DER EINFLUSS VON NON-MAINSTREAM KÜNSTLERN IN DER SOWJETUNION IN DEN 1980ER JAHREN: VIKTOR COJ UND «PIRATSKOE TELEVIDENIE» IN DER LENINGRADER UNTERGRUND-SZENE

Vor der Pererstrojka herrschte noch die lange Ära der Stagnation von Brežnev. Kulturelle oder politische Selbstentfaltung war nach sowjetischer Doktrin nicht erlaubt. In den 1980er Jahren schlossen sich verschiedenste Künstler, vorallem Musiker, einer Untergrundkultur an. Die Nähe zur Pop-, Rock- und Punkmusik war wichtig, und Bands wie Akvarium, Pop-Mechanika, Kino, etc beeinflussten sich gegenseitig. Zu jener Zeit galt Rock in der Sowjetunion offiziell als zweifelhafter Trend und beschränkte sich hauptsächlich auf Leningrad. Der damalige Solist Viktor Coj lernte das Bandmitglied von Akvarium, Boris Grebenčšikov kennen, der ihn unter seine Fittiche nahm. Aus dem heute symbolträchtigen Leningrader Kesselhaus «Kamčatka» gingen viele bekannte Musiker hervor, wie beispielsweise Viktor Coj. 1982 brachte die Band Kino ihr erstes Album heraus, welches sich auch politischer Themen annahm: das Lied «Električka» wurde in der sowjetischen Öffentlichkeit verboten, weil es als eine Metapher der Stagnation gedeutet wurde. Viktor Coj, Jurij Kasparjan und Georgij Gurjanov wurden dafür umso beliebter bei der regimekritischen Jugend. «Ja ob«javljaju svoj dom…(Bez«jadernaja zona)» – Ich erkläre mein Zuhause…(zur nuklearfreien Zone) – ist ein anderes Lied, welches dem Anti-Kriegs-Gefühl der sowjetischen Jugend im Afghanistan-Krieg von 1979-1989 entsprach. Bis 1985 waren Bands wie Kino und andere noch in der Aussenseiterrolle, sie spielten ihre Musik im Untergrund. Michail Gorbačjovs neu eingeschlagener Weg mit  «glasnost` i perestrojka» – Offenheit und Umstrukturierung – änderte die Lage: offene und politische Diskussionen wurden in den sowjetischen Medien erlaubt; eine liberalere Zeit wurde eingeläutet. Coj nutzte 1986 die neue Offenheit und veröffentliche das Lied «Hoču peremen» – ich will Veränderungen.

1987 kam für Kino der Durchbruch. Die Veröffentlichung ihres siebten Albums «Gruppa krovi» – Blutgruppe, löste eine regelrechte «kinomanija» aus. Blutgruppe war das bisher politischste Album von Kino und es präsentierte eine Musik, wie sie bisher in der UdSSR noch nicht zu hören gewesen war. Einige Lieder wandten sich direkt an die sowjetische Jugend, forderten sie auf, die Kontrolle zu übernehmen und Veränderungen im Staat einzuleiten. Andere Songs diskutierten soziale Probleme, die das Land verkrüppelten. Coj wurde zum Jugendidol und Helden der russischen Jugend und Kino zur populärsten russischen Rockband. In den folgenden Jahren trat Coj in verschiedenen erfolgreichen Kinofilmen auf, er reiste sogar in die USA, um seine Filme auf Festivals vorzustellen. Zu den bekanntesten Kultfilmen zählen der 1986 erschienene «Konec kanikul» – das Ende der Ferien – von Regisseur Sergej Lysenko, es ist der erste Film mit Coj als Schauspieler. 1987 folgte «Ya-Hha» – ein weiterer Kurzfilm, diesmal vom Regisseur Rashid Nugmanov. Es ist ein kaleidoskopisches Abbild der Leningrader Untergrund-Rock-Szene. Im gleichen Jahr kam «Assa» vom Regisseur Sergej Solovjov heraus, welcher ebenso die Musikszene im Leningrader Untergrund veranschaulichte. Zahlreiche Musiker von Kino, Bravo, Akvarium, etc sind im Film zu sehen. «Assa» wurde zu einem der symbolträchtigen Ereignisse auf dem Weg des allmählichen Heraustretens der Sowjetkultur aus dem Untergrund.

