Hermann-Greulich-Strasse 70 (Karte)
Aïssata Paschke
Welche Vorstellungen von Frau, Sexualität und Gesundheit legitimierten die Zwangsbehandlungen, die bis ins 20. Jahrhundert an Frauen vorgenommen wurden, wenn diese an Syphilis erkrankten?
Abb 1: Städtische Poliklinik an der Herman-Greulich-Strasse 70, 1936. Flaches Dach und schnörkellose Fassade: Architekten des «Neuen Bauens» arbeiteten mit standardisierten Prototypen. Bürgerliche witterten dahinter „Kommunistenzüchterei“.
Ein Neubau für die Städtische Poliklinik
1936 zog die städtische Poliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten in das neue Gebäude an der Herman-Greulich-Strasse 70. Der Baustil „Neues Bauen“ wie auch die Lokalisation im Arbeiterviertel zeigen, für wen diese Poliklinik gedacht war und unterstreicht die Intention, soziale Medizin zu betreiben.
Das vorherige Provisorium an der Hohlstrasse war zu klein für die schiere Menge an behandelten Patientinnen und Patienten. Die Poliklinik an der Herman-Greulich-Strasse 70 wurde zu einer der führenden Anlaufstellen für Patient*innen mit sexuell übertragbaren Krankheiten. 1995 wurde die Klinik dem Stadtspital Triemli angegliedert. 2023 zog die Poliklinik erneut um und befindet sich heute an der Europa Allee. Die Stadt Zürich stellt das Gebäude an der Herman-Greulich-Strasse 70 bis zum Start der Sanierungsarbeiten als Zwischennutzung zur Verfügung. Zweck ist explizit ausformuliert die Unterstützung von gesundheitsfördernden Projekten, deren Zugang niederschwellig gestaltet sein soll.
Abb 2: Zwischennutzung bis zur Renovation, 2024. Anderer Rolladen, Parolen auf der Fassade aber wohl die selben Bäume.
Ein utopischer Baustil
Die Poliklinik an der Herman Greulich Strasse 70 ist im Baustil des „Neuen Bauens“ zu verorten. Dieser fand Anfang der 1920er Jahre in der Nachkriegszeit kurzzeitig Aufschwung. Aufgrund des „industrialiserten“ Bauprozesses, der mit vorgefertigten Teilen und standardisierten Prototypen arbeitetete, kam vor allem von Bürgerlicher Seite her der Vorwurf, dass von aussen alles gleich aussehe. Der Baustil lasse keinen Raum für Individualismus und sei „Kommunistenzüchterei“. Tatsächlich bestand eine enge Assoziation zwischen dem Verwirklichen von utopischen Gesellschaftsentwürfen und sozialpolitischen Anliegen und Architektur und wurde deshalb der politischen Linke zugeschrieben.
Syphilis aus damaliger Sicht
Das Krankheitskonzept war damals ein völlig anderes als heute. Fehlverhalten, insbesondere Unzucht, galt als generelle Ursache für jegliche Krankheiten. Die damals eingesetzten Quecksilberpräparate waren mit Arsenderivaten versetzt. Sie zeigten nur eine minimale Wirkung und waren gefährlich. Einfluss nehmen auf die Krankheit konnte man wenig bis gar nicht.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Erkenntnis, dass Krankheiten durch Bakterien, Pilze oder Viren ausgelöst werden können. 1906 wurde Syphilis erstmals als eigenständige Krankheit beschrieben, die durch Treponema palllidum ausgelöst wird.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war Quecksilber im Einsatz. Dämpfe, Salben und orale Präparate zeigten nur eine minimale Wirkung und waren gefährlich. Quecksilbervergiftungen selbst führten zu Mundschleimhautentzündungen, Zahnausfall, Haarausfall und tödlichen Organschäden. Alternativ wurden pflanzliche Sude eingesetzt, die aber völlig wirkungslos waren. Zusätzlich zu Quecksilber wurden Arsenderivate eingesetzt, besonders bekannt ist Salvarsan, das Präparat 606. Neosalvarsan enthält ausserdem Bismut, das effektiv eine antibiotische Wirkung zeigt. Besonders effizient war aber keine der zur Verfügung stehenden Therapeutika, man war der Krankheit ziemlich ausgeliefert und konnte wenig bis keinen Einfluss nehmen auf deren Verlauf und Prognose.
