Category Archives: Nichts

Soundclash inna Europe – „wa a gwaan?“

Bachelorarbeit von Samuel Kunz

Die Arbeit untersucht die europäische Soundsystem-Kultur am Beispiel des 1-2-3 Badda Dan Clashes in Biel/Bienne. Sie zeigt in einem ersten Teil auf, wie auf der kleinen Karibikinsel Jamaika eine eigenständige Kultur entstehen konnte, welche als Dancehall-Kontinuum unabhängig von ihrem Herkunftsort weiterexistieren und auch grosse zeitliche Räume überwinden kann. Genährt wird dieses Dancehall-Kontinuum durch mehrere Faktoren: Einer spezifischen Performanz, welche mit jamaikanisch Patwa auch eine sprachliche Komponente beeinhaltet; Einer eng vernetzten und sich global aufeinander beziehenden Szene; sowie mit individualisierten, nur einmal so existierenden Songversionen, den Dubplates. Diese sind ein für die Praxis und in der Bedeutungszuschreibung zentraler Gegenstand dieser Soundsystem-Kultur. Botschafter und Verbreiter des Dancehall-Kontinuums in Europa sind in der ersten Zeit vor allem stark mediatisierte Musikstars und die Schallplattenindustrie, später vor allem lokal wirkende Schlüsselpersonen. In einem zweiten Zeitraum beschäftigt sich die Arbeit mit drei solchen Schlüsselpersonen, alle mit einem direkten Bezug zum 1- 2-3 Badda Dan Clash und zeigt auf, wie sich diese durch ihre Aktivitäten das Dancehall- Kontinuum auch hierzulande vital halten und erneuern.

Anthony B – World A Reggae. Special Version (Dubplate) für Little Lion Sound.
1-2-3 Badda Dan Soundclash 2018
1-2-3 Badda Dan Soundclash 2018
Veranstaltungsplakat des 1-2-3 Badda Dan Soundclash 2019

Video-Teaser | Visual Anthroplogy | Dringlichkeit

Oder: Ein Methodenvorschlag für die Kulturwissenschaft

Bachelorarbeit von Arthur Sobrinho

Empirische Kulturwissenschaft, wie ich sie kenne, steht in regem Austausch mit dem Alltäglichen, dem Populären, dem Gelesenen, sowie dem Gesprochenen, dem Gelebten, dem Erlebten. Die Geisteswissenschaften, so scheint es mir, sind stets etwas träge in der Aufbereitung aktueller und relevanter Themen. Obschon der Begriff Relevanz in geisteswissenschaftlichen Publikationen eine zentrale Rolle spielt, nimmt Kulturwissenschaft eine etwas andere Perspektive ein, sie hat einen expliziten Gegenwartsbezug.

«Culture is lived experience: the texts, practices and meanings of all people as they conduct their lives»[1]

Dabei entstehen Texte mit und in verschiedenen Lebenswelten. Diese nischigen Blickwinkel laden charismatisch zum Perspektivenwechsel ein. Viele dieser Texte schaffen es aber nicht aus akademischen Dunstkreisen hinaus, obwohl sie leserlich und ansprechend wären. Ich behaupte, dass kulturwissenschaftliche Texte an Lebenswelten vorbei schreiben – nicht inhaltlich, sondern formal. Ich wende Intertextualität nicht nur auf das geschriebene Wort an, sondern auch auf Bilder, Bewegtbilder, Gesprochenes, Gelebtes. Meine Bachelorarbeit soll ein Angebot zur intermedialen Erweiterung kulturwissenschaftlicher Methoden sein. 

Mein ursprüngliches Forschungsinteresse galt der Frage, wie sich Kulturwissenschaft aus einer kommentierenden Rolle heraus, eher zu einer mitgestaltenden Rolle hin entwickeln könnte. Während eines Jahres entwickelte ich unter dem Arbeitstitel «Stigma» eine Eventserie, die experimentell und erörternd in den Diskurs eingreifen sollte. 40 Kompliz*innen aus Kunst und Forschung sollten einbezogen werden, um kollaborativ und interdependent produktive Perspektiven zu erarbeiten. Im Laufe des Prozesses wurde mir jedoch klar, dass ein solches Projekt den Rahmen einer Bachelorarbeit sprengen würde.

Es wurden einige Anpassungen vorgenommen, um das Konzept zu schärfen. Die vierwöchige Veranstaltungsreihe wurde zunächst auf eine Woche gekürzt, um dann vom multimedialen Ansatz wegzukommen und sich auf ein einziges Medium zu konzentrieren – das Video. Dabei folgte die Forschungsfrage: 

Inwiefern kann der Video-Teaser als kulturwissenschaftliche Recherchemethode die aktive Teilnahme der Populären Kulturen am öffentlichen Diskurs mitgestalten?

Der Video-Teaser entstand im Prozess zu Überlegungen dieses Methodenvorschlags. Er soll den Prozess, der rund um Fragen von Stigmatisierungen, kulturwissenschaftlichen Methoden und Relevanz kreiste, reflektieren.

Ich möchte hier meine Auseinandersetzung mit dem Begriff Relevanz vertiefen, denn er scheint für meine Forschung hinderlich. Der Begriff der Dringlichkeit scheint mir weitaus produktiver, sollte doch nicht nur Relevantes Gegenstand der Forschung sein – das sich oft genug mit Trends verschränkt. Ich finde es weitaus interessanter, bestehende Tendenzen und Problematiken in den Fokus zu nehmen; also Dringliches.