Der bekannteste Film von Coj ist «Igla» – die Nadel, von Regisseur Rashid Nugmanov. Es ist eine Beziehungsdrama im Stile der kasachischen NewWaves, der Hauptdarsteller Moro wird von Coj gespielt. An den Kinokassen sowjetischer Filme belegte «Igla» den zweiten Platz, und beim Golden Duke Film Festival in Odessa wurde Viktor Coj als bester Schauspieler in der UdSSR ausgezeichnet. Coj konnte sich somit nicht nur als Musiker, sondern auch als Schauspieler profilieren.

Am frühen Morgen des 15. August 1990 verunglückte Viktor Coj bei einem Verkehrsunfall tödlich, in seinem völlig demolierten Auto wurde das Band mit dem Gesang für das neue Album gefunden. Es wurde fertiggestellt und erschien unter dem Namen „Čjornyj al`bom“ – Schwarzes Album, welches zweifach Platin erhielt. Aus Verzweiflung über das Ableben von Coj gab es eine Suizidwelle unter Jugendlichen in der Sowjetunion. Der Frontmann der Band Kino war ein Pionier des russischen Rocks. Seine punkige Musik und poetisch-regimekritischen Texte hatten in der Sowjetunion eine große Anhängerschaft. Kino zählte zu den bekanntesten und erfolgreichsten Rock-Bands der sowjetischen bzw. russischen Rockgeschichte. Leider verstarb Coj viel zu früh, und somit endete auch die Ära von Kino.

Es gibt unzählige Andenken an Viktor Zoj: nach ihm benannte Strassen und Plätze, Briefmarken, Wände, Münzen, etc. Auch wurde das Album «Blutgruppe» im Videospiel Grand Theft Auto IV (2008) wiederentdeckt, was für die Popularität der Band ausserhalb der Sowjetunion spricht.

Auf VHS und DVD sind zahlreiche Konzertvideos und Videoslips von Kino erhältlich. 2018 erschien der Spielfilm „Leto“ – Sommer – des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov in den Kinos, der den Anfängen der Karriere Cojs gewidmet ist. Es ist eine genussvolle Inszenierung mit poetischen schwarz-weiss Bildern, es ist eine Hymne an den Freiheitsdrang der Jugend und die subversive Kraft des Rock and Rolls.

Coj war ein Wegvorbereiter für die Pererstrojka und er stand für die vollkommene Freiheit ein, welche nach dem Zerfall der Sowjetunion eintrat, und welche er unglücklicherweise nicht mehr erlebte.

Weitere Kunst am Ende der 1980er Jahre: piratskoe televidenie – das Piraten-Fernsehen

Das parodistische «piratskoe televidenie» entwickelte als Alternative zum Fernsehen in der Sowjetunion der Perestroika verschiedene Fernsehformate, unter anderem Nachrichten, Musikclips, Spielfilme und TV-Serien. Eine wichtige Komponente waren Remixes traditioneller Fernseh-Programme, das manipulative Vermischen oder Zerschneiden der Originalinhalte. Piraten-Fernsehen wurde in Form von VHS-Kassetten verteilt beziehungsweise distribuiert oder während alternativen Künstlertreffen gezeigt, und es wurde zu einem der ersten künstlerischen Streifzüge im sowjetischen Medienbereich.

«Piratskoe televidenie» selbst wurde zum ersten Projekt für neue Medien in der Geschichte der modernen russischen Kunst, es parodierte das offizielle Fernsehen und sendete Nachrichten über das Kunstleben in Leningrad. Piraten-Fernsehen ist eines der besten Beispiele für russisches alternatives Fernsehen, die aktive Einführung des Künstlers in den medialen Massenraum. Laut einem der Organisatoren von «piratskoe televidenie», Timur Novikov, konzentrierte sich das Piraten-Fernsehen auf ein «aufgeklärtes Publikum, das sich für moderne kulturelle Errungenschaften interessiert».

Das Piratenfernsehen stellt sich selbst als Modell für falsches Fernsehen dar, bei dem das «ich» sowohl Zuschauer als auch Performer ist. Die Organisation des Fernsehens wird erreicht, indem die Staatsstruktur der Fernsehprogramme mit einer Veränderung ihrer Botschaft imitiert wird. «Piratenfernsehen» parodierte das Politbüro und untergrub Staatsprogramme, es machte Untergrundberichte und sprach spöttisch von «modernen kulturellen Errungenschaften» in Form einer satirischen Nachrichtenshow.

