Der Raum und das Ich – Das Zusammenspiel von Raumproduktion und Subjektkonstituierung am Beispiel schwuler Räume in Zürich.

Nicola Caduff

Das Lied Smalltown Boy kann als schwuler Klassiker bezeichnet werden. Es handelt von einem jungen Mann, der sein Zuhause in einer Kleinstadt (small town) aufgibt, um Antworten, Anerkennung und Liebe anderswo, vermutlich in einer Grossstadt, zu finden. Obwohl im Liedtext nicht explizit erwähnt, offenbaren der Videoclip zum Lied und die persönliche Geschichte des Leadsängers von Bronski Beat, Jimmy Somerville, dass Smalltown Boy von der Flucht (run away, turn away) eines jungen schwulen Mannes aus der Kleinstadt oder aus dem Dorf in die Grossstadt handelt. Die Antworten und die Liebe, die der junge Mann sucht, müssen woanders als zuhause gefunden werden. Es geht um die Flucht vor Gewalt und die Suche nach einem Raum, der Selbstfindung und Anerkennung ermöglicht. Dieser Suche versuchte ich mich in meiner Bachelorarbeit aus einer empirisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive anzunähern. Die Geschichte des Smalltown Boy wurde in den 1980er Jahren geschrieben. Heute ist die Flucht von zuhause und die Suche nach einem Resonanzraum in eine andere Zeit und somit auch in andere Räume eingebettet. In der Fluchtbewegung und der bewussten Suche nach einem Raum, der Liebe und Antworten verspricht, wird das Zusammenspiel zwischen Raum und Subjekt sicht- und erkennbar. Die Suche nach dem Raum gestaltet sich zu einer Suche nach dem Selbst oder umgekehrt. In meiner Bachelorarbeit ging ich der Frage nach, wie schwule Räume produziert werden, was ihre Funktion ist und wer sie produziert. Schwule Räume als soziale Räume interagieren dabei immer mit Subjekten. Sie produzieren Subjektivität und sie werden von Subjekten produziert.

In meiner Arbeit habe ich die Raum- und Subjektproduktion anhand qualitativer Gespräche untersucht. Hier in diesem Blog versuche ich, die verschiedenen Blickwinkel und wichtigsten Punkte kurz und bündig zusammenzufassen und mit (Pop-)Kultur zu untermalen.

Gute Lektüre.


Raumproduktion durch Kompetenz und Performanz

Parodie des schwulen TikTokers StanChris. Verschiedene Gangarten verschiedener schwuler Männer. Kompetenz ist gefragt, um die Performanz im Video zu verstehen.

Die Besucher*innen machen die Räume.

Räume werden durch die Art und Weise, wie bestimmte Räume von ihren Besucher*innen performativ beschritten werden, codiert und so (re)produziert. Die Performanzen und Codes werden in den Räumen erlernt und verhandelt.

Bei schwulen Räumen gibt es einen starken Dualismus zwischen Drinnen und Draussen, Sicherheit und Gefahr, Verstecken und Zeigen, Authentizität und Maske. Das heisst, die Performanzen ändern sich mit dem Verlassen des öffentlichen Raums und dem Betreten des subkulturellen Raums.

Performanzen sind oft geprägt duch das Kennenlernen, den Flirt und die Sexualität als Performanz (körperliche Nähe, gegenseitiges Auschecken), auf die in vielen Situationen auch die Physis des Raums ausgerichtet ist.


Raumproduktion durch bewusste Raumplanung

Das Londoner Label „Queer House Party“ entstand während des Lockdowns 2020. Mit dem Verschwinden des Nachtlebens wurde die Welt heterosexueller. Die Raumplaner*innen waren gefragt. Durch eine Streaming Party wurde ein digitaler queerer Raum hergestellt.

Planung und Produktion des Raumes der Raumplaner*innen und Technokrat*innen. Es geht um die bewusste Konzeption des Raums.

Bestehende Netzwerke (Organisationen, Subkultur, Freundeskreise) als Raumplanungsbüros oder Vorräume.

Welche Räume entstehen, ist immer von aktuellen Diskursen anhängig. So entstehen neben ‚klassischen‘ schwulen Räumen auch immer mehr andere queere Räume.


Imaginierter Raum

Szene an der Hot Club Zürich. Gemälde von Murat Önen, Zürich, 2016. Das Gemälde wurde an einer queeren Technoparty von der Bühne aus gemalt.

Raum, wie er von Imaginationen und Symbolen durchdrungen wird.

Das Verstecken ist als Imagination in schwulen Räumen noch immer wirkmächtig.

Schwule Räume als Erweiterung des Zuhauses.

Gemeinsames und potenziell gegenseitiges Begehren als Quelle von Imaginationen: potenzielle Partner, sexuelle Abenteuer, Zukünfte, Geborgenheit, Erweiterung des Zuhauses


Raum, der gesellschaftlich zugewiesen wird

Gay-Walk-Meme auf Pinterest. Die Botschaft: Queere Menschen durchschreiten den feindlichen öffentlichen Raum mit doppelter Geschwindigkeit. Bloss raus hier.

Raum gesehen in heterosexistischen Machtverhältnissen: der Raum ist sexuell organisiert und der öffentliche, allgemeine Raum ist heterosexuell. Deviante Sexualitäten müssen sich eigene Räume und Nischen schaffen.

Die bewusste Raumproduktion wirkt sich dadurch ungleich stärker auf Subjektivierungsprozesse aus, als wenn der Raum schon gegeben ist. Das heisst, wenn ich einen Raum erschaffen muss, um ein bestimmtes Begehren oder eine bestimmte Sexualität leben zu dürfen, produziert dieser Prozess mein Ich mit.

Ein deviantes Begehren wird noch immer sanktioniert (Diskriminierung, Gewalt, Ignoranz). Dadurch haben subkulturelle Räume noch immer eine wichtige Funktion als Schutzräume.


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