DER KÖRPER DER MUSIK

Musik ist überall um uns herum und kommt in den verschiedensten Variationen vor. Wir erleben musikalische Arrangements in der Natur, im Radio, haben unsere liebsten Lieder auf unseren Smartphones zum Abhören bereit. Musik wird dabei von den unterschiedlichsten Dingen hervorgebracht, instrumentalisiert – ja verkörpert. Auch bei der Analyse von Dmitrij Schostakowitschs Werken ist dies gut zu erkennen, vor allem wenn man die orchestrale Darbietung der Südwestdeutschen Philharmonie im Zuge des Konzertes Alles Walzer! (29. Februar 2020, Milchwerk Radolfzell)mit der musikalischen Komödie Čerëmuški/Cherry town (1962, Regie: Herbert Rappaport) vergleicht. Was verändert sich in beziehungsweise mit der Musik? Was passiert mit einem musikalischen Werk, wenn es völlig seinem Ursprung – der 1959 in Moskau aufgeführten Operette Moskva. Čerëmuški und ihrer filmischen Adaption entzogen wird und sterilisiert auf einer Orchesterbühne in Form von Suiten aufgeführt wird? Um diese Frage zu beantworten lohnt es sich zunächst kurz darauf einzugehen, wie Schostakowitschs Musik im Filmischen funktioniert.

Der Komponist schrieb sehr viel für das Medium Film. Dabei addiert das Musikalische dem Visuellen immer etwas hinzu. In der filmischen Operette Čerëmuški wird mit und durch die Musik das Thema der sozialistischen Wohnbauten und des Wunsches nach einem Privateigenheim aufgegriffen und verarbeitet. Dabei sind es die verschiedensten Figuren, die aufeinandertreffen und jeweils verschiedene Problematiken innerhalb dieser Thematik personalisieren oder vertreten: Der sowjetische Bürokrat Drebednëv und seine junge Frau, die verwöhnte Kokotte Vava, das frisch vermählte Ehepaar Saša und Maša, eine gut ausgebildete, aber schüchterne Museumsführerin Lidočka, ihr älterer Vater und ihr neuer Freund Boris, die Kranführerin Ljusja und ihr Boyfriend Sergej1 – alle haben Anspruch auf eine Eigenwohnung im neu bebauten Moskauer Statdteil Čerëmuški, müssen sich diese aber erkämpfen –mit viel Humor, Aberwitz und satirischen Übertreibungen.  Die Musik ist dabei in ihrer Ausführung auf eben jene Personen zugeschnitten und beschreibt auch die Beziehungen zwischen den Figuren. Sie agiert damit nicht nur kommentierend zu den visuellen Geschehnissen, sondern kreiert durch ihre Wesensart die Botschaft erst mit. Auch die Tatsache, dass in dieser Operette ein Großteil der Dialoge gesungen wird, überführt den erzählerischen und informationsbringenden Gehalt des Dialoges ebenfalls in das Musikalische, lässt die Filmmusik auf einer weiteren Ebene dem rein Visuellen gegenüber autark erscheinen. Dennoch sind Filmbild und Musik untrennbar miteinander verschränkt und bedingen sich wechselseitig. Der Körper der Musik wird dabei vom Filmbild dargestellt. Oder anders gesagt: das Dargestellte ist der Körper der Musik, der sie (mit) ausdrückt. Der Zuschauer verbindet dabei im Verlauf des Filmes die visuelle Information mit der musikalischen. Die Thematik des Wohnungsbaus, das greifbare Wohnglück und der Verlust eben dessen gepaart mit den Liebesverwicklungen, werden von der Musik mitkonstruiert und hervorgebracht und lassen sie selbst damit in einem anderen Licht erscheinen.

