WO FÄNGT EINE GESCHICHTE AN?

Die Geschichte, welche ich Ihnen erzählen möchte, ist eine derjenigen, die sich an der Schwelle des Realen und des Irrealen befindet, schwerlich glaubwürdig und doch zu real, um missachtet zu werden. Wie jede Erzählung hat auch diese einen Protagonisten, aber um seine Errungenschaften zu schildern, müssen wir zuerst den Ursachen nachgehen, welche seine Existenz in solch einer schweren Lage erzwungen haben. Da sie jedoch so vielzählig sind, wie selbst die Tentakel des Krakens oder die Köpfe der Hydra, soll es dem Leser nicht an Mut und Geduld fehlen, sie alle in Angriff zu nehmen. Wenn Sie sich trotz der Warnung für das Weiterlesen entschieden haben, stellt sich nun die Frage, wie diese Geschichte anzufangen sei. Vielleicht an einem sonnigen Strand auf Kreta, wo das Meer den Farben des Paradieses ähnelt und wo einst der König Minos den wirren Dädalus einen Irrgarten zu bauen beauftragte. Auf einer der Olivenplantagen an der Küste arbeitete ein junger Ausländer und ehemaliger Boxer, welcher nicht, wie sonst für Sportler üblich, seine Karriere wegen dem Alter oder einer Verletzung aufgegeben hatte, sondern sich dafür brüsk und über Nacht entscheiden musste. Nicht dass er nicht erfolgreich gewesen wäre, ganz im Gegenteil, an seiner Technik gab es nichts auszusetzen, sein Uppercut war makellos, der Jab dynamisch und auch an Lob und Medaillen fehlte es nicht, und dann, wie aus dem heiteren Himmel kam der K… Ich bitte um Verzeihung, aber vielleicht sollten wir den Anfang doch auf einen früheren Zeitpunkt verlegen, um etwas weiter weg vom eigentlichen Protagonisten zu kommen und uns damit einen besseren Überblick über seine jetzige Situation zu verschaffen.

In einem erstarrenden Winter des vergangenen Jahrhunderts, zitterte ein Haufen junger hauchender Soldaten in einer versteckten Schanze zwischen den von Schnee überzogenen Tälern und Bergen. Teils zitterten sie vor Kälte und teils aus Furcht vor dem bevorstehenden Angriff des Feindes. Die meisten von ihnen waren Bauernkinder, welche ihren Feldern und Familien entrissen wurden und ihre Pflüge und Spaten mit Kanonen und Gewehren ersetzen mussten. Einer von ihnen, kaum sechszehn, beachtete als erster einen feindlichen Soldaten auf dem gegenüberliegenden Ufer. Er hatte es noch nie getan, aber er wusste, dass er nun den Feind vernichten musste, um nicht selbst umzukommen. Also streckte er sein Gewehr entschieden und zielte auf ihn, als seine Knie weich wurden und sein Finger am Abzug erzitterte.

Der feindliche Soldat schien ihn dagegen gar nicht erblickt zu haben und drehte ihm sogar den Rücken zu. Demzufolge senkte auch der junge Bauer erleichtert sein Gewehr und suchte in der Jackentasche seinen Talisman; eine im Stoff eingehnähte Nuss, welche ihm seine Mutter bei der Verabschiedung mitgab. Er drückte sie in der Faust und blickte zum grauen Fluss unterhalb der Schanze hinab; einem irdischen Acheron, wild und unbarmherzig, verseucht vom Gestank der Leichen und des Schiesspulvers.

Wie aus dem Nichts schoss dann jemand vom gegenüberliegenden Ufer und traf den Bauer in die Brust, wonach sein verhärteter Körper wie ein Stein im Fluss versank. Anfänglich rang er noch mit den Wellen und versuchte sich an einem Felsen festzuhalten, vergeblich, weil er seinen linken Arm nicht mehr spürte. Er rief auch nach Hilfe, jedoch wurden seine Schreie von weiteren Schüssen und Schreien übertönt und schliesslich wurde sein ohnmächtiger Leib von der Strömung weggetragen.

Dies sollte aber kein Kriegsbericht werden, weswegen wir den Anfang doch etwas weiter in die Zukunft und näher zum Protagonisten verlegen müssen. Falls Sie sich trotzdem noch fragen, was mit dem jungen Soldaten geschehen ist, kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, dass er aufgrund des Schusses erst fünfzig Jahre später umkam.

Stellen wir uns ein zerfallenes Land nach einem blutigen Krieg vor, ein im Elend ertrinkender Staat, in welchem verwandtschaftliche Beziehungen und trostlose Armut die Bevölkerung plagen und Hunderttausende aus der Heimat vertreiben. Einer der Auswanderer, zufällig auch ein ehemaliger Boxer, entscheidet nach drei Jahren fleissiger Arbeit auf dem Schiffsbau über die Ferien, in die Heimat zu fahren. Dabei wird er noch kurz vor der Abreise von einem Freund, auch einem Auswanderer, den wir hier bloss D nennen werden, gebeten, seiner Freundin ein Parfüm mitzubringen.

Eine Woche später machte er einen flüchtigen Abstecher bei Ds Freundin, um ihr das Parfüm zu übergeben. Er klingelte und noch bevor die Tür aufgemacht wurde, fing er hastig an zu erklären, dass er tatsächlich keine Zeit für ein Kaffee hätte, dass er zwar gern mit ihr geplaudert hätte, aber es sehr eilig hätte und es ihm leidtäte, aber nein, für einen Kaffee hätte er gar keine Zeit, weshalb er sicherlich ein anderes Mal vorbeigekommen wäre und sie sich dann so richtig ausgesprochen und zusammen einen Kaffee getrunken hätten. Während er dies vorgetragen hatte, hatte er alle seine Hosen- und Jackentaschen nach seinem Autoschlüssel betastet und nachdem er sie endlich gefunden hatte, streckte er die Hand mit dem Parfüm aus und erhob seinen Blick, als er erschreckt erkannte, dass es gar nicht Ds Freundin, sondern deren beste Freundin war. Wieder folgten gedämpfte Schüsse, auch dieses Mal in die Brust, aber das Mal keine Feuerwaffen, sondern Pfeile, Pfeile des Amors.

Er versuchte noch etwas zu sagen, doch kam aus ihm nichts Vernünftiges heraus, weil ihn ihre unendlich blauen Augen davon abhielten. Sie nickte ihm dagegen nur zu und grinste zufrieden, als wäre das Parfüm ein Geschenk. Ein Geschenk, von ihm für sie.

Trotz den Unannehmlichkeiten, welche ich Ihnen damit bereiten könnte, sehe ich es einmal mehr als eine Notwendigkeit, auch diesen Anfang zu verwerfen. Nicht weil wir jetzt zu nahe oder zu weit weg am Protagonisten sind, ganz im Gegensatz, sondern, weil es nicht zu bestreiten ist, dass heute die wenigsten noch an die Liebe glauben, also muss auch dieser kitschige Anfang zwingend verworfen werden. Wie weit soll man überhaupt in die Vergangenheit eintauchen, um die Verflechtung eines Schicksals zu ergründen? Versuchen wir uns doch in die Gegenwart zu versetzen.

Vor der Gelateria eines italienischen Einkaufszentrums sitzen ein Vater und dessen Sohn auf einer Bank, während sie auf die Mutter warten. Der Vater blättert in einer Autozeitschrift und der kleine Junge schwingt seine Beine, während er sein Zitroneneis isst und die Pflanze neben sich betrachtet.

«Papa ist das eine künstliche Pflanze?»

Aber der Vater hört die Frage nicht, weil er konzentriert ein neues Volkswagen-Modell bewundert. Der Junge zuckt die Schultern, lässt seine Beine wieder schwingen und isst unbesorgt sein Eis weiter. Obwohl er das Eis auf Italienisch geniesst, weiss er noch gar nicht, dass er eines Tages davon in zwei Sprachen denken, in drei träumen, in vier sprechen und in fünf lieben wird.

Handelte es sich eigentlich hierbei um dasselbe Kind, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Granate im Bach unterhalb seines Hauses fand, welche ihn sein Bein kostete? Oder war es das Kind, welches mit den Eltern vor Jahrhunderten die gebürtigen Berge der Crișana verliess, wegen eines selbst von der Zeit längst vergessenen Übels?

Nicht auszuschliessen ist, dass es eines der Sachsenkinder war, welche sich im 13. Jahrhundert, vor den Tataren fliehend, in jener Gegend ansiedelten, um Bergbau zu betreiben und in welcher sich später auch die rumänischen Schäfer ansiedelten. Es könnte aber eines der Kinder gewesen sein, welche auf der Anhöhe hinter dem Familienhaus von den Faschisten erschossen wurden.

Wie am Anfang bereits erwähnt, hat diese Hydra noch viele weitere Köpfe und auch der Busfahrer in den Alpen, die Begegnung eines Rentners in einer Kafana, eine kaputte Lada vor einer westeuropäischen Botschaft in einer osteuropäischen Grossstadt und der verirrte türkische Winzer, wären vermutlich gleichermassen gute, wenn nicht sogar bessere Anfänge als die bereits Geschilderten. Jedoch bleiben alle diese Leben und Schicksale weiterhin dermassen verflochten und verknotet, dass es schwer zu sagen ist, inwiefern sie das Schicksal des Protagonisten beeinflusst haben und wo, dass ihre Geschichten enden und die eigentliche Geschichte über den Protagonisten anzufangen sei. Über ihn werden wir jedoch ein anderes Mal ausführlicher reden, da nun mein Zug gekommen ist und dementsprechend die Zeit dafür nicht mehr ausreicht.

 

Aleksa Trifunović, University of Zurich

 

Edited by: Tijana Simić, University of Zurich and Juliana Wiemer, University of Konstanz

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