Und heute?
Die Enttabuisierung von Sexualität und das Konzept von safer sex trugen in Kombination mit Antibiotika erst wirklich zu einer Kontrolle der Krankheit bei. Es ist wichtig, dass patriarchale Strukturen innerhalb der Medizin erkannt, benannt und aufgelöst werden. Aufklärungsarbeit muss auf Augenhöhe geschehen und einen enttabuisierten Dialog über sexuell übertragbare Krankheiten zum Ziel haben. Anstatt marginalisiert soll inkludiert werden.
Penicilin wurde 1928 entdeckt und war in der Schweiz ab 1946 als Medikament erhältlich und in Verwendung. Bis heute lässt sich Syphilis gut mit Penicilin therapieren, es sind nahezu keine Resistenzen bekannt.
Tatsächlich nahm die Anzahl der Syphilis-Erkrankungen aber erst seit dem Aufkommen von HIV ab. Die Enttabuisierung von Sexualität und das Konzept von safer sex trugen in Kombination mit therapeutischen Möglichkeiten erst wirklich zu einer Kontrolle der Krankheit bei.
Seit der Verfügbarkeit von Antibiotika und dem öffentlichen Diskurs über geschützten Geschlechtsverkehr nahm die Zahl der Syphilis Neuerkrankungen konstant ab. Seit Anfang der 2000er Jahre werden aber wieder mehr Fälle dokumentiert. 2006 wurde in der Schweiz die Labormeldepflicht für Syphilis erneut eingeführt.
Weibliche Sexualität im 19. Jahrhundert
Die Erforschung der Sexualität galt um das 19. Jahrhundert herum als Aufgabe der Naturwissenschaft. Wissenschaftlich präsentierte Erkenntnisse dienten aber oft als Legitimation und Rationalisierung ethisch-moralischer Vorschriften. So wurde die weibliche Sexualität hauptsächlich im Vergleich, immer bezugnehmend auf die männliche, charakterisiert. Da „der Reiz der Gedanken einen Reiz in den Organen erzeugt“, fehlte letztendlich als bewusstes Kalkül nicht nur der Wille, sondern auch das Vokabular, das nötig gewesen wäre, um über Verhütung respektive über safer sex zu sprechen. Sexualität war tabuisiert. Der weiblichen Unschuld und Tugend wurde eine Unwissenheit in sexuellen Belangen vorausgesetzt. Aufklärung hätte also die gutbürgerliche Frau verdorben.1
Frauen sollten im allgemeinen kein Individualitätsgefühl entwickeln, da dieses sie daran hindern würde, voll und ganz in der Ehe aufzugehen. Die ideale Frau war keusch, dem Mann willenlos untergeordnet und ohne sexuelle Bedürfnisse. Wissenschaftlich wurde postuliert, dass Frauen auf Grund ihrer Anatomie nicht in der Lage seien, „volle geschlechtliche Befriedigung“ zu erlangen. Der einzige Grund, wieso eine Frau Sex mit einem Mann wolle, sei das „Verlangen nach Nachkommenschaft und aus dem Wunsche, dem geliebten Mann Genuss zu bereiten.“ Weibliche Sexualität wurde also vollständig verleugnet, unterdrückt und teils pathologisiert. „[d]as Hervortreten des sexuellen Elements in der Liebe eines jungen Mädchens ist etwas pathologisches.“2
Während der Mann hingegen, „wenn es so ohne Schwierigkeiten und Folgen anginge, instinktiv dazu getrieben würde, sich mit möglichst vielen Frauen zu begatten und möglichst viele Kinder zu zeugen“.3
Es gab auch Stimmen, die die weibliche Sexualität anerkannten. Dies allerdings auch sehr wertend und nicht unabhängig von der männlichen. Forel pathologisierte beispielsweise „kalte Weiber, die zwar an Kindern Freude haben, welchen aber der Beischlaf ein Gereuel ist.“ Ob Frauen sexuelle Triebe hätten, stand zu Diskussion, dass sie einzig und allein die sexuellen Bedürfnisse ihres Ehemannes befriedigen sollten, war unantastbare Voraussetzung.4
Frauen also waren ständig der Gefahr des verdorben werdens ausgesetzt. Aussereheliche Konfrontation mit Sexualität führte bei Frauen zum Status „gefallenes Mädchen“, das Abrutschen in die Prostitution als logische Konsequenz.5
Für Männer hingegen sei eine langjährige sexuelle Abstinenz schädlich, Unverheirateten wurde das Aufsuchen von Prostituierten sogar aktiv empfohlen. Irgendwie geht diese Rechnung nicht ganz auf. Aussereheliche sexuelle Aktivitäten wurden je nach Geschlecht völlig gegensätzlich beurteilt.