Relevanz und Dringlichkeit überschneiden sich in vielem. Nur stellt sich bei der Relevanz die Frage, für wen die jeweilige Forschung relevant ist. Hier unterläuft die Forderung nach Relevanz Gefahr, nach extrinsischen Motivatoren zu funktionieren. Dringlichkeit bietet eine weniger trendorientierte und kanonisierte Perspektive. Dringliches ist allgegenwärtig, meist unerschöpflich und alltäglich. Es sind die materiellen Bedingungen, wie sie mir bei meinen Recherchen zu Sexarbeit und Uber Services begegnet sind. Es sind aber auch die symbolischen Bedingungen, mit denen diese und weitere Felder behaftet sind. Dringlichkeit steht hinter jeder sozioökonomischen Darstellung, ist mit jedem hegemonialen Social-Media-Post verknüpft und formiert sich in jedem monolithischen Gremium.


[1] Barker, Chris: Cultural Studies. Theory and Practice, London etc. 2000, S.40f. zitiert nach: Lindner, Rolf: Konjunktur und Krise des Kulturkonzepts. In: Musner, Lutz/Gotthardt Wunberg (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Forschung. Praxis. Positionen. Freiburg (2003), S.75-95, hier: 79. In: Musner, Lutz/Gotthardt Wunberg (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Forschung. Praxis. Positionen. Freiburg: N.N., S. 75-95.

Immersive Akzentuierungen in einer postapokalyptischen Welt

Bachelorarbeit von Luca Gabathuler

Meine Bachelorarbeit beschäftigt sich mit dem strukturellen Aufbau von immersionserzeugenden Elementen im populären Videospiel «Horizon Zero Dawn». Bei Immersion handelt es sich um das Gefühl des geistigen Eintauchens in eine bestimmte Aktivität. Wir erleben diesen Zustand häufig bei der Ausführung unserer Hobbys, wo wir uns so stark in sie vertiefen, dass wir alles rund um uns herum ausblenden. Videospiele sind in dieser Hinsicht besonders effektiv. Sie lassen Spielerinnen und Spieler in eine fiktive Welt eintauchen, in welcher sie selbst Teil der erzählten Geschichte werden.

«Horizon Zero Dawn» wurde deshalb als Fallbeispiel ausgewählt, weil es sowohl von Nutzerinnen und Nutzern als auch bei professionellen Kritikern äusserst positive Rückmeldungen erhielt. Im Laufe dieser Bachelorarbeit wurde das Spiel auf seine unterschiedlichen immersiven Dimensionen analysiert. Hierzu zählen beispielsweise die Erzählweise der Handlung, die Ästhetik der Spielwelt oder die Handlungsmöglichkeiten des Spielenden. Anschliessend wurden die daraus resultierenden Erkenntnisse unter Einbezug von relevanten Konzepten zu Immersion aus der Fachliteratur ergänzt und diskutiert.

Die daraus abgeleiteten Ergebnisse lassen auf eine dynamische Wechselwirkung unterschiedlicher Immersionsquellen schliessen, wodurch diese sich gegenseitig verstärken und je nach Spielsituation akzentuieren. Das bedeutet, dass je nach Situation, in der sich die spielende Person befindet, eine andere immersive Dimension ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Als Folge davon wird eine realitätsnahe Illusion von Wirklichkeit simuliert, in welche Spielerinnen und Spieler auf der Suche nach einer erfüllenden Erfahrung eintauchen können. Dadurch bestätigt sich die Annahme, wonach ein immersives Erlebnis gezielt konstruiert werden kann.

Das Menschliche im künstlichen Menschen

Untersuchung der philosophisch-literarischen Abhandlung humaner Züge von Klonen, Maschinenmenschen und Monstern anhand dreier Werke


Julia Weller

„Künstliches Leben“. Zwei Begriffe, die im Zusammenspiel für ein uraltes und gleichzeitig nur allzu aktuelles Bestreben der Menschheit stehen: das Bedürfnis des Menschen, tote Materie eigenhändig zu beleben. Diese Thematik ist beliebtes Material populärkultureller Medien. Es wirkt in Werken mit dem Thema des künstlichen Menschen dabei besonders anziehend, wenn der technische Fortschritt ausser Kontrolle gerät und der Plot im dystopischen Setting spielt. Die Omnipräsenz der Darstellung einer dystopischen Welt, in der künstliche Menschen unberechenbar und i.d.R. gefährlich erscheinen, prägt folglich unsere Wahrnehmung der Thematik. Die Frage „Sind wir menschlich?“ ist daher eine Grundsatzfrage in Werken der Film- und Literaturgeschichte, die sich mit dem Thema des künstlichen Menschen beschäftigen.

Unter welchen Voraussetzungen verschwimmt aber die Grenzlinie zwischen natürlichem und künstlichem Menschen? Können künstliche Menschen nicht auch menschliche Züge aufweisen? Ab wann hätten künstliche Menschen am Ende gar eigene Rechte? Basierend auf solchen Fragen werden in meiner Bachelorarbeit ein Film und zwei literarische Werke der Science-Fiction präsentiert und auf ihre Darstellung von künstlichen Menschen und dem Begriff der Menschlichkeit untersucht. Die Arbeit beginnt mit einer Analyse der Monsters aus Mary Shelleys Frankenstein (1831). Daraufhin folgt eine Untersuchung der Figur des Klons anhand der Geschichte „An Orison of Sonmi~451“ aus David Mitchells Roman Cloud Atlas (2004). Zuletzt behandelt die Arbeit den Maschinenmenschen Ava aus dem Film Ex Machina (2015).

In Frankenstein wird die Geschichte eines fühlenden Geschöpfes geschildert, das von seinem Erschaffer und der Menschheit wegen seines schrecklichen Äusseren von jeglicher sozialen Gesellschaft ausgeschlossen wird. Die Geschichte des Klons Sonmi~451 zeigt in einem kapitalistischen Setting, dass eine „Klonrasse“, die eigentlich denken und fühlen könnte, medikamentös betäubt und zur Arbeit versklavt wird. In Alex Garlands Film Ex Machina wird illustriert, wie Ava, ein Maschinenmensch mit exzellenter künstlichen Intelligenz, Menschen manipulieren, der Gefangenschaft im Labor entkommen und durch perfekte Imitation praktisch mit dem natürlichen Menschen verschwimmen kann.

Die Werke behandeln vor allem Themen der (emotionalen) Autonomie, der Auffassung des nicht-Menschlichen durch Menschen, die Emanzipation und Transzendenz durch Wissen sowie die Frage danach, ob der künstliche Mensch dem Menschen schlussendlich überlegen sein wird. Vor allem das aufkommende Zeitalter des Transhumanismus (Verschmelzung von Mensch und Maschine) evoziert Fragen danach, wie mit einem neuen, von uns erschaffenen Geschöpf umgegangen werden wird.

Jedoch ist die Frage nach Bewusstsein und Gefühl mit Problemen verbunden: Bei künstlichen Menschen wie Ava bspw. sind solche Beurteilungen schwieriger. Sie kann zwar Gefühle ausdrücken, ihre Denkstrukturen sind aber, anders als die von Frankensteins Monster und Sonmi~451, nicht natürlich, sondern entkörpert und wahrscheinlich hauptsächlich berechnend. Es liegt schlussendlich an uns als Erschaffer*innen, das Kreieren künstlicher Wesen mit Bedacht abzuwägen, sodass Ausnutzung, sozialer Ausschluss oder auch Missverständnisse in der Interaktion mit fühlenden nicht-Menschen ausgeschlossen werden können.


Quellenmaterial

Garland, Alex, 2015: Ex Machina. Grossbritannien: Universal Pictures International.

Mitchell, David, 2004: Cloud Atlas. In Hodder & Stoughton Ltd. (Hg.), 2019. London: Hachette Essentials.

Shelley, Mary, 1831: Frankenstein; or, The Modern Prometheus. In M. K. Joseph (Hg.), 2008. Oxford: Oxford World’s Classics.

Der Raum und das Ich – Das Zusammenspiel von Raumproduktion und Subjektkonstituierung am Beispiel schwuler Räume in Zürich.

Nicola Caduff

Das Lied Smalltown Boy kann als schwuler Klassiker bezeichnet werden. Es handelt von einem jungen Mann, der sein Zuhause in einer Kleinstadt (small town) aufgibt, um Antworten, Anerkennung und Liebe anderswo, vermutlich in einer Grossstadt, zu finden. Obwohl im Liedtext nicht explizit erwähnt, offenbaren der Videoclip zum Lied und die persönliche Geschichte des Leadsängers von Bronski Beat, Jimmy Somerville, dass Smalltown Boy von der Flucht (run away, turn away) eines jungen schwulen Mannes aus der Kleinstadt oder aus dem Dorf in die Grossstadt handelt. Die Antworten und die Liebe, die der junge Mann sucht, müssen woanders als zuhause gefunden werden. Es geht um die Flucht vor Gewalt und die Suche nach einem Raum, der Selbstfindung und Anerkennung ermöglicht. Dieser Suche versuchte ich mich in meiner Bachelorarbeit aus einer empirisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive anzunähern. Die Geschichte des Smalltown Boy wurde in den 1980er Jahren geschrieben. Heute ist die Flucht von zuhause und die Suche nach einem Resonanzraum in eine andere Zeit und somit auch in andere Räume eingebettet. In der Fluchtbewegung und der bewussten Suche nach einem Raum, der Liebe und Antworten verspricht, wird das Zusammenspiel zwischen Raum und Subjekt sicht- und erkennbar. Die Suche nach dem Raum gestaltet sich zu einer Suche nach dem Selbst oder umgekehrt. In meiner Bachelorarbeit ging ich der Frage nach, wie schwule Räume produziert werden, was ihre Funktion ist und wer sie produziert. Schwule Räume als soziale Räume interagieren dabei immer mit Subjekten. Sie produzieren Subjektivität und sie werden von Subjekten produziert.

In meiner Arbeit habe ich die Raum- und Subjektproduktion anhand qualitativer Gespräche untersucht. Hier in diesem Blog versuche ich, die verschiedenen Blickwinkel und wichtigsten Punkte kurz und bündig zusammenzufassen und mit (Pop-)Kultur zu untermalen.

Gute Lektüre.


Raumproduktion durch Kompetenz und Performanz

Parodie des schwulen TikTokers StanChris. Verschiedene Gangarten verschiedener schwuler Männer. Kompetenz ist gefragt, um die Performanz im Video zu verstehen.

Die Besucher*innen machen die Räume.

Räume werden durch die Art und Weise, wie bestimmte Räume von ihren Besucher*innen performativ beschritten werden, codiert und so (re)produziert. Die Performanzen und Codes werden in den Räumen erlernt und verhandelt.

Bei schwulen Räumen gibt es einen starken Dualismus zwischen Drinnen und Draussen, Sicherheit und Gefahr, Verstecken und Zeigen, Authentizität und Maske. Das heisst, die Performanzen ändern sich mit dem Verlassen des öffentlichen Raums und dem Betreten des subkulturellen Raums.

Performanzen sind oft geprägt duch das Kennenlernen, den Flirt und die Sexualität als Performanz (körperliche Nähe, gegenseitiges Auschecken), auf die in vielen Situationen auch die Physis des Raums ausgerichtet ist.


Raumproduktion durch bewusste Raumplanung

Das Londoner Label „Queer House Party“ entstand während des Lockdowns 2020. Mit dem Verschwinden des Nachtlebens wurde die Welt heterosexueller. Die Raumplaner*innen waren gefragt. Durch eine Streaming Party wurde ein digitaler queerer Raum hergestellt.

Planung und Produktion des Raumes der Raumplaner*innen und Technokrat*innen. Es geht um die bewusste Konzeption des Raums.

Bestehende Netzwerke (Organisationen, Subkultur, Freundeskreise) als Raumplanungsbüros oder Vorräume.

Welche Räume entstehen, ist immer von aktuellen Diskursen anhängig. So entstehen neben ‚klassischen‘ schwulen Räumen auch immer mehr andere queere Räume.


Imaginierter Raum

Szene an der Hot Club Zürich. Gemälde von Murat Önen, Zürich, 2016. Das Gemälde wurde an einer queeren Technoparty von der Bühne aus gemalt.

Raum, wie er von Imaginationen und Symbolen durchdrungen wird.

Das Verstecken ist als Imagination in schwulen Räumen noch immer wirkmächtig.

Schwule Räume als Erweiterung des Zuhauses.

Gemeinsames und potenziell gegenseitiges Begehren als Quelle von Imaginationen: potenzielle Partner, sexuelle Abenteuer, Zukünfte, Geborgenheit, Erweiterung des Zuhauses


Raum, der gesellschaftlich zugewiesen wird

Gay-Walk-Meme auf Pinterest. Die Botschaft: Queere Menschen durchschreiten den feindlichen öffentlichen Raum mit doppelter Geschwindigkeit. Bloss raus hier.

Raum gesehen in heterosexistischen Machtverhältnissen: der Raum ist sexuell organisiert und der öffentliche, allgemeine Raum ist heterosexuell. Deviante Sexualitäten müssen sich eigene Räume und Nischen schaffen.

Die bewusste Raumproduktion wirkt sich dadurch ungleich stärker auf Subjektivierungsprozesse aus, als wenn der Raum schon gegeben ist. Das heisst, wenn ich einen Raum erschaffen muss, um ein bestimmtes Begehren oder eine bestimmte Sexualität leben zu dürfen, produziert dieser Prozess mein Ich mit.

Ein deviantes Begehren wird noch immer sanktioniert (Diskriminierung, Gewalt, Ignoranz). Dadurch haben subkulturelle Räume noch immer eine wichtige Funktion als Schutzräume.


Wohnen in einer Genossenschaftssiedlung «am Ende ihres Lebenszyklus»

Eine subjektorientierte Annäherung

Bachelorarbeit von Jan Kohler

Die vorliegende Arbeit widmet sich einer 1930 erbauten Genossenschaftssiedlung in der Stadt Zürich und fragt aus subjektorientierter Perspektive nach der Wohnqualität ihrer Bewohner*innen. Die im Kreis 4 gelegene Blockrandsiedlung aus der Zwischenkriegszeit mit ihrem grosszügigen Innenhof soll schon seit Jahren einem verdichteten Ersatzneubau weichen. Die Abbruchpläne werden von der Bauträgerschaft unter anderem damit begründet, dass die Siedlung nicht mehr den aktuellen Wohnbedürfnissen entspreche, eine Totalsanierung sehr teuer sei und einige der bestehenden Probleme damit nicht behoben werden könnten. Die Arbeit zeichnet den Diskurs zwischen den Befürworter*innen und Gegner*innen des Abrisses nach und versucht die Siedlung in ihrem historischen, städtebaulichen, bautypologischen und soziodemografischen Kontext zu verorten. Um die Lebenswelten, den Wohnalltag und die Meinungen der Bewohner*innen zu erschliessen, wurde methodisch mit qualitativen Interviews und schriftlich und fotografisch dokumentierter Feldforschung gearbeitet.