Vladislav Mamyšev-Monro oder Vlad-Monro, Juris Lesnik und Timur Novikov gründeten 1989 das Medienprojekt «piratskoe televidenie» und haben an der Erstellung des Programms teilgenommen. Die Sendungen wurden von der Drag Queen Vlad-Monro moderiert, der Travestiefiguren – als sein Alter Ego einsetzte. Mit Hilfe von einfachen Kostümen und Make-up schlüpfte er in andere Rollen, welche er unter anderem auch an Konzerten von Pop-Mechanika zeigte, oder in Form der lustigen Videos von «piratskoe televidenie»: ein Meister der Reinkarnationen  in Foto, Video oder live. Er hat es immer geschafft, er selbst zu sein – charmant, offen und witzig. «Die Monro-Doktrin verursachte den Beginn der Perestroika in der Sowjetunion» liess er verlauten. Er war bekannt für seinen Humor, der sich auch in seiner Kunst zeigte. Wenn Politiker zu Witzfiguren werden, ist das «balagan» – ein absurdes Jahrmarkttheater. Auch wenn man sich verkleidet ist das «balagan», ein «Narrentum». Gender ist ohnehin ein Thema bei vielen der Arbeiten von Vlad-Monro. Er war wichtig für Individualismus und künstlerische Freiheit. Er sagte: «Für manche Menschen ist Kunst Kunst, für mich ist Kunst mein eigenes Leben, es ist eine völlig weltoffene Kunst, die keine Grenzen kennt.»

Der Stil von Mamyševs Parodien änderte sich stetig und entwickelte sich weiter. Aus der ersten Inkarnation des Künstlers wurde Vlad-Monro, inspiriert durch seine Heldin Marylin Monroe. der in der amerikanischen Schauspielerin ewige Weiblichkeit und Opferliebe sah. Der Künstler hat auch berühmte Persönlichkeiten wie Dostoevskij, Dracula, den Papst oder Elizabeth Taylor porträtiert und reinkarnierte sich in Jesus, Putin, Charlie Chaplin oder Stalins Lieblingsschauspielerin Ljubov` Orlova. Die sowjetischen Machthaber waren neben anderen Historikern seine ständigen Untertanen, aber er präsentierte auch Karikaturen der russischen Gesellschaft der Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts, von Landwirten bis hin zu Hobbyisten und Kulturvertretern.

Ab 1983 arbeitete er mit der von Timur Novikov gegründeten Künstlergruppe «novye hudožniki» – neue Künstler, unter anderem auch mit Georgij Gurjanov zusammen und leitete eine experimentelle Rockgruppe «novye kompozitory» – neue Komponisten und erfand dafür neue Musikinstrumente. Novikov nahm regelmäßig an Shows des experimentellen Komponisten und Jazzgenies Sergej Kurjochin von Pop-Mechanika teil und arbeitete an seinem Bühnenbild. Mehrere Popgruppen wie Kino arbeiteten mit Novikov zusammen, um ein neues visuelles Bühnenbild zu kreieren.

Timur Novikov war auch als Schauspieler und Künstler an zahlreichen Filmprojekten beteiligt und machte sich als innovativer Filmdesigner einen Namen Novikov war praktisch der erste Medienkünstler der Sowjetunion. Er wird als ein international anerkannter Führer der Leningrader Untergrundkunst angesehen. Er nahm aktiv an zahlreichen Kunstausstellungen außerhalb der Sowjetunion teil. Er gilt als einer der einflussreichsten Befürworter der nonkonformistischen Kunst vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Russland.

Vlad-Monro lebte, wie viele andere Künstler, an der Grenze der menschlichen Kräfte. mit ungezügelter Energie und begleitet von etlichen Drogenexzessen. Anstelle der Leinwand benutzte er sich und alles um sich herum. Vlad-Monro war ein Hedonist, und die Tatsache, dass ein Leben in diesem Stil ein großes Risiko bedeutet, war ihm egal.

 

Radivoje Stanković, University of Basel

Edited by: Tomaš Glanc, University of Zurich

 

 

 

 

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert