TYPOGRAFIE UND SLAVISCHE SPRACHEN
Als Grafikdesigner und Typograf ist Noël Leu international erfolgreich. Im Gespräch mit SlavicumPress teilt er seinen Einblick in slavische Sprachen.
Noël Leu arbeitet im Team des Grafikdesignbüros und der digitalen Schriftgiesserei Grilli Type, das er im Jahr 2009 mitbegründet und seitdem aufgebaut hat. Darüber hinaus ist er als Kurator und Redner für bedeutende öffentliche und private Institutionen und Festivals im Bereich Grafikdesign gefragt. Im Team von Grilli Type hat Noël Leu eine führende Position inne. Grilli Type kreiert Schriftarten und bietet gemäss kundenspezifischer Anfrage an, diese Schriftarten anzupassen, eine Schriftart zu kreieren oder andere Grafikdesignleistungen. Grilli Type positioniert sich explizit in den Traditionen von Schweizer Grafikdesign und Typografie. Namhafte Kunden sind BlaBlaCar, Google, Lucid Motors, Marshalls, On, Pinterest, Riot Games, Samsonite, TikTok, Twitter und WeTransfer.
Hinweis: Die Fragen von SlavicumPress setzen einen Überblick zu Typografie und Schrift voraus, für eventuellen Gebrauch ist daher nachfolgendes, vereinfachtes Glossar angeboten.
Digitale Schriftgiesserei (digital type foundry): Firma, die digital Schriftarten kreiert oder handelt, je nachdem personalisierte typografische Dienstleistungen
Schriftart (typeface): Set von Buchstaben, Nummern und anderen Zeichen in einem bestimmten Stil
Typografie (type design): Gestaltung oder Auswahl von Buchstabenformen um diese in Worten, Sätzen und Textblöcken zu organisieren und anschliessend digital oder im Print zu verwenden Buchstabenschrift: Schriftzeichen stehen für Buchstaben bzw. Laute und werden in Alphabeten zusammengefasst
Silbenschrift: Schriftzeichen stehen für Silben Wortschrift: Schriftzeichen stehen für Worte
Das Gespräch wurde am 11. April 2024 geführt.
E.O.: In meiner Zuständigkeit Fine Arts der Redaktion SlavicumPress freue ich mich sehr, dich zu diesem Gespräch zu begrüssen und bedanke mich herzlich, dass du unsere Einladung zum Gespräch angenommen hast.
Zwischen 2013 und 2016 waren deine Plakate in der Ausstellung Weltformat über Luzerner Plakatdesign in vielen russischen Städten zu sehen: Sankt-Petersburg, Moskau, Nischni Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Krasnojarsk, Kasan, Wladiwostok. Organisatoren waren das Weltformat Grafikdesign Festival, das jährlich in Luzern stattfindet und 2013 das Thema
Russisches Plakatdesign hatte, und die Schweizer Botschaft in Moskau, deren Gastkanton 2013 Luzern war. Die Ausstellung wurde ebenso von ProHelvetia unterstützt. Sie war so erfolgreich, dass sie nach Russland zusätzlich in Frankreich, Deutschland, China, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten gezeigt und 2017 mit dem Buch PosterTown gewürdigt wurde.
Im Rahmen dieser Ausstellung wurden Veranstaltungen organisiert, ebenso dein Vortrag “Schrift, als Möglichkeit einer Reise” 2016 in Wladiwostok. Kannst du etwas zum Titel dieses Vortrags sagen?
N.L.: Ich weiss nicht mehr, was ich bei diesem Vortrag genau gesagt habe, aber ich weiss noch, wie es war. Ich erinnere mich an die Studenten in Wladiwostok. Wenn man reist, ändern sich die Schriften. Mit einer anderen Sprache ändert sich auch deren Visualisierung. Es sind Kulturschocks, wenn man weder lesen noch sprechen kann. Diese Schriften haben ein exotisches Appeal. Es gibt Designer, die denken, dass sie die Buchstaben, die ähnlich aussehen, einfach spiegeln können, aber das geht nicht. Zum Beispiel, wenn sie zwischen kyrillischen und lateinischen Buchstaben einfach die Balken umstellen. Sie beachten nicht die Ideenwelten, die mit den Schriften verbunden sind. Das Kyrillische wirkt archaischer. Als Schweizer erscheint es einem mystisch oder brutalistisch wegen ihrer blockigen Form. Beim Weiterreisen von Wladiwostok nach Japan, nach Korea ändert sich typografisch wieder alles. Die Schriften begleiten das Reisen und beeinflussen die Erfahrungen.
E.O.: Das Design einer Schriftart wird zuerst in der Muttersprache kreiert, beispielsweise bei dir in lateinischen Buchstaben. Anschliessend wird die Schriftart, beispielsweise für kyrillische Buchstaben, gesetzt. Was gibt es zu beachten beim Design von Schriftzeichen, die man nicht in der Muttersprache verwendet?