Luftaufnahme des Dreierensembles entlang der Seebahnlinie aus dem Jahr 1930. Vor der ABZ Kanzlei steht 
heute das 1966 fertiggestellte Lochergut (Stadtzürcher Heimatschutz 2012, 16–17/Baugeschichtliches Archiv Zürich).
Luftaufnahme des Dreierensembles ABZ Kanzlei, BEP Seebahn und Erismannhof entlang der Seebahnlinie um 1930 (Stadtzürcher Heimatschutz 2012, 16–17 / Baugeschichtliches Archiv Zürich)

Die Auswertung der Interviews zeigt, dass die Befragten trotz kleinteiliger Raumstrukturen, veraltetem Ausbaustandard und Hellhörigkeit ihre Wohnqualität positiv beurteilen und sich in der Siedlung wohl fühlen. Entscheidend sind für ihr Wohlbefinden nicht die «quantitativen» Faktoren, welche im Wohndiskurs von Verfechter*innen einer Tabula-rasa-Praxis üblicherweise ins Feld geführt werden, sondern die räumlichen und atmosphärischen Qualitäten, welche diese in die Jahre gekommene Siedlung ihren Bewohner*innen zu bieten hat. Das räumliche Erleben der Bewohner*innen wird mit dem Begriff der «Atmosphäre» konzeptualisiert. Dabei wird kritisch gefragt, ob die vorzufindenden Wohnpräferenzen milieuspezifisch sind und deshalb nicht auf breitere Bevölkerungsschichten übertragen werden können.

Neben den räumlichen werden auch die sozialen Qualitäten der Siedlung erforscht. Nicht zuletzt wird die Siedlung von den Interviewten wegen ihrer sozialen Netzwerke geschätzt, die sich auch unter den Bedingungen des eigentlich bevorstehenden, aber immer wieder herausgeschobenen Abbruchs herausbilden und aufrechterhalten werden können. Im Hinblick auf das soziale Leben in der Siedlung werden zudem Dynamiken der Grenzziehung gegen innen und aussen herausgearbeitet. Abgrenzungen gegen aussen zielen insbesondere auf eine Gruppe von Jugendlichen, die den Hof in ihrer Freizeit nutzt und von welchen sich einige Mieter*innen gestört fühlen. Innerhalb der Siedlungsgemeinschaft ist die Rede von einem «inneren Kreis» von Leuten, die aktiv am Genossenschafts- und Siedlungsleben teilnehmen. Dieser Gruppe der «Engagierten» werden diejenigen Bewohner*innen gegenübergestellt, die sich nicht oder nur selten am gemeinschaftlichen Leben beteiligen. Bei der Analyse sozialer Strukturen und Prozesse geht es stets auch um die Frage, welche Rolle dabei der Architektur und den von ihr geschaffenen räumlichen Settings zukommt und in welchen Wechselwirkungen das Soziale zur gebauten Umwelt steht.

Die Forschung zeigt, dass der Innenhof wesentlich zur Herausbildung von Gemeinschaft beiträgt. Alle interviewten Bewohner*innen bringen ihm eine hohe Wertschätzung entgegen und sehen ihn als wesentlichen Faktor für die Lebensqualität vor Ort. Der Innenhof erfährt vonseiten der Bewohner*innen eine Reihe symbolischer Zuschreibungen, etwa als «Naturraum», welcher ihnen ein Gefühl des «Aufgehobenseins» verleiht. Als Raum sinnlicher und unverfälschter Erfahrung ist er nicht nur für Kinder eine «Spielwiese», sondern gilt auch den Erwachsenen als Ort der Freiheit, kreativen Gestaltung und Selbstverwirklichung.

Die Arbeit kommt zum Schluss, dass sich die interviewten Bewohner*innen in der Siedlung grundsätzlich sehr wohl fühlen und den Abrissplänen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Ihre Positionierungen machen deutlich, dass Wohnqualität keine quantifizierbare Grösse ist. Der hier beschrittene qualitative Zugang zu Feld und Akteur*innen bietet wertvolle Einblicke in das räumliche Erleben von Bewohner*innen, die unsinnigerweise von den Diskussionen um das Wohnen oft ausgeschlossen werden. Als eigentliche Expert*innen ihres Wohnalltags hätten die Bewohner*innen viel zur Wohnbaudebatte beizutragen.

Quellen

Stadtzürcher Heimatschutz (Hg.): Seebahnstrasse Zürich Aussersihl. Genossenschaftssiedlungen der ABZ und BEP. Neujahrsblatt 2013 des Zürcher Heimatschutzes. Zürich: Zürcher Heimatschutz, 2012.

Die Kleine Hexe

Wie Otfried Preusslers Kleine Hexe als Ausgangspunkt eines positiv konnotierten Hexenbildes in der Kinder- & Jugendliteratur gelten kann

Florence Wittwer

Das Wort Hexe stammt vom althochdeutschen Begriff Hagazussa und bedeutet ein auf Hecken oder Zäunen sitzender, lauernder Geist. Nach Hildegard Gerlach ist damit ein Dämon gemeint, der aus dem dämonischen in den menschlichen Bereich einzudringen versuchte, indem er über den trennenden Zaun vom Wirkungsbereich der bösen Geister in Haus und Hof zu klettern versuchte. Marco Frenschkowski konstatiert, dass sich der Terminus Hexereye anfänglich in einem Prozesskontext eines Verfahrens gegen einen Mann im schweizerischen Luzern im Jahr 1419 findet. Der Begriff Hexe breitete sich im 15. Jahrhundert allmählich aus, setzte sich aber erst im 16. Jahrhundert im Zuge der verstärkten Hexenverfolgungen endgültig durch.

Das Bild einer bösen, übeltätigen Hexe existiert bereits seit der Antike. Sie galt als wilde Figur, die zauberte, den Toten nahe stand und der Giftmischerin sehr ähnlich war. Zur Zeit des Mittelalters wurde die Hexe als Schadenszauberin, Teufelsbraut und Ketzerin und somit als negative Figur betrachtet. Auch in der frühen Neuzeit war das Hexenbild mit den eindeutigen Merkmalen: Treffen mit dem Teufel, Hexenflug auf Stöcken, Pakt und Buhlschaft mit dem Teufel sowie Schadenszauber ebenfalls negativ konnotiert. Das Hexenbild der Antike bis zur frühen Neuzeit, insbesondere zur Zeit der Hexenverfolgungen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, war folglich weithin negativ besetzt.

In meiner Bachelorarbeit befasste ich mich mit dem Wandel des Hexenbildes in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Dabei stand die Analyse der Figur der Hexe im Buch Die kleine Hexe von Otfried Preussler sowie im gleichnamigen Film von Michael Schaerer im Zentrum. Ich orientierte mich an den Fragen, inwieweit die Figur der kleinen Hexe im Buch und im Film charakterisiert wird und ob Preusslers Buch als Ausgangspunkt eines positiv konnotierten Hexenbildes in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur gelten kann. Dazu dienten zwei einführende Kapitel zu Beginn der Arbeit, welche sich mit der Historizität des Hexenbildes sowie dem Wandel des Hexenbildes in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur befassten, sowie der Hauptteil, der aus einer Literatur- sowie einer Filmanalyse besteht. Die Analyse wurde anhand der drei Kategorien Merkmale und Charaktereigenschaften, Aussehen sowie Verhalten und Interaktion durchgeführt.

koloriertes Bild der kleinen Hexe aus dem Buch von Otfried Preussler.

Die Figur der Hexe spielte insbesondere in den deutschsprachigen Märchen eine bedeutende Rolle. Das vorherrschende Bild der Märchenhexe war eine alte hässliche Frau, die aus Bosheit, Hass und Neid handelte. Sowohl Lutz Röhrich als auch Gerlach charakterisierten sie als negatives Frauenstereotyp. Das Bild der Hexe erfuhr in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur jedoch einen eindeutigen Wandel. In den 1950er Jahren fand im Zuge der Pädagogisierungsdebatte ein Umdenken statt, welches dazu führte, dass das Böse aus den Kinder- und Jugendbüchern verbannt wurde. Als Ausgangspunkt einer gutmütigen, sanften, charakterstarken und entwicklungsfähigen Hexenfigur kann Otfried Preusslers Kleine Hexe gelten. Tanja Lindauer spricht dabei gar von der Geburtsstunde der guten Hexe in Deutschland. Ab da wurde die Figur der Hexe in Kinder- und Jugendbüchern nicht mehr a priori negativ konnotiert und als beliebte, liebenswürdige Identifikationsfigur dargestellt.

Die Analyse der Figur der Hexe im Buch und im Film zeigte, dass die kleine Hexe im Gegensatz zu den grossen Hexen sowohl auf der Text- wie auch auf der Bildebene als vielschichtige Figur mit positiven Charaktereigenschaften dargestellt wird. Äusserlich entspricht die kleine Hexe mit ihrer farbenfrohen Kleidung und dem freundlichen Gesicht nicht dem Aussehen der grossen Hexen und somit dem stereotypen Bild einer bösen Hexe. Ihr zuvorkommendes und hilfsbereites Handeln zeigt ihre Gutmütigkeit und ihr Unverständnis für Ungerechtigkeit und Gemeinheiten. Sowohl im Buch als auch im Film erscheint die kleine Hexe als entwicklungsfähige Figur, die mit verschiedensten Gefühlen und Charakteristika, ihrem Aussehen und ihrem Handeln nicht mehr einem negativ konnotierten Bild einer bösen, übeltätigen Hexe entspricht, wie es im Märchen üblich war.

Quellen

Bild:

Abb.: Otfried Preussler: Die kleine Hexe. URL: https://www.preussler.de/media/kleine-hexe.png (Abrufdatum: 13.06.2023).

Literatur:

Frenschkowski, Marco: Die Hexen. Eine kulturgeschichtliche Analyse. 2. Aufl. Wiesbaden: Marixverlag, 2016 (2012).  

Gerlach, Hildegard: Mitten in einem Walde wohnte eine alte schlimme Hexe. Kulturgeschichtliche Anmerkungen zur Gestalt der Märchenhexe. In: Märchenspiegel 5/2 (1994), 13–14.

Lindauer, Tanja: But I thought that all witches were wicked. Hexen und Zauberer in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur in England und Deutschland. Diss. Bonn/Marburg: Tectum Verlag, 2012 (2011).

Röhrich, Lutz: «und weil sie nicht gestorben sind». Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2002.

Talsperren auf Ansichtskarten – gigantische Kunstwerke der Alpenlandschaft. 

