwetajewa. Olga betrachtete mit slawischer Wehmut die «reinen Widersprüche» der Rosen, und plötzlich leuchteten unter ihnen lila Veilchen in einem Topf. Sich zurückzuhalten und sie nicht für Marina mitzunehmen, war einfach nicht möglich. Entschlossen zog sie aus ihrer Tasche einen Gedichtband Zwetajewas und schrieb deutlich auf die Titelseite: Sie beide sind am 31. August tragisch gestorben. Mögen diese Veilchen Ihre liebevolle Hommage an Marina sein, wie in ihren Gedichten:
Ich geh nach Hause, es gibt der Veilchen Trauer
Und einen zarten Gruß.
Marina Zwetajewa schenkt Ihnen ihre Gedichte, die sie vor hundert Jahren geschrieben hat:
Im großen und glücklichen Paris
Träum ich von Wiesen und von Wolken
Und fernem Lachen, nahen Schatten,
Und wie zuvor ist tief der Schmerz.
Als Olga feierlich mit den raren Veilchen bei Florent erschien, erweckte sie das Erstaunen aller: «Es ist doch nicht die Jahreszeit!» Was zu beweisen galt: Die Liebe kennt keine Jahreszeiten! Und Florent behauptet, dass unser Leben eine einzige Saison der Liebe ist.
Ludmila Marchesin, Paris
Translated from Russian into German: Таtiana Eichler-Ojake, Berlin
Edited by: Maria Zhukova, University of Konstanz and Juliana Wiemer, Kunstschule Bodenseekreis in Meersburg