N.L.: Ein Buchstabe ist nicht nur funktional, es fliessen in ihn Gedanken ein. Man wird in einem typografischen Raum sozialisiert. Darin gibt es viele Konnotationen, irgendwann kennt man sie. Während du liest, sind Konventionen dabei, es ist angenehm zu lesen. Es ist dieser stetige “Flux”, geschriebene und gesprochene Sprache verändern sich. Im Deutschen gibt es die Frakturschrift, die sehr schwer zu lesen ist. Früher wurde sie typografisch verwendet, dies erscheint heute komisch sowohl sprachlich als auch schriftlich. Man sollte nicht das Gefühl haben, dass man das versteht. Es ist extrem schwierig, solche Sprachen zu machen. Ausserdem wird das Kyrillisch oft mit Russisch gleichgesetzt, aber das Kyrillisch wird in verschiedenen Ländern in Europa und Asien verwendet. Die Digitalisierung hat zuerst in Nordamerika stattgefunden. Als kyrillische Schriften digital adaptiert wurden, passierte das häufig schnell und ohne das nötige Fachwissen. Die Designentscheidung wurde von Designern gemacht, die keine Vertreter des Kulturraums konsultierten. Man soll nicht versuchen, das zu synchronisieren, sondern Schriftgestalter aus dem kulturellen Bereich einbeziehen. Jemanden, der die Schrift versteht. Zum Beispiel das lateinische N und das kyrillische И. Letzteres ist ein anderes Zeichen, das ist nicht gespiegelt.
E.O.: Wenn ich ein Gedicht in deiner Schriftart wiedergebe, kombiniere ich dann zwei Kunstwerke? Spielt es für dich eine Rolle, was mit deinen Schriftarten gemacht wird?
N.L.: Ein Gedicht ist Literatur. Was ist eine Schrift? Welche Vergleiche kann man machen? Ich mache immer die Analogie, dass eine Schriftart wie ein Baustoff und ein Grafiker wie ein Architekt sind. Natürlich sind das Vergleiche, die zu kurz greifen. In der Architektur passt es nicht zu der Anmutung, wenn das Material nicht stimmt, aber ein Kontrast kann auch unerwartet sein. Eine Schriftart kann auch als Musikinstrument gesehen werden, zum Beispiel als Violine, oder als die Klangfarbe eines Waldhorns. Wie würde das klingen, das Gedicht in der Klangfarbe eines Waldhorns? Es ist nicht falsch, aber es ist ein Statement. Wenn es dem Gedicht nicht entspricht, entsteht ein Kontrast. Wenn es dem Gedicht entspricht, dann wird es unsichtbar. Der Ausdruck ist ein künstlerischer. Das ist wertneutral, schweizerisch, das Musikinstrument zur Verfügung zu stellen. Der, der den Baustoff zur Verfügung stellt, trägt keine Verantwortung für das, was später mit ihm gemacht wird.
E.O.: In einem Interview 2020 mit der Plattform It’s Nice That hast du die Aussage gemacht: “Details und Konzepte sind beide von grosser Bedeutung, wenn du eine Schriftart gestaltest.”
In meinen künstlerischen Prozessen sind das Konzept der Anfang und das Detail das Ende. Was verstehst du genau unter “Detail” und “Konzept”? Beeinflussen sie sich während der Gestaltung einer Schriftart gegenseitig?
N.L.: Kunst und Gestaltung sind verwandt. Ich habe Grafikdesign studiert, ein Teil davon sind Kurse in bildender Kunst. Du hast bildende Kunst studiert, ein Teil davon sind Kurse in Grafikdesign. Grafik kommt aus der Kunst. Ich orientiere mich am russischen Konstruktivismus und Alexander Rodtschenko. Wichtig ist die Idee oder das Konzept und dann kommt die Umsetzung. Nicht nur Buchstaben malen, nicht rein ästhetisch, nicht nur intuitiv machen! Ich habe eine Idee und es gibt viele Buchstaben. Jeder Buchstabe muss die Idee mittragen. Typefaces bestehen sozusagen aus Miniskulpturen, sequenziellen Skulpturen. Ein Typeface interagiert. Es gibt Sätze, einen Text, eine Buchseite, ein Buch, eine Makro- und eine Mikroebene. Das Konzeptionelle, das ist ein roter Faden, der über allen Entscheidungen steht, alle Entscheidungen und Stilmittel verifiziert. Die Schriftart ist aber nicht überall gleich. Das ist die Schweizer modernistische Art von Grafikdesign.
E.O.: Anlässlich der Veröffentlichung der Schriftart GT Eesti 2016 hat Grilli Type in Zusammenarbeit mit dem Designbüro refurnished+ das Holzlegespielzeug Lelu designt und in einer Kleinserie von 250 Stück produzieren lassen. GT Eesti ist eine Interpretation der Schriftart Zhurnalnaja Rublenaja von 1947 des sowjetischen Grafikdesigners und Typografen Anatolij Vasiljewitsch Schtschukin.
Wenn ich in der bildenden Kunst mit einem Stein arbeite, kann ihn als Skulptur auf einen Sockel oder als Installation in die Mitte des Ausstellungsraums stellen. Es sind zwei verschiedene Kunstwerke. Die schriftlichen Angaben zum Kunstwerk sind sehr wichtig für den Betrachter. Welche Funktion hat das Holzlegespielzeug Lelu im Kontext der Veröffentlichung von GT Eesti?
N.L.: Das finde ich ein gutes Beispiel mit dem Stein auf dem Sockel. Es ist theoretisch nicht möglich, etwas vom Umfeld zu isolieren. Es ist einfach ein Stein in einem Raum. Oder was wäre, wenn der Ausstellungsraum ein anderer Raum wäre? Ein Betrachter versteht es überall. Wenn der Stein in einem Museum steht, ist das ein Riesenunterschied. Kunst ist das eine, aber ich bin ein Gestalter von Schriften, sie sind ein Werkzeug. Wie kann man das isolieren, objektiv zeigen? Es wird in einem Buch gedruckt oder auf einer Website verwendet. Es geht nicht darum etwas neutral zu zeigen, sondern darum, dem Betrachter zu ermöglichen, es objektiv und neutral zu beurteilen. Das ist unmöglich beim Ausstellen, der White Cube funktioniert nicht. Jede Art verändert, wie etwas repräsentiert wird, zum Beispiel in einem Museum. A priori ist es die Art, wie man das anschaut. Es geht nicht darum, etwas neutral zu zeigen, sondern darum, es möglichst zu kontextualisieren. Damit der Betrachter das Design verstehen kann, muss man ihm den Kontext mitgeben. Wenn du eine Ausstellung hast und die irgendwo hinstellst, es ist immer deine Geschichte dabei, der Kontext. Der ganze Kontext gibt Wertigkeit. Das Digitale ist zugänglicher.
Eine Schriftart ist eine Software, ein Code. Es sind digitale Minisites, Ausstellungssites. Wie gesagt, Schriftarten sind wie ein Baustoff, aus dem man etwas erschaffen, kommunizieren kann. Die Schrift an sich ist ein Kunstwerk. In der Sprache ist das Gedicht ein Kunstwerk. Typografie nur als Werkzeug zu betrachten ist ebenfalls reduktiv. Es ist ein Ausdrucksmittel und hat eine eigene Persönlichkeit. Die Schrift ist der visuelle Kontext des Gedichts.
E.O.: Wenn ich die Diskussionen in der Typografie mitverfolge, wird häufig die Lesbarkeit angesprochen. Was sagst du zu diesem Thema?
N.L.: Das ist kompliziert, aber ich versuche es so einfach zu sagen, wie ich kann. In den Forschungen zur Lesbarkeit, mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, wurde der Lesevorgang untersucht. Dabei wird unterschieden zwischen der Sprache, zum Beispiel Englisch, und der Fähigkeit, die spezifischen Buchstaben zu erkennen. Lesbarkeit als Zeichen, die unterschiedlich und ähnlich sind. Der Buchstabe C sieht aus wie O, aber er hat eine Lücke. C und O sind nur lesbar, wenn sie unterscheidbar sind. Aber du liest nicht einzelne Buchstaben, sondern Blöcke, Wortbilder, fliessende Sprache. Es geht um Sprache und Bedeutung. Wenn du ein neues Alphabet lernst, liest du jeden Buchstaben einzeln um das Wort zusammenzusetzen. Wortbilder zusammenzusetzen gibt die Idee von Lesbarkeit. Ausserdem gibt es die Kunden. Wenn es die lesbarste Schrift gäbe, gäbe es nur eine einzige Schrift. Schrift ist ein Werkzeug, eine Technik, ein Designobjekt, ein Ausdruck von Menschlichkeit, von unseren Ambitionen. Lesbarkeit existiert nicht. Lesbarkeit ist ein Ausdruck vom Menschsein. Ansonsten würden wir schon längst im Binärcode miteinander kommunizieren. Sprache ist ein Chaos, das nur noch grösser wird. Es gibt Redundanzen, Akzente, Klein-und Grossbuchstaben, mehrere Schriftebenen. Im römischen Reich waren Grossbuchstaben wichtig, da sie sich von Hand zeichnen liessen. Die Gross-und Kleinschreibung ist im kyrillischen und griechischen Alphabet enthalten, aber heute redundant.
Die Verwendung von drei beziehungsweise vier verschiedenen Schriftebenen im Japanisch hat ebenfalls lange historische Gründe. Beim kyrillischen Alphabet ist dazu spannend, dass Kleinbuchstaben näher an Grossbuchstaben sind. Ausserdem sehen Handschrift und Buchdruck auf der Basis dieses einen Alphabetes aus, als seien es zwei Alphabete.
E.O.: Vielen Dank für das Gespräch.
Interview and article by: Emily Мagdalena Orlet, At Malmö Art Academy / Lund University
Illustrations by: © Noёl Leu, Zurich
Edited by: Juliana Wiemer, University of Konstanz and Olga Burenina-Petrova, University of Zurch & University of Konstanz