Ein negativer Familientisch?

Zu den Sportübertragungen im sowjetischen und bulgarischen Fernsehen basierend auf den Werken und persönlichen Berichten von Maria Kapajeva und Georgi Gospodinov

 Die ersten Übertragungen des sowjetischen Fernsehens (ab 1951 „Das sowjetische Zentralfernsehen“) fanden im Jahr 1938 statt. Populär wurde das Fernsehen in den sowjetischen Republiken allerdings erst in den 1960er Jahren, insbesondere in der zweiten Hälfte, als Fernsehgeräte günstiger und somit für mehr Haushalte erschwinglich wurden. Anfang der 60er Jahre waren Fernseher in den osteuropäischen Staaten noch deutlich teurer als in Westeuropa – in Polen beispielsweise entsprach der Preis eines Fernsehgerätes etwa drei durchschnittlichen Monatsgehältern.1 Parallel zu den westlichen Staaten entwickelte sich aber auch in der UdSSR das Fernsehen dank der sinkenden Preise rasch von einem Medium der Elite zu einem Massenmedium. Die Entwicklung des Fernsehens verlief dazu parallel zum kalten Krieg, was auch in diesem Bereich zu einer Art technologischen Wettrüsten zwischen Ost (UdSSR) und West (USA) führte, da die politischen Möglichkeiten des Fernsehens von beiden Seiten erkannt wurden.2

Laut Sabina Mihelj ist allerdings die Entwicklung des Fernsehens in kommunistischen Staaten in der Medienforschung bisher eher vernachlässigt worden. Ihrer Meinung nach, bietet die Untersuchung des sowjetischen Fernsehens daher noch viel unentdecktes Wissen, insbesondere bezüglich der komplexen Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat sowie der Rolle der Medien in totalitären Regimen.3 Ein Aspekt des sowjetischen Fernsehens, der bis heute im Dunkeln liegt, ist die Thematik der Sportübertragungen und deren Status in der Gesellschaft. Auf dieses Thema wird sich dieses Essay fokussieren. Im Folgenden wird die Rolle der sowjetischen Sportübertragungen, insbesondere in den 1970er und 80er Jahren, anhand von Werken und Interviews zweier Künstler sowie bestehenden Fernsehtheorien, die sich meist auf den westeuropäischen oder amerikanischen Kontext beziehen, analysiert.

Die Tatsache, dass Sportsendungen bisher in wissenschaftlichen Untersuchungen zum sowjetischen Fernsehen weniger Beachtung fanden, ist besonders überraschend, wenn man die Beliebtheit dieser Sendungen bedenkt. Sabina Mihelj bestätigt in der Einführung ihres Buches From Media Systems to Media Cultures, dass einer Umfrage von 1967 zufolge, die beliebtesten Programme im sowjetischen Fernsehen Fußball und Boxen waren. Sie geht allerdings nicht weiter auf diese Sendungen ein.4 Anikó Imre in ihrem Buch TV Socialism ergänzt, dass internationale Wettkämpfe, wie die Olympischen Spiele Kult-Events waren und argumentiert, dass Sport die ultimative Form der Zurschaustellung des Sozialismus im Fernsehen war. Auch sie führt diese Aussage allerdings nicht detaillierter aus. Sie fügt zu diesem Thema lediglich noch hinzu, dass Athleten aus der UdSSR eine zweifache Bürde trugen: sie mussten gleichzeitig die Konkurrenzfähigkeit ihrer Nation und die Lebensfähigkeit des Sozialismus repräsentieren.5 Diese Aussage beschreibt treffend, was die Rolle des Sports in totalitären Staaten ausmacht: Erfolg im Sport ist eine Form von Prestige unter Nationen, ein Propagandamittel, ein Indikator für die Tragfähigkeit eines Regimes und die Zurschaustellung einerIdeologie.6

Sowohl in dem Fotografie-Band „You can call him another man“ (2018) der multimedialen Künstlerin Maria Kapajeva aus Estland, als auch in dem Roman „Physik der Schwermut“ (2011) des bulgarischen Schriftstellers Georgi Gospodinov finden sich Anspielungen auf das sowjetische Fernsehen wieder. Insbesondere in Kapajevas Werk springen die Fotografien von Fernsehern ins Auge, auf denen unterschiedliche Programme des sowjetischen Zentralfernsehens zu laufen scheinen.

Insgesamt finden sich 17 solcher Fotografien in dem Bildband wieder, davon zeigen eine Vielzahl Sportübertragungen, insbesondere Eiskunstlauf.7 Alle Fotografien wurden von Kapajevas Vater noch vor deren Geburt aufgenommen. Als Kapajeva im an der Universität Konstanzam 6. Juni 2019 durchgeführten Interview auf ihre Auswahl dieser Motive angesprochen wurde, erklärte sie die Prävalenz der Fernsehfotografien damit, dass ihr Vater das Fernsehen und insbesondere Sportveranstaltungen anscheinend als wichtige Ereignisse wahrnahm und diese deshalb festhalten wollte. In ihren eigenen Erinnerungen an ihren Vater, erkannte Kapajeva dieses Muster wieder. Für sie waren die Momente, in denen die Familie zusammenkam, um Sportübertragungen, insbesondere das Eiskunstlaufen, zu verfolgen extrem wertvoll. In diesen Momenten war sie ihrer ganzen Familie, auch ihrem Vater, mit dem sie sonst ein eher distanziertes Verhältnis hatte, so nah wie sonst nie. In Kapajevas Worten, waren Fernseher damals etwas, das man teilte und nicht etwas das man besaß. So kamen bei besonderen Veranstaltungen Gemeinschaften zusammen. Dies war typisch in der sogenannten „Pionier-Phase“8 des Fernsehens, als erst wenige Familien Fernsehgeräte besaßen. In dieser Phase, als das Fernsehgerät der Mittelpunkt des sozialen Zusammenkommens war, sind auch die Fotografien des Vaters entstanden – womit sich auch die vielen Aufnahmen des Fernsehers erklären lassen.

Dieses Phänomen, dass Fernsehen – insbesondere Sportübertragungen – Familien näher zusammenbrachte, kennt auch Georgi Gospodinov. Während sein Roman Die Physik der Schwermut insgesamt eher ein starkes Gefühl der Isolation und Verlassenheit transportiert, welches auch von der Routine des Fernsehprogramms nicht durchbrochen werden kann, beschrieb er jedoch im Interview (06.06.2019), ähnlich wie Kapajeva, die Momente, in denen er mit seinem Vater vor dem Fernseher saß, um die Fußballweltmeisterschaften zu verfolgen, als die einzige Zeit, in der er einen engen Kontakt zu seinem Vater hatte. In dieser Hinsicht waren sich Kapajeva und Gospodinov also einig: für sie war das Fernsehen ein Medium, das die Familien vereinte.9

In den Medienwissenschaften war man bezüglich der Entwicklung des Fernsehens zum Massenmedium zwiegespalten. Diese Vereinigung der Familie und die Idee des „Community TV“, wie Kapajeva und Gospodinov sie erlebten, steht beispielsweise im starken Kontrast zu den Theorien von Günther Anders. Der Medienkritiker identifizierte das Fernsehen in seinem Essay Die Antiquiertheit des Menschen von 1961 als destruktives Element im familiären Zuhause. Für Anders stellte das Fernsehen die Außenwelt dar, welche durch ihr Eindringen in die Privatsphäre drohte, die Familie als Konzept auszulöschen. Er fasste dies folgenderweise zusammen: „Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe“.10 Dabei gab es jedoch auch Stimmen, die durchaus positiver waren und die Erfahrungen von Maria Kapajeva und Georgi Gospodinov eher antizipierten. In seinem Buch The Age of Television fasste Leo Bogart einige dieser Hoffnungen, die in das Fernsehen gesetzt wurden, zusammen: So erhoffte man sich beispielsweise, dass das Fernsehen die Leere der Langweile füllen würde, was im sowjetischen Kontext nicht wirklich zu funktionieren schien, wenn man sich an Gospodinovs Beschreibung des Fernsehprogramms, das ihn immer traurig machte erinnert.11 Doch auch der vereinende Aspekt des Fernsehens, welcher für Kapajeva und Gospodinov in ihren Erfahrungen eine so wichtige Rolle spielte, wurde von den Medienkritikern angesprochen. Sie erhofften sich eben dies: dass Familien, die sonst vielleicht eher wenig gemeinsam hatten, im Fernsehen ein gemeinsames Interesse finden würden. Dieses Finden gemeinsamer Interessen kulminierte, nicht nur im sowjetischen Kontext, in den Übertragungen von Sportveranstaltungen. Bis heute sind dies die Programme, die am häufigsten in Gemeinschaft verfolgt werden: von der kleinen Runde in der Familie bis zum Public Viewing mit Tausenden.

