MICHAIL SCHISHKIN IM GESPRÄCH MIT KONSTANZER SLAVISTEN – ADELYA SHREDER

Am 16. Februar 2022 fand in der Stadtbibliothek Konstanz das lang erwartete Treffen mit dem Schriftsteller Michail Schischkin statt. Seit 1995 wohnt Michail Schischkin in der Schweiz; Russisch und Deutsch sind seine Arbeitssprachen. Die Gelegenheit, einen großen Schriftsteller wie Michail Schischkin begrüßen zu dürfen, persönlich zu treffen und seine Denkweise hautnah zu erleben, ist für Studierende und Lektoren der Konstanzer Slavistik Gold wert. Schischkin ist nicht nur als Autor in der konventionellen Buchform gedruckter Romane (Vsech ožidaet odna noč, 1993; Vzjatie Izmaila, 2000; Venerin Volos, 2005; Pismovnik, 2010), zahlreicher Essays und Erzählungen bekannt. Aus seiner Feder stammt auch ein multimediales Digitalbuch Tote Seelen, lebende Nasen. Eine Einführung in die russische Kulturgeschichte, das 2019 im Verlag Petit-Lucelle im schweizerischen Kleinlützel erschien. Das passte hervorragend zum Thema des Literaturabends Digitale Literatur Russlands.

Studierende des gleichnamigen literaturwissenschaftlichen Seminars von Olga Burenina-Petrova stellten im ersten Teil der Veranstaltung moderne russischsprachige Schriftsteller vor, die ihre Werke dem Leser in digitaler Form präsentieren. Es gab Kurzreferate über die Spezifik der digitalen Literatur (Anna Medzhydova), einschließlich der mehrsprachigen Literatur (Maria Mackert), zu den Werken von Boris Akunin (Aleksandra Bondarenko) und Fanfiction-Autoren (Lydia Schlei); zu den Gedichten und Übersetzungen von Ekaterina Velmezova (Filip Milenkov) und Ekaterina Simonova (Katarina Hartmann).

In der Pause durften sich die Teilnehmer des Literaturabends die Neuerscheinungen von Michail Schischkin ansehen, wie den Essayband Bukva na snegu (Ast, 2019) oder das Buch Frieden oder Krieg (Ludwig Verlag, 2019), das aus dem Gedankenaustausch zwischen Michail Schischkin und dem deutschen Auslandskorrespondenten in Moskau Fritz Pleitgen entstanden ist.

Anschließend wurde das Wort an Michail Schischkin übergeben, der das Publikum zum Dialog einlud. Schischkin sprach über die aktive Migration der gut gebildeten russischen Menschen ins Ausland. Es wurde die Frage diskutiert, wie im Ausland lebende Russen ihre russische Kultur bewahren können. Ist es möglich, Russland zu verstehen, wenn man nicht mehr dort lebt? Reicht dafür der Erhalt der Muttersprache aus, oder ist dies bloß eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung? Die entstandene Diskussion ließ mich an Schischkins Essay Spasënnyi jazyk denken. Der Autor bezieht sich auf Elias Canettis biographische Aufzeichnungen. „Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab“, diese Einschüchterungsworte, die den zweijährigen Canetti zum Schweigen bringen sollten, werden im Essay mit Symbolgewicht aufgeladen. Der Gefahr ausgesetzt, im „Klirren des Schwitzerdütsch“ die eigene Muttersprache zu verlieren, entdeckt der Autor seine Muttersprache neu. Die Sprache verwandelt sich aus einem alltäglichen Werkzeug in eine unabdingbare Voraussetzung, auf eine bestimmte Art zu empfinden, zu denken, zu beobachten.

Michail Schischkin sprach weiterhin über Politik und immer wieder kam einem der Gedanke, inwiefern ein Schriftsteller seine Werke mit der modernen Politik verbinden sollte. Leider ließ dieser Abend einige offene Fragen und traurige Stimmung über die dunkle Zukunft, die Michail Schischkin Russland versprach. Keiner konnte daran glauben, dass die düsteren Prognosen des Schriftstellers schon in einigen wenigen Tagen zur Wirklichkeit werden und das Schreckensszenario der russischen Invasion in die Ukraine eine Zäsur in die Gegenwartsgeschichte setzen würde. Es ist wahrlich so, dass „ein Dichter in Russland mehr als ein Dichter“ ist.

Hoffentlich findet das nächste Treffen mit Michail Schischkin bald wieder statt, um die schon angegriffenen Fragen von der Präsenz der Literatur in der digitalen Medienlandschaft, von der Möglichkeit des kulturellen Dialogs und der gegenseitigen Verständigung innerhalb einer Kultur, von der Rettung der Sprache weiter zu diskutieren.

 

Adelya Shreder, University of Konstanz

Edited by Maria Zhukova, University of Konstanz and Anna Krutsch, Educational Institution called „FAB gGmbH für Frauen Arbeit Bildung“, Friedberg

 

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