1, 2, 3, 4, 5 Ulrich, Anita: Bordelle, Strassendirnen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Zürich, 1985.S. 63ff
Bürgerliche Doppelmoral
Ganz im Zeichen der bürgerlichen Doppelmoral war es nicht der Freier und sondern nur die Prostituierte, die kriminalisiert wurde. An Syphilis erkrankte Prostituierte stellten entsprechend eine besonders grosse Gefahr für die Gesellschaft dar, so der Konsens.
Ganz im Zeichen der bürgerlichen Doppelmoral galt aber nicht die Prostitution an und für sich sondern der Akt des sich selber Anwerbens als Erregen öffentlichen Ärgernisses und wurde entsprechend kriminalisiert. „Durch diese scharfsinnige Trennung fand eine patriarchalisch strukturierte Gesellschaft Mittel und Wege, nur die Frau als Paria [= Ausgestossene, angehörige niedrigster Klasse] zu behandeln und bestrafen“. 1
Prostitution fand in allen gesellschaftlichen Schichtens statt, für jedes männliche Budget wurden Angebote angepriesen. Kriminalisiert wurde allerdings vorwiegend die Strassenprostitution, die von Frauen mit ohnehin schon tiefem sozioökonomischem Status betrieben wurde.
Auf juristischer Ebene wurde im Falle einer Vergewaltigung unterschieden, ob es sich um eine „unbescholtene Frau“ oder eine Prostituierte handle. Im Verständnis des männlichen Gesetzgebers war es also in Ordnung, wenn männliche Aggressivität und Brutalität an Prostituierten ausgelebt wurde. Auch das Verbot beispielweise, Wohnungen an Prostituierte zu vermieten, trug zu einer Marginalisierung bei. Prostituierte wurden in Zürich systematisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ihnen wurde eine bürgerliche Existenz abgesprochen und sie hörten auf, Rechtspersonen zu sein.
1 Ulrich, Anita: Bordelle, Strassendirnen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Zürich, 1985. S. 48
Verfügen über anstatt Dialog mit
Zürichs schwammig formulierte Seuchenparagraphe überliessen den zuständigen Behörden viel Interpretationsspielraum für Zwangsuntersuchungen und Zwangsbehandlungen. Verhaftete Prostituierte konnten dem Stadtarzt zugewiesen werden und je nach Gutdünken wurde entweder eine stationäre oder eine ambulante Behandlung angeordnet.
Diese wurden wohl in der städtischen Poliklinik für Dermatologie und Venerologie, ab 1936 an der Herman-Greulich-Strasse 70, durchgeführt.
Hier also wurden medizinische Diskurse mit moralischen vermischt und für eine soziale Kontrolle instrumentalisiert.
Interessanterweise ist im historischen Rückblick der Dermatologie und Venerologie in der Schweiz, herausgegeben im Auftrag der schweizerischen Gesellschaft für Dermatologie und Venerologie, von all dem nichts zu lesen.
“Die Fürsorgestelle stellt zunächst die Personalien fest; alsdann kommt das Mädchen nach einem Reinigungsbad zur Untersuchung durch den Arzt. Die Untersuchung erstreckt sich nicht nur auf den Nachweis einer ev. Geschlechtskrankheit, sondern soll auch die übrigen Organe inkl. die Psyche der Explorandin betreffen. […] Überall aber, wo die Wasserman’sche Reaktion [auf Syphilis] positiv ausfällt, wird das Mädchen verpflichtet, in bestimmten Abständen eine Spritzkur (ambulant) durchzumachen und zwar unter Strafandrohung.”1
“Diese Behandlung ist eine Zwangsbehandlung. Mädchen, die sich nicht fügen, werden festgeschnallt. Ob sich ein Mädchen die Quecksilberschmierkur gefallen lassen will, oder nicht, wird nicht in Erwägung gezogen. Ob die Mädchen mit dem Glüheisen gebrannt, mit Messern geschnitten, mit Ätzmitteln bestreut, mit Quecksilber beschmiert werden sollen, oder ob sie die Schmerzen mit Bewusstsein zu ertragen haben, entscheiden nicht die Kranken, sondern die Ärzte.”2
1musée suisse: Wertes Fräulein, was kosten Sie?. Prostitution in Zürich 1875 – 1925, Baden, 2004. S. 169
2Ulrich, Anita: Bordelle, Strassendirnen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Zürich, 1985. S. 13
Abb 3: Eingang Herman-Greulich-Strasse 70 heute
Bildquellen
Abb 1: Wolf-Bender‘s Erben: Herman-Greulich-Strasse 70. Zürich 1936, Fotografie, Baugeschichtliches Archiv Zürich, Signatur: BAZ_052953. Online: https://baz.e-pics.ethz.ch/catalog/BAZ/r/44817/viewmode=infoview
Abb 2: eigene Aufnahme 2024
Abb 3: eigene Aufnahme 2024
Literatur
Ulrich, Anita: Bordelle, Strassendirnen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Zürich, 1985.
Frenk, Edgar: Dermatologie und Venerologie in der Schweiz. Ein historischer Rückblick, Neuchatel, 2004.
Puenzieux, Dominique. Ruckstuhl, Brigitte: Medizin, Moral und Sexualität. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhoe in Zürich 1870 bis 1920, Zürich, 1994.
musée suisse: Wertes Fräulein, was kosten Sie?. Prostitution in Zürich 1875 – 1925, Baden, 2004.
Moulagenmuseum der Universität Zürich und des Universitätsspitals Zürich: Fragen Syphilis, 2023, [https://www.moulagen.uzh.ch/de/archiv/Lange-Nacht-der-Museen/2019/Fragen-Syphilis.html#:~:text=Die%20Syphilis%20entsteht%20durch%20eine,K%C3%B6rper%20aus%20(Stadium%20II)], Stand: 28.4.2024.
kreis4unterwegs.ch: Herman Greulich Strasse. Rundgänge in Aussersihl und Hard, dem Zürcher Stadtkreis 4, [https://kreis4unterwegs.ch/stationen/hermann-greulich-strasse/], Stand: 28.4.2024.
Stadtspital Zürich Triemli: Wiederkehr der Syphilis, [https://www.stadt-zuerich.ch/triemli/de/index/kliniken_institute/dermatologie/patientinnen-und-patienten/venerologie/syphilis.html], Stand: 28.4.2024.
Dynamo Jugendkulturhaus Raumbörse: Ehemaliges dermatologisches Ambulatorium Herman Greulich Strasse, [https://www.raumboerse-zh.ch/raumboerse-projekte/ehemaliges-dermatologisches-ambulatorium-herman-greulich-strasse], Stand: 28.4.2024.
Via Medici Thieme: Syphilis. 20.12.2023, [https://viamedici.thieme.de/lernmodul/8668595/4958720/syphilis#nac9438f2e5738027], Stand: 28.4.2024.
Bondolfi, Sibilla. Unterfingen, Ester: Leben und Altern. Als minimalistische Häuser in der Schweiz als «sowjetisch» galten, 3.Juli 2020 (swissinfo.ch). Als minimalistische Häuser in der Schweiz als „sowjetisch“ galten – SWI swissinfo.ch. Stand: 29.4.2024.