Wohnen in einer Genossenschaftssiedlung «am Ende ihres Lebenszyklus»

Eine subjektorientierte Annäherung

Bachelorarbeit von Jan Kohler

Die vorliegende Arbeit widmet sich einer 1930 erbauten Genossenschaftssiedlung in der Stadt Zürich und fragt aus subjektorientierter Perspektive nach der Wohnqualität ihrer Bewohner*innen. Die im Kreis 4 gelegene Blockrandsiedlung aus der Zwischenkriegszeit mit ihrem grosszügigen Innenhof soll schon seit Jahren einem verdichteten Ersatzneubau weichen. Die Abbruchpläne werden von der Bauträgerschaft unter anderem damit begründet, dass die Siedlung nicht mehr den aktuellen Wohnbedürfnissen entspreche, eine Totalsanierung sehr teuer sei und einige der bestehenden Probleme damit nicht behoben werden könnten. Die Arbeit zeichnet den Diskurs zwischen den Befürworter*innen und Gegner*innen des Abrisses nach und versucht die Siedlung in ihrem historischen, städtebaulichen, bautypologischen und soziodemografischen Kontext zu verorten. Um die Lebenswelten, den Wohnalltag und die Meinungen der Bewohner*innen zu erschliessen, wurde methodisch mit qualitativen Interviews und schriftlich und fotografisch dokumentierter Feldforschung gearbeitet.

Luftaufnahme des Dreierensembles entlang der Seebahnlinie aus dem Jahr 1930. Vor der ABZ Kanzlei steht 
heute das 1966 fertiggestellte Lochergut (Stadtzürcher Heimatschutz 2012, 16–17/Baugeschichtliches Archiv Zürich).
Luftaufnahme des Dreierensembles ABZ Kanzlei, BEP Seebahn und Erismannhof entlang der Seebahnlinie um 1930 (Stadtzürcher Heimatschutz 2012, 16–17 / Baugeschichtliches Archiv Zürich)

Die Auswertung der Interviews zeigt, dass die Befragten trotz kleinteiliger Raumstrukturen, veraltetem Ausbaustandard und Hellhörigkeit ihre Wohnqualität positiv beurteilen und sich in der Siedlung wohl fühlen. Entscheidend sind für ihr Wohlbefinden nicht die «quantitativen» Faktoren, welche im Wohndiskurs von Verfechter*innen einer Tabula-rasa-Praxis üblicherweise ins Feld geführt werden, sondern die räumlichen und atmosphärischen Qualitäten, welche diese in die Jahre gekommene Siedlung ihren Bewohner*innen zu bieten hat. Das räumliche Erleben der Bewohner*innen wird mit dem Begriff der «Atmosphäre» konzeptualisiert. Dabei wird kritisch gefragt, ob die vorzufindenden Wohnpräferenzen milieuspezifisch sind und deshalb nicht auf breitere Bevölkerungsschichten übertragen werden können.

Neben den räumlichen werden auch die sozialen Qualitäten der Siedlung erforscht. Nicht zuletzt wird die Siedlung von den Interviewten wegen ihrer sozialen Netzwerke geschätzt, die sich auch unter den Bedingungen des eigentlich bevorstehenden, aber immer wieder herausgeschobenen Abbruchs herausbilden und aufrechterhalten werden können. Im Hinblick auf das soziale Leben in der Siedlung werden zudem Dynamiken der Grenzziehung gegen innen und aussen herausgearbeitet. Abgrenzungen gegen aussen zielen insbesondere auf eine Gruppe von Jugendlichen, die den Hof in ihrer Freizeit nutzt und von welchen sich einige Mieter*innen gestört fühlen. Innerhalb der Siedlungsgemeinschaft ist die Rede von einem «inneren Kreis» von Leuten, die aktiv am Genossenschafts- und Siedlungsleben teilnehmen. Dieser Gruppe der «Engagierten» werden diejenigen Bewohner*innen gegenübergestellt, die sich nicht oder nur selten am gemeinschaftlichen Leben beteiligen. Bei der Analyse sozialer Strukturen und Prozesse geht es stets auch um die Frage, welche Rolle dabei der Architektur und den von ihr geschaffenen räumlichen Settings zukommt und in welchen Wechselwirkungen das Soziale zur gebauten Umwelt steht.

Die Forschung zeigt, dass der Innenhof wesentlich zur Herausbildung von Gemeinschaft beiträgt. Alle interviewten Bewohner*innen bringen ihm eine hohe Wertschätzung entgegen und sehen ihn als wesentlichen Faktor für die Lebensqualität vor Ort. Der Innenhof erfährt vonseiten der Bewohner*innen eine Reihe symbolischer Zuschreibungen, etwa als «Naturraum», welcher ihnen ein Gefühl des «Aufgehobenseins» verleiht. Als Raum sinnlicher und unverfälschter Erfahrung ist er nicht nur für Kinder eine «Spielwiese», sondern gilt auch den Erwachsenen als Ort der Freiheit, kreativen Gestaltung und Selbstverwirklichung.

Die Arbeit kommt zum Schluss, dass sich die interviewten Bewohner*innen in der Siedlung grundsätzlich sehr wohl fühlen und den Abrissplänen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Ihre Positionierungen machen deutlich, dass Wohnqualität keine quantifizierbare Grösse ist. Der hier beschrittene qualitative Zugang zu Feld und Akteur*innen bietet wertvolle Einblicke in das räumliche Erleben von Bewohner*innen, die unsinnigerweise von den Diskussionen um das Wohnen oft ausgeschlossen werden. Als eigentliche Expert*innen ihres Wohnalltags hätten die Bewohner*innen viel zur Wohnbaudebatte beizutragen.

Quellen

Stadtzürcher Heimatschutz (Hg.): Seebahnstrasse Zürich Aussersihl. Genossenschaftssiedlungen der ABZ und BEP. Neujahrsblatt 2013 des Zürcher Heimatschutzes. Zürich: Zürcher Heimatschutz, 2012.

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