Im Orchestralen wird Musik ganz anders vermittelt. Dabei bilden die Bühne mit dem Orchester und der Zuschauerraum mit dem Publikum zwei Teile eines Ganzen, eines Konzeptionsraumes, in dem die Musik ihren (Klang-)Körper bekommt und sich ausbreitet. Das Orchester als Quelle des Auditiven ist nicht nur ersichtlich (sowie die Sänger in der Operette ersichtlich sind), sondern auch haptisch-körperlich präsent und auf der Bühne herausgestellt. Die Artisten erzählen die Geschichte der Musik von Schostakowitschs Moskau, Čeremuški auf ihre eigene Weise, in ihrer eigenen Interpretation. Dadurch werden der Gehalt und die Rezeption der Musik aber auch in einem gewissen Sinne transformiert – zunächst allein durch die Tatsache, dass für so ein zusammengestelltes Konzert wie das der Südwestdeutschen Philharmonie einzelne Stücke bzw. Abschnitte der musikalischen Vielfalt der Operette herausgenommen werden müssen. Aus ihrem filmischen Kontext und ihrer musikalischen Umgebung herausgerissen wird aus diesen Stücken eine Suite gebildet, die aus vier Teilen «Eine Fahrt durch Moskau», „Walzer», «Tänze» und «Ballett“ zusammengesetzt ist.2 Damit kann sich der (über die Operette wenig bis gar nicht informierte) Zuschauer zwar vage im Stil des Stückes verorten, hat aber dennoch keinen Referenzkontext zu dem eigentlichen Informationsgehalt, den diese Musik in ihrer ursprünglichen Erscheinung – dem filmischen, oder auch für die Bühne konzipierten Körper – bietet. Ein schönes Beispiel hierfür findet sich schon ziemlich am Anfang der filmischen Adaption: Die Freunde Boris und Sergej unternehmen eine Fahrt durch Moskau. Begleitend dazu singen sie: „Tscherjomuschki, in Tscherjomuschki blühen die Kirschbäume. Und alle Träume ihrer Bewohner gehen in Erfüllung.“  Dieser Gesang charakterisiert die beiden jungen Männer als voller Hoffnungen für die Zukunft, die sie in dem neu erbauten Stadtteil sehen. Die strahlenden Gesichter,  gepaart mit Einblendungen von Bildern der Stadt, die an ihnen vorbeizieht, kreieren eine positive Grundstimmung gegenüber der Wohnumgebung – eine Stimmung, die später satirisch gebrochen wird. Diese Information fehlt dem Zuhörer und -schauer im Orchestralen.

Des Weiteren spricht die orchestrale Darbietung anders zum Publikum. Sie stellt die bestimmten Instrumente – wie zum Beispiel die sonst weniger bekannte Triangel – exponierter aus und lässt die Kommunikation zwischen den einzelnen Instrumenten stärker hervortreten. Vor allem in den Proben zum Auftritt konnte man dies gut mitverfolgen – so war es plötzlich auch von Belangen, ob für das eine Stück nicht ein größere, imposantere Triangel und für das andere eine kleinere, höhere  und unscheinbarere angeschlagen werden sollte. Aber egal um welche der vier verschiedenen Teilstücke aus der Operette es ging, immer bemühte sich Dirigent Markus Huber eine Geschichte zu den Klängen der Instrumente und deren Beziehung zueinander hinzu zu imaginieren. Zweck dessen war es, seinen Musikern zu vermitteln, wie die Stimmen der einzelnen Instrumente miteinander kommunizieren und harmonieren sollten. Dabei waren es Allegorien wie „der unter Drogen stehende, nackte Schweizer auf dem Berg“, das „heimatliche rufende Dorf unten im Tale“ und die „traditionell schunkelnd trinkenden Bayern“, welche Huber benutzte, um Klangbilder zu erschaffen. Besonders auffällig ist hier, dass die entstanden Bilder, die anschließend in die Rezeption der von der Südwestendeutschen Philharmonie gespielten Stückeeinflossen, nicht viel mit dem ursprünglichen Kontext von Schostakowitschs Musik zu tun haben. In einer Weise wird seine Musik hier zweckentfremdet und neu verarbeitet. Anders gesagt: Sie bekommen einen neuen Körper.

Die Verkörperungen sind hier die musikalischen Klangkörper sowie auch die Artisten, welche diese bedienen. Der Bogen und die Geigensaite, über welche er geführt wird, genauso wie der Arm, welcher ihn führt. Und genauso ist es auch der Dirigent, der zum Körper wird, indem er sich die Musik einverleibt, sie allegorisch verarbeitet und seine Interpretationen an das Orchester weitergibt und dadurch dirigiert. Die orchestrale Darbietung der filmischen Musik verliert also nicht nur an Kontext, sondern bekommt einen neuen, anderen Kontext, welcher für die Reaktion des Publikums ganz entscheidend ist. Die Musik wird anders erlebt, anders aufgenommen, neu visualisiert durch ihren anderen Körper und lebt in dieser Aufführungssituation von dem Zusammentreffen mit dem Publikum. Als orchestrale Musik lebt sie von dem Beifall und der Zustimmung der Zuschauer, die als erweiterter Körper der Musik fungieren, wie sie ihn im Klangraum des Aufführungssaales aufnehmen und in sich weiterklingen lassen.

Literatur:
[1] Vgl. McBurney, Gerard: Fried Chicken in the Bird-Cherry Trees, in: Laurel E. Fay (Hg.): Shostakovich and his world. Princeton, 2004. S. 229.
[2] Vgl. Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz: Takt/2, Das Magazin zur Spielzeit. Konstanz, 2019. S. 42.

 

Marie Herbert, University of Konstanz

 

Edited by: Maria Zhukova, University of Konstanz

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert