Melanie Unger – Dmitrij Schostakowitsch in der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz: Spielzeit 2019/2020

Als einer der wenigen Komponisten hat Dimitri Schostakowitsch in fast allen Genres von der Kammermusik über Sinfonien und Opern bis hin zur Unterhaltungsmusik imposante Werke verfasst. Kaum ein anderer Musiker verdeutlicht so intensiv und begreiflich, welchen gesellschaftlichen Anspruch und Wert Musik erfüllen kann. Wie seine Werke ein Spiegel der wechselhaften Geschichte des 20. Jahrhunderts insbesondere der Sowjetunion sein können, wurde im Seminar zu Schostakowitschs Arbeiten Sozialistisches Wohnungsglück vermittelt.

Schwerpunkt des Seminars: Moskau, Tscherjomuschki. Auch die Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz nahm für ihr Konzert Alles Walzer Stücke aus Schostakowitschs einziger Operette in den Blick. Die musikalische Komödie, die 1962 auch verfilmt wurde, spielt in der titelgebenden Trabantenstadt Novye Tscherjomuschki am Rande Moskaus. Das Neubauviertel Tscherjomuschki galt als sowjetisches Vorzeigeprojekt und die Operette sollte mit popkulturellen Mitteln auch die dem üppigen und kostenspieligen Stalinschen Ampir (Sozialistischen Klassizismus) entgegengesetzte schlichte Typenbauweise ohne Prunkfassaden propagieren. Denn eigentlich sollen die standardisierten Großblockgebäude im Stück die Rettung der an der Wohnungsnot verzweifelnden Menschen sein, die hier eine neue Heimat finden sollen. Doch Schostakowitsch kritisiert mit wilder Lust an Satire in seiner Musik Korruption, Funktionärsgehabe und Neid, die mit der Wohnungsfrage und dem vermeintlichen Wohnungsglück einhergehen. Deutlich hörbar ist es, wie sich der Komponist einen Spaß daraus machte, das Gerangel um die Wohnungen zu schildern. Die Musik ist eingängig und im Film wird viel mitgerissen und getanzt. Wie sooft in seinen Werken, nutzt Schostakowitsch auch hier musikalische Zitate, um mehrere Bedeutungsebenen zu öffnen. Er zitiert eigene frühere Kompositionen und bespickt das Stück mit ironischen Anspielungen auf gängige Schlager, aber auch auf klassische Stücke wie Schwanensee von Tschaikowski oder Borodins Fürst Igor.1 Zum populärsten Stück avancierte der Tscherjomuschki-Walzer, der auch Teil des Philharmonie Konzerts ist.

Die schmissige Operette ist, so heißt es in der Forschung, auch eine sowjetische Antwort auf Leohard Bernsteins 1957 uraufgeführte WestSideStory, die Musik erinnert allerdings auch an Johann Strauss.2  Eine Ähnlichkeit zwischen den Arbeiten der Komponisten war nach Intendantin Insa Pijanka auch Ausgangspunkt der Programmwahl für Alles Walzer. Mit dem Ziel, den neuen Paukensatz der Philharmonie breit zu präsentieren, sollten Pauken ins Zentrum des Konzerts gestellt werden. Für das Schlaginstrument gibt es allerdings nur wenig solistische Literatur. Eines der wenigen Werke ist Richard Strauss‘ Burleske, welches ebenfalls Teil des Konzerts ist. „Mit diesem Werk haben wir angefangen zu denken“,3 erzählt Pijanka über die Programmplanung. Der spielerische und ironische Charakter des Stücks habe dann zur Auswahl der weiteren Werke geführt. Also eine Auswahl an Komponisten, die auch in einem direkten inhaltlichen Zusammenhang miteinander stehen. Die Komponisten des Programms – Strauss, Korngold und Schostakowitsch – waren Meister der Instrumentation und haben immer wieder in ihrer Musik mit ironischen Doppelbödigkeiten gespielt. Zudem hatten alle eine Affinität zur Unterhaltungsmusik.

„Daher resultiert der zweite Gedanke des Programms. Eine Berechnung dessen, was Unterhaltungsmusik eigentlich ist“, erklärt Pijanka. Der Titel Alles Walzer hat den Bezug im Inbegriff der Unterhaltungsmusik in Wien um die Jahrhundertwende. Es war der Slogan der Kapelle von Johann Strauss und ist bis heute der Auftakt des Wiener Opernballs. Doch nicht nur reine Unterhaltungsmusik sind die Walzer: „Sie haben immer auch etwas melancholisches, ironisches und sind gerade im Kontext der Wiener Moderne Ausdruck einer morbiden, eigentlich im Vergehen befindlichen Gesellschaft.“Diese Ambivalenz wird mit dem Programm aufgegriffen. Moskau-Tscherjomuschkis Part lässt die Pauke knallen, wechselt rasant zwischen den Tempi und Temperamenten, gezupften und gestrichenen Walzern. Es sind Überzeichnungen ins Absurde mit Poesie und Aufbruchsstimmung, die der Tscherjomuschki-Walzer entfaltet.

Die Idee seiner Operette konnte Schostakowitsch erst 1958 umsetzen, nachdem er sich jahrelang vom Komponieren für das Musiktheater ferngehalten hatte. Aus gutem Grund: Als junger Mann hatte er sich bei Stalin mit seiner gesellschaftskritischen Oper Lady Macbeth von Mzensk unbeliebt gemacht, und geriet in Lebensgefahr. Unter der Überschrift „Chaos statt Musik“ hatte das Sowjetregime 1936 den musikalischen Satiriker bedrohend kritisiert. Seitdem hatte Schostakowitsch keine Note mehr für Theater geschrieben, sondern sich im Wesentlichen auf Sinfonien, Kammer- und Filmmusik beschränkt. Von der Zeit seines persönlichen und des politischen Schreckens zeugt auch das Schostakowitsch Stück, welches bei dem Philharmoniekonzert Im Schutz der Nacht zu hören ist. In seiner 10. Sinfonie aus dem Jahr 1953 hat er mit enormer Kraft und großer Verletzlichkeit „eine Sprache für das Unsagbare“, wie es im Konzertprogrammheft heißt, gefunden. Erst mit dem Tod Josef Stalins hat er seiner dynamischen Musik den nötigen Spielraum für die Aufführung geben können.

Hier herrscht von Beginn an eine Atmosphäre der Beklemmung und der Bedrohung. Brutal klingen die Marschrhythmen, Trommelschläge und dissonante Blechbläserakkorden. Ein musikalisches Porträt des Diktators Josef Stalin scheint hier nicht fern. Doch neben diesen vielen aggressiven, sarkastischen und trostlosen Momenten werden die Hörer mit einem Happy End überrascht. Nach Schostakowitschs Manier wohl eine Karikatur der positiven Botschaft des Sozialismus, die das Regime im Zeitalter des Sozialistischen Realismus immer als Zweck von Kunst abverlangte. Doch auch in die Jetztzeit übertragbar ist die Stimmung seiner Musik.

„Diese Werke sind ein wichtiger Beitrag zur geschichtlichen Reflexion, welche auch für unsere heutigen Entscheidungen unverzichtbar ist“, erzählt Insa Pijanka. Bei den aktuellen Tendenzen von Politik und Gesellschaft zeigen sich schon Parallelen zu den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. „Und gerade die Kunst dieser Zeit war sehr sensibel für die negativen Tendenzen in der Gesellschaft.“ Die Intendantin rät bei der Reflexion einen Blick zurück zu wagen. Denn gerade Schostakowitschs Musik mache auch emotional die grausamen Exzesse des 20. Jahrhunderts mit seinen zwei Weltkriegen und dem Terror der beiden großen Diktaturen nachvollziehbar und könne und solle eine Lehre sein.

Melanie Unger, Universität Konstanz

Literatur:
Rüthers, Monica (2006): Moskau bauen von Lenin bis Chruščev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag.

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