Vom Kraftwerk zum Monument

Bachelorarbeit von Denise Locher

Grande Dixence Staumauer, VS

Vor rund zwanzig Jahren habe ich angefangen Ansichtskarten zu sammeln. Mittlerweile besitze ich mehrere hundert davon. Auslöser war eine Publikation des britischen Fotografen Martin Parr, mit dem Titel Boring Postcards USA. In diesem Bildband präsentierte der Fotograf einen Teil seiner Sammlung – die langweiligen Postkarten. Anders als gewohnt, waren auf diesen Ansichtskarten Autobahnausfahrten, Speisesäle, Hotelzimmer, Parkplätze, Tankstellen usw. abgebildet. Unattraktive Ansichtskarten hatten mein Interesse geweckt, und ich begann meine eigene Sammlung von «Boring Postcards» anzulegen.

v.l.n.r.: Gries-Stausee mit Mauerkrone, Nufenen-Pass mit Gries-Staumauer, Grande Dixence, VS

Ansichtskarten und Fotografie

Die Fotografie und die Ansichtskarte haben die Bildwahrnehmung und -verbreitung seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert entscheidend beeinflusst. Aufgrund der Massenproduktion sind die auf Postkarten gezeigten fotografischen Ansichten nicht Träger eines individuellen Geschmacks, sondern stellen jeweils weitverbreitete Stereotypen dar. Im Kontext der Schweizer Alpenlandschaft mit ihren Ansichtskartenmotiven wie beispielsweise Bergpanoramen, verschneiten Gipfeln und Sesselbahnen, löste bei mir jedoch das wiederholte Auftauchen von Talsperren trotz meines Sammelfokus Unverständnis aus. In meiner Arbeit habe ich daher das Ansichtskartenmotiv der Talsperre, insbesondere die Staumauer, näher untersucht, und bin der Frage nachgegangen, ob Staumauern durch die Abbildung auf Ansichtskarten, nicht mehr als Teil eines Kraftwerks, sondern als gigantisches Kunstwerk und Monument der technischen-elektrischen Kultur in der Alpenlandschaft wahrgenommen werden.

v.l.n.r.: Trutmannsee mit Staumauer, VS und Grimsel-Oberaar Stausee mit Mauer, BE

Untersuchung

Um nachvollziehen zu können, warum Talsperren überhaupt als Motiv auf Ansichtskarten abgebildet werden, habe ich mich mit ihrer Bedeutung im Kontext der Elektrifizierung der Schweiz durch Wasserkraft beschäftigt. Bezüglich der Wahrnehmung von Staumauern als Kunstwerk habe ich unterschiedliche Darstellungen der Talsperren auf Ansichtskarten untersucht. Dafür war im Vorfeld die Bildung von Typologien sowie das Aufzeigen ihrer wesentlichen Merkmale nötig.

Die vier Typen – Ausflugsort, Erhaben, Inszeniert und Technik

v.l.n.r.: Staumauer vom Lac d’Emosson, Grande Dixence, VS, zweimal die Verzasca Staumauer, TI

Die Untersuchung der in der Arbeit behandelten Talsperren-Typen hat gezeigt, dass sich bestimmte Aufnahmeperspektiven für die Wahrnehmung der Staumauer als plastische Form besser eignen, als andere. Für die Wahrnehmung der Staumauer als Kunstwerk, statt als Teil eines Kraftwerks, fällt auch der den Typus kennzeichnende Fokus ins Gewicht. 

Von den vier gebildeten Typen eignet sich der Typus Erhaben am besten und der Typus Technik am wenigsten gut für einen Wahrnehmungs- und Funktionswandel von einem Kraftwerk zu einem Kunstwerk und Monument.

Grande Dixence, VS

Bilder: Ansichtskarten aus der Sammlung Denise Locher. Teilbestand Talsperren Karten aus der Schweiz. 

Soziale Integration der Auslandsstudierenden – eine Fallstudie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich

Lea Gürtler

Inwiefern integrieren sich die Auslandsstudierenden im Fach Rechtswissenschaften an der Universität Zürich in die Zürcher Studierendengesellschaft und inwiefern wird diese soziale Integration der Auslandsstudierenden durch die Universität Zürich und die studentischen Organisationen gefördert? Das waren die Hauptfragen, die durch meine Bachelorarbeit untersucht werden sollten. Da die Universität ein Ort mit vielen Diskursen ist, eignete sie sich gut für die Forschung. Gleichzeitig ist die Universität ein Ort, an dem sich die Identität der Studierenden entwickelt und damit eine wichtige Forschungseinheit bildet. Diese Fragen werden mithilfe der Netzwerktheorie von Georg Simmel und der bereits bestehenden Forschungen im Bereich der sozialen Integration von Studierenden untersucht.

Abb. 1 Plakat für die BA-Präsentation

Ein wichtigstes Ergebnis meiner Bachelorarbeit war, dass die soziale Integration von mehreren subjektiven Aspekten abhängig ist. Beispielsweise von den individuellen Wahrnehmungsschemas, subjektiven Relevanzsetzungen, Leistungserwartungen und den kulturspezifischen normativen Orientierungen. Unter anderem wurde auch offensichtlich, dass sich die Studierendengesellschaft auf die lokalen Studierenden und die Auslandsstudierende aufteilt. Diese zwei Gruppen mischen sich nur teilweise durch. Das war die Erfahrung von mehreren Interviewpartner:Innen. Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Bachelorarbeit ist, dass die Netzwerke innerhalb der Rechtswissenschaftlichen Fakultät von strukturellen Löchern bestehen. Das bestätigt ein Teil der Netzwerktheorie. Durch die strukturellen Löcher liegt ein privilegierter Zugang zu Informationen vor. An der Universität Zürich ist dies der Fall, da ungenügend wichtige Informationen in Englisch übersetzt werden. Dadurch liegt ein privilegierter Zugang der deutschsprachigen Studierenden zu Informationen vor. Wegen diesem und noch weiteren Gründen fühlten sich alle Interviewpartner:Innen von der Universität vernachlässigt und hätten mehr Unterstützung bei der sozialen Integration geschätzt. Obwohl sich die Interviewpartner:Innen von der Universität verlassen fühlten, haben sie ihre eigene Wege zur sozialen Integration gefunden.

Weibliche Körperbehaarung als queere Praxis

Sichtbarmachung der normativen Körperhaarentfernung

Muriel Progin

Das Entfernen der Körperbehaarung ist ein wesentlicher Bestandteil im Alltag vieler Frauen* im westeuropäischen Kontext – sei es die Frage nach der Haarentfernungsmethode oder das Planen und Integrieren der Praxis ins alltägliche Handeln. Gerade durch diese Selbstverständlichkeit bleibt diese normierte Praxis oft unsichtbar, unausgesprochen und unhinterfragt.

Abb. 1: Behaarter Bauch und Intimbereich.

Das gängige Erscheinungsbild des weiblichen Körpers besteht in seiner Haarlosigkeit – wird eine Abweichung wie behaarte Achseln oder Beine sichtbar, kann dies für Aufmerksamkeit, irritierende Blicke oder gar Empörung sorgen. Weibliche Körperbehaarung verstehe ich als queere Praxis, da sie sich als Gegenbewegung zu normierten Vorstellungen offenbart, wie ein Frauen*körper auszusehen hat. Den nachfolgenden Analysen und Überlegungen liegt die Vorannahme zugrunde, dass Normen und damit verbundene queere Praxen einen wandelbaren Charakter aufweisen und nicht einfach existieren, sondern dass sie gemacht werden. Findet ein Queering durch behaarte Beine oder Achseln statt, wird die Abweichung der Norm und damit verbunden die Norm selbst sichtbar gemacht.

Gegenstand der Analysen: Die Aushandlung im Alltag

Wie die Praxis der weiblichen Körperbehaarung und der weiblichen Körperhaarentfernung von Frauen* im Alltag ausgehandelt wird, ist Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Das empirische Material besteht aus drei leitfadengestützten Interviews mit Frauen, welche die Praxis der Körperbehaarung oder Körperhaarentfernung unterschiedlich handhaben. Als Analysewerkzeug und Theoriehintergrund für das empirische Quellenmaterial dient Stuart Halls Modell «Kodieren/Dekodieren». Dabei wird der weibliche Körper als Zeichenträger verstanden, der mit dem Kode «behaart» oder «unbehaart» ausgestattet ist. Ein Kode geht Verbindungen mit unterschiedlichen Konnotationen ein, welche von gesellschaftlichen Werten und Normen beeinflusst werden.

Abb. 2: Behaarte Beine.

Aus den Interviews wurde zum einen herausgearbeitet, welche Konnotationen die Interviewpartnerinnen mit der Praxis der weiblichen Körperbehaarung und der weiblichen Körperhaarentfernung verbinden. Zum anderen werden wechselseitige Einflüsse aus den Alltagshandlungen der Gesprächspartnerinnen auf die Konnotationen aufgezeigt wie das persönliche Umfeld, Erfahrungen in der sozialen Interaktion, die Beziehung zu heterosexuellen Cis-Männern oder der öffentlich-mediale Diskurs.

Abb. 3: Ungezupfte Augenbrauen.
Abb. 4: Unrasierte Achseln.

Selbstbestimmung und Selbstverantwortung

In einem zweiten Analyseteil geht es um das Selbst innerhalb der queeren Praxis. Die Dialektik zwischen Freiheit und gesellschaftlichen Machtstrukturen, welche in den Gesprächen mit dem Begriff der «Selbstbestimmung» angesprochen werden, wird mit Michel Foucaults Konzept der «Gouvernementalität» umschrieben. Im Thema der «Selbstverantwortung» in Bezug auf ein Queering taucht Ulrich Bröcklings Figur des «Unternehmerischen Selbst» auf, da «Selbstverantwortung» und «Selbstliebe» in den Gesprächen als eine zu erbringende Leistung des Subjekts auftaucht, damit ein Queering gelingen kann. Abschliessend werden Settings aus den Gesprächen beschrieben, welche ein Queering ermöglichen und aufgezeigt, welche Potentiale darin innewohnen.

Quellen

Bilder:

Abb. 1: Billie Body Brand: Behaarter Bauch und Intimbereich, 26.06.2018. URL: https://unsplash.com/de/fotos/Cn3s6bVVHNo (Abgerufen: 06.06.2023).

Abb. 2: Behaarte Beine. Aufnahme von Muriel Progin, Winterthur, 01.06.2023.

Abb. 3: Billie Body Brand: Ungezupfte Augenbrauen, 26.06.2018. URL: https://unsplash.com/de/fotos/HMwg-4LJKyo (Abgerufen: 06.06.2023).

Abb. 4: Billie Body Brand: Behaarte Achseln, 26.06.2018. URL: https://unsplash.com/de/fotos/WBEQdSTSsBA (Abgerufen: 06.06.2023).

Literaturhinweise:

Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.

Foucault, Michel: Analytik der Macht. Hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. 6. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2015 (2005).

Hall, Stuart: Kodieren/Dekodieren. In: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: Klampen Verlag, 1999, 92–110.