Zusammenfassend kann der Schluss gezogen werden, dass das Fernsehen – insbesondere Sportübertragungen – eine wichtige Rolle in den Familien und erweiterten Gemeinschaften in der Sowjetunion und Bulgarien einnahmen. Gegensätzlich zu den Befürchtungen von Kritikern wie Günther Anders erlaubte das sowjetische Fernsehen Familien näher zueinander zu finden, indem es ihnen ein gemeinsames Interesse und ein gemeinsames Ergebnis auf das man hoffte gab, wenn vielleicht auch nur für eine begrenzte Zeit. Die Wichtigkeit dieser Sendungen zeigt sich in den detaillierten Erinnerungen, die Maria Kapajeva und Georgi Gospodinov teilen, als auch in den vielen Fotografien, die Kapajevas Vater bei diesen Ereignissen erstellte. Daraus wird klar, dass diese Momente, die Sport im Fernsehen erzeugte, generationenübergreifend wertgeschätzt wurden und das Gefühl der Zusammengehörigkeit in den Familien und Gemeinschaften tatsächlich förderten.

 

1 Vgl. Mihelj, S., &Huxtable, S. (2018). From Media Systems to Media Cultures: Understanding Socialist Television. New York: Cambridge University Press. 74-75.

2 Vgl. Evans, C. E. (2016). Between Truth and Time: A History of Soviet Central Television. New Haven & London: Yale University Press. 23.

3 Vgl. Vgl. Mihelj, S., &Huxtable, S. (2018). From Media Systems to Media Cultures: Understanding Socialist Television. New York: Cambridge University Press. 1-2.

4 Vgl. Mihelj, S., &Huxtable, S. (2018). From Media Systems to Media Cultures: Understanding Socialist Television. New York: Cambridge University Press. 11.

5 Vgl. Imre, A. (2016). TV Socialism. Durham & London: Duke University Press. 93.

6 Vgl. Arnaud, P., & Riordan, J. (1998). Sports and International Politics. London: Routledge. 3.

7 Kapajeva, M. (2018). Youcancallhimanother man. Kaunas Photography Gallery.

8 Bogart, L. (1972). The Age of Television. New York: Frederick Ungar Publishing Co. 95.

9 Vgl. Representing Television under Communism. https://streaming.uni-konstanz.de/talks-und-events/2019/representing-television-under-communism/ (Universität Konstanz, 06. 06 2019).

10 Vgl. Anders, G. (1961). Die Antiquiertheit des Menschen. München: C. H. Beck. 105-106.

11 Vgl. Gospodinov, G. (2014). Physik der Schwermut. Graz: Droschl. 99-100.

 

Literaturverzeichnis

Anders, G. (1961). Die Antiquirtheit des Menschen. München: C. H. Beck.

Arnaud, P., & Riordan, J. (1998). Sports and International Politics. London: Routledge. Bogart, L. (1972). The Age of Television. New York: Frederick Ungar Publishing Co.

Evans, C. E. (2016). Between Truthand Time: A History of Soviet Central Television. New Haven & London: Yale University Press.

Gospodinov, G. (2012). Physik der Schwermut. Graz: Droschl.

Imre, A. (2016). TV Socialism. Durham & London: Duke University Press. Kapajeva, M. (2018). You can call him another man. Kaunas Photography Gallery.

Mihelj, S., &Huxtable, S. (2018). From Media Systems to Media Cultures: Understanding Socialist Television. New York: Cambridge University Press.

Representing Television under Communism. (Universität Konstanz, 06. 06. 2019). https://streaming.uni-konstanz.de/talks-und-events/2019/representing-television-under-communism/ . Abgerufen am 06.07.2019.

 

Das Essay ist im Rahmen der Lehrveranstaltung Photography Representing Television in East and West: From Theory to Praxis (Universität Konstanz) entstanden     

Miriam Trinker, University of Konstanz

Edited by Maria Zhukova, Associated Fellow of Zukunftskolleg (University of Konstanz), https://www.uni-konstanz.de/zukunftskolleg/community/associated-fellows/

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert