KUNST UND MENSCHLICHKEIT IM SPANNUNGSFELD DER GRENZEN

Eine essentielle Aufgabe der Kunst ist es, Grenzen zu überbrücken. Einerseits tritt durch sie der Künstler mit dem Konsumenten in den Dialog, andererseits vereint sie auch unterschiedlichste Menschen, denn bildende Kunst, Musik oder Tanz nonverbal und jedem verständlich ist, egal welche Sprache er spricht. In diesem Essay werden Filme betrachtet, die uns ermöglichen, die Zusammenhänge zwischen Kunst und Menschlichkeit im Kontext von Grenzen und deren Übertretung zu verstehen. Zwar übertritt jede Hauptfigur eine Grenze, wobei sich aber die Kontexte und Intentionen zur Grenzüberschreitung maßgeblich unterscheiden, wodurch Einblicke in die universelle Suche nach Freiheit, Identität und kultureller Verbundenheit ermöglicht werden.

Zwei Filme, „The White Crow“ (Ralph Fiennes, 2018) und „Moscow on the Hudson“ (Paul Mazursky, 1984), illustrieren das Vorrecht, das Kunst in Bezug auf Grenzen innehält.

The White Crow (Ralph Fiennes, 2018)

Zur Zeit des kalten Krieges war sie es, die es verschiedenen sowjetischen Künstlern ermöglichte, die ansonsten sehr verschlossenen Grenzen der Sowjetunion zu überschreiten. In beiden Filmen erlangen die jeweiligen Protagonisten, der  Balletttänzer des Kirow-Theaters Rudolf Nurejew (1938-1993) (gespielt von Oleg Ivenko) und ein Saxophonist eines Zirkusorchesters (Robin Williams), die Möglichkeit als Bestandteil kultureller Vorführungen einen Teil der westlichen Welt zu erkunden. Sie beide entscheiden sich im Laufe der Filme um Asyl zu bitten, um nicht zurück in die Heimat zu müssen. Hier wird es schon deutlich, dass die Kunst einen gewissen Stellenwert über dem menschlichen Individuum einnimmt. Ohne sie hätte keiner der beiden überhaupt die Gelegenheit gehabt, um Asyl zu bitten.

Moscow on the Hudson (Paul Mazursky, 1984)

Dass die Kunst, in dem Fall die Kinokunst, als guter Grund für ansonsten als fragwürdig geltende Grenzübergänge anerkannt ist, weiß auch Raffi (David Alpay), Hauptfigur des Films „Ararat“ (Atom Egoyan, 2002). Raffi, als Nachkomme der armenischen Migranten, fühlt sich durch die Produktion eines historischen Films über den armenischen Völkermord im Osmanischen Reich betroffen. Kurzerhand lügt er einen Zollbeamten an, indem er ihm erzählt, er hätte in der Türkei Aufnahmen für diese Filmproduktion gemacht, die zu dem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war und am Tag der Grenzüberschreitung ihre Premiere gefeiert hat. Seine wahre Motivation für das Filmdrehen in der Umgebung des Berges Ararat (eines für Armenier heiligen Berges, heute auf dem Territorium der Türkei), die Suche nach seiner eigenen Identität, stößt im für ihn Heimat gewordenen Kanada auf Unmut. Die Kunst über sich selbst als Individuum zu stellen erscheint ihm als die sichere Option. Da Raffi als Armenier ethnisch aus einer politisch und moralisch sehr vorbelasteten Region kommt, wird ihn die Suche nach seiner Identität immer als potentiellen zukünftigen Attentäter framen, so wie es zuvor auch seinem Vater erging.

Ararat (Atom Egoyan, 2002)

Er wird reduziert auf ein Vorurteil – bis er erzählt, dass seine Mutter Ani Kunsthistorikerin ist, also gebildet sowie integriert, und sich mit Arshile Gorky (1904-1948) auseinandersetzt, einem aus dem Osmanischen Reich in die USA geflohenen armenischen Künstler, der zu den Mitbegründern des abstrakten Expressionismus zugezählt wird und als solcher die westliche  Kunstszene wesentlich geprägt hat. Sein Alias klingt nicht so fremd wie sein bürgerlicher Name Vosdanig Manoug Adoian. Zusätzlich wird Ani als Expertin für die von Raffi erwähnte Filmproduktion herangezogen, in der die Vorkommnisse des armenischen Genozids verzerrt werden und ein amerikanischer Arzt in den Mittelpunkt gestellt wird. Der Film ist Kunst. Und Kunst darf sich auf eine subjektive Weise mit empfindlichen Themen auseinandersetzen, solange er eine westlich zentrierte Perspektive zeigt. Tut es aber jemand, der persönliche Verbindungen zu jenen Themen hat, in diesem Fall Raffi, dann wird er am Zoll für Stunden festgehalten. Diese Reduktion auf ein Vorurteil, diese Entmenschlichung, kann daher nur durch die Kunst verhindert und überwunden werden.

Die Gegenüberstellung von Menschsein und Kunst findet ihr Extrem in „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ (The Man Who Sold His Skin, Kaouther Ben Hania, 2020), in dem der syrische Protagonist und Flüchtling Sam Ali (Yahya Mahayni) selbst zum Kunstwerk wird, um nach Belgien reisen zu können und die Frau, die er liebt, wiederzusehen.

„Because in the times we are living, the circulation of commodities is much freer than the circulation of a human being. Thus by transforming him into some kind of merchandise, he now will be able […] to recover his humanity and his freedom.“

So sagt es der fiktive Künstler Jeffrey Godefroi im Film, nachdem er Sam ein riesiges Bild auf den Rücken tätowiert hat, um dieses ‚lebende Kunstwerk‘ danach in Museen auszustellen. Das Motiv: Ein Schengen-Visa. Ein sehr mächtiges Stück Papier, gerade im Bezug auf Grenzübergänge. Ist man einmal im Schengenraum, werden einem dort die allermeisten Zollkontrollen erspart. Die Brillanz der Implikationen des Kunstwerkes ist unbestreitbar, die Methodik wiederum nichts anderes als verwerflich. Spätestens in dem Moment, in dem das Kunstwerk, mit dem dieser lebende Mensch untrennbar verbunden ist, bei einer Auktion versteigert wird, werden die Parallelen zur Sklaverei, der extremsten Form der Objektifizierung und Entmenschlichung, unverkennbar. Sam lässt sich aber an keinem Punkt die Menschlichkeit nehmen und die Auktion ist genau der Punkt, an dem er sich die Vorurteile gegenüber seiner Heimat zunutze macht und ein Attentat vortäuscht, um mit einem Schrei seine absolute unantastbare Menschlichkeit zu deklarieren. Im Laufe des Films immer wieder zum Gegenstand verdammt, immer angehalten, nur dazusitzen, sein Gesicht zu verbergen, weigert er sich, gänzlich zum Objekt zu werden. Mit Hilfe des Künstlers, der Person, der ihn ursprünglich zum Objekt gemacht hatte, holt er sich seine Menschlichkeit zurück, indem er seinen Tod vortäuscht und eine falsche Haut mit einer Kopie des Tattoos im Museum aufgehängt wird. In einem Land voller Krieg zu leben ist Sam lieber als auf Kosten seiner Menschlichkeit reich zu sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob er ein Kunstwerk ist oder einfach nur der Fremde.

The Man Who Sold His Skin (Kaouther Ben Hania, 2020)

Die Kunst, die doch eigentlich Grenzen überbrücken soll, wird viel zu oft über den Menschen einer anderen Herkunft gestellt. Die Kunst, welche missbraucht wird, um Menschen weiter abzugrenzen anstatt ihre Funktion der Überbrückung zu erfüllen, ist ein wichtiger Aspekt in den genannten Filmen. Der Mensch ist der Schöpfer der Kunst, ohne ihn kann sie nicht sein. Der migrierende, fremde Mensch wird aber in eine Position unter ihr gezwungen, wird selbst zur Kunst oder braucht sie, um seine Existenz vor den Augen Einheimischer zu rechtfertigen. Diese Missstände werden zurecht durch die Filme eingeordnet und verurteilt, teilweise mit klaren Selbstreferenzen. Der Film rückt die Kunst, damit sich selbst, zur Seite und der Mensch rückt wieder in den Vordergrund, der es ohne Bedingung verdient, zu leben, egal wo – und zwar ohne zu leiden.

Das Essay entstand im Rahmen des Seminars „Migrationskonzepte im Film: osteuropäische und internationale Kontexte“ (Dr. Maria Zhukova / Dr. Innokentij Urupin, Universität Konstanz, WS 2023/24)

Susanne Kirsch, University of Konstanz

 

Edited by: Anush Yeghiazaryan, University of Konstanz and Olga Burenina-Petrova, University of Zurich & University of Konstanz

 

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