MUSIK IM EINKLANG MIT LITERATUR UND FILM
Die Band Raskolnikov ist international bekannt. Der Name der Band wurde in Bezug auf das psychologische Porträt der Hauptfigur Rodion Raskolnikov des Romans «Schuld und Sühne» von Dostojevskij gewählt. Zentral sind dabei die vom Dichter aufgeworfenen sozial-philosophischen Fragen, wie etwa die nach dem Bösen, dem Sinn der physischen und psychischen Schmerzen, der Legitimität von Gewalt, der Unumkehrbarkeit und der unmöglichen Erlösung. Auch weitere Referenzen der slavischen und russischen Literatur wie Gogol, Bulgakov oder Tolstoj sind für die Kunst der Band relevant. Die Band ist ein sehr interessantes multimediales Phänomen in der zeitgenössischen Kunst, da sie sich in ihrem Schaffen nicht nur an der musikalischen Kunst, sondern auch an Literatur, Philosophie, Malerei und Kino orientiert. Diese Eigenschaft zeigt sich nicht nur in der Musik selbst, sondern auch in der Gestaltung der Musik-Alben. Zum Beispiel besteht das Cover aus einer Collage, die im Vordergrund die drei Gorgonen von Gustav Klimt und ein Porträt von Emile Zola zeigt. Mathieu Spiechoyicz, der Gründer der Gruppe, sieht diese Figuren als Kampf zwischen zwei fanatischen Kräften, die um die Begriffe «Wahrheit», «Gut» und «Böse» streiten. Für Mathieu Szpiechowycz ist das „der Kampf vom Kitsch des Fortschritts gegen den reaktionären Kitsch“, „eine Art, das aufzugreifen, was Milan Kundera als Kitsch bezeichnete – die Verneinung von Idiotie“. In diesem Interview erfahren wir mehr über die Band Raskolnikov und den Musiker Mathieu Szpiechowycz.
J.W.: Zu Beginn unseres Gesprächs möchte ich Sie bitten, uns ein wenig über sich selbst zu erzählen. Ihr Leben ist sehr interessant und vielseitig. Sie sind in Frankreich geboren und sind nicht nur Musiker, Sänger und Komponist…
M.S.: Ich komme ursprünglich aus Reims in der Champagne, wo ich auch aufgewachsen bin. Ich habe in Lyon Handel, interkulturelle und internationale Beziehungen studiert. Ich spreche Französisch, Italienisch, Deutsch, Englisch, ein wenig Spanisch, Polnisch und lerne jetzt Russisch als Gasthörer an der Universität Konstanz.
Ich bin Büroangestellter in einem Industrieunternehmen im Thurgau und übersetze geschäftliche und technische Inhalte aus dem Deutschen ins Französische, Englische und Italienische. Ich lebe seit zehn Jahren in Kreuzlingen.
Nebenbei bin ich Musiker; ich komponiere auf der Gitarre und dem Bass und schreibe Texte hauptsächlich auf Englisch. In letzter Zeit hatte ich den Wunsch, Texte von Autoren in der Originalsprache zu interpretieren. Mit zwei befreundeten Musikern gründeten wir 2015 die Band Raskolnikov in Genf und nahmen drei Alben auf, die 2017, 2020 und 2024 erschienen.
Vor einigen Jahren bekam ich eine ins Französische übersetzte Gedichtsammlung von Vladimir Majakovskij geschenkt. Ich mochte diesen Autor, von dem ich nur wenig wusste, sehr. Voznesenie hat mich sehr bewegt. Ich wollte es schnell in der Originalsprache, dem Russischen, vortragen. So entschied ich mich, Russisch als Gasthörer an der Universität Konstanz zu lernen.
J.W.: Gab es ein besonderes Schema, indem die Ausschnitte aus den verschiedenen Filmen gewählt wurden?
M.S.: Ich habe mir einige Wochen vor der Bearbeitung des Videos Voznesenie verschiedene Filme und Serien, z. T. auf Literaturbasis, in voller Länge angesehen und mir gemerkt, welche Szenen ich wann verwenden wollte. Für diesen Text von Majakowskij, der in eine unserer Kompositionen integriert ist, wollte ich Bilder aus russischen oder sowjetischen Filmen verwenden. In diesem Fall wollte ich auch Szenen und Sequenzen finden, die in St. Petersburg spielen würden, genau wie dieses Gedicht.
Manchmal denke ich an ein bestimmtes literarisches oder filmisches Werk, wenn ich einen Text schreibe oder wenn die musikalische Komposition fertig ist. Sonst entwerfe ich für Videos ein Drehbuch in meinem Kopf, was seit meinen frühen Jahren häufig vorkommt. Ich versuche dann Szenen zu finden, die dem, was ich im Kopf habe, so ähnlich wie möglich sind. Das kann eine Weile dauern, oder manchmal habe ich auch Glück und mir kommen die Ideen schnell.
Ich verfolge zwei Dinge, die Hand in Hand gehen: Die Intention des Textes und die Intention der Musik. Oft ist die Intensität die gleiche.
Ein Beispiel dafür ist der erste, einige Sekunden dauernde Abschnitt des Voznesenie-Videos, der eine Szene aus der Serie von Dmitrij Svetozarovs Schuld und Sühne aus dem Jahr 2007 aufgreift (Rodion Raskonikov wird wunderbar von Vladimir Koshevoy gespielt). Ich habe Szenenfragmente ausgewählt, die im richtigen Moment die Emotionen wecken, die Musik und Text hervorrufen sollen. Es handelt sich um den Moment, in dem sich eine junge Frau von einer Brücke stürzt, während Rodion Raskolnikov scheinbar teilnahmslos zuschaut.
J.W.: Gab es dazu eine besondere Reihenfolge?
M.S.: Manchmal gibt es eine chronologische Reihenfolge, manchmal nicht, je nachdem, welche Filmsequenzen ich herausgeschnitten habe. In den meisten Fällen wurde dies tatsächlich so gemacht.
Ich denke in dem Moment über die Reihenfolge nach, in dem ich merke, dass eine Szene perfekt zu einem bestimmten Moment im Lied passt. Ich schreibe es auf oder behalte es in einer Ecke meines Kopfes.
In dem Video Viy, das Bilder aus dem gleichnamigen Film von Georgij Kropachyov und Konstantin Yershov aus dem Jahr 1967 enthält, hatte ich eine positive Überraschung, als ich Momente herausschnitt, in denen die Lippenbewegungen von Natalia Varley, die Pannotschka spielt, perfekt mit dem – dieses Mal – auf Englisch gesungenen Text übereinstimmten. Dies kommt nur selten vor.
Bei einem Video, in dem die Band im Studio oder auf der Bühne spielt, gibt es zwangsläufig eine Reihenfolge: Wir haben das Stück dreimal gespielt, und die beiden Kameraleute haben uns alle drei gefilmt. Die Reihenfolge folgt in dem Fall zwangsläufig der Musik.
J.W.: Warum wurden genau diese Ausschnitte aus den Filmen gewählt?
M.S.: Ein gelungener Film, ein Gemälde, ein Gedicht oder ein Lied ist ein Werk, das bei Ihnen Emotionen auslösen wird. Ein Video, das einen vertonten Text begleitet, muss die Emotionen, die man vermitteln will, tatsächlich verstärken oder sogar verzehnfachen.
In den Filmfragmenten, die ich verwende, besteht der Wunsch, den Text und die Musik zu unterstützen. Das russische und sowjetische Kino ist sehr reichhaltig und ich hatte das Glück, sehr große Werke zu entdecken, die von großartigen Schauspielern gespielt und von ausgezeichneten Regisseuren inszeniert wurden. Und ich mache weiter; ich schaue mir Filme in der Originalversion auf Russisch, mit französischen Untertiteln an. Das hilft mir, die Aussprache und die gängigen Ausdrücke zu lernen. Aber ich habe noch viel Arbeit vor mir, bis ich es fließend verstehen und sprechen kann.
Im Video von Voznesenie gibt es Ausschnitte aus verschiedenen Filmen, Filme, die mir in den letzten Monaten besonders gut gefallen haben; es gibt die Serie Schuld und Sühne von Dmitrij Svetozarov (2007), Gorod Zero von Karen Chakhnazarov (1988), die Serie Мaster i Margarita von Vladimir Bortko (2005) einen sehr kurzen Ausschnitt aus Tsareubiitsa von Karen Chakhnazarov (1991) und einige Sequenzen, die in der U-Bahn und auf den Straßen von St. Petersburg von Videokünstlern gedreht wurden, stpetersburgwalker (2024) und Ambiance of Saint Petersburg (2023). Ich habe mehrere Bilder aus diesen verschiedenen Werken ausgewählt, um den Ton zu illustrieren, den dieses Gedicht von Majakowskij in mir hervorgerufen hat. Bei Majakowskij gibt es diese abstrakten Begriffe, die auf geniale Weise Leidenschaft und Melancholie heraufbeschwören. Ich wollte diese Interpretation mit Bildern illustrieren, die mir passend erschienen.
J.W.: Haben die Orte, an denen die Band gefilmt wurde, eine besondere Bedeutung für die Songs? Haben sie einen spezifischen Zusammenhang zu den Videoausschnitten?
M.S.: In Bezug auf die frühen Videos der Band, wie z. B. Stockholm I und II, Poddanie Bezwarunkowe oder zuletzt Masterfreak, ja; es gibt eine besondere Bedeutung, die den Text begleitet. Es ist schon vorgekommen, dass ich mit den Jungs am Wochenende 1000 km gefahren bin, um zwei Stunden lang zu drehen und dann nach Hause zu fahren. Warum dort? Da steckte doch eine besondere, eher private Absicht dahinter. Es ist vollkommen pathetisch, albern und unnötig, aber ich bin froh, dass ich es getan habe. Und genau das ist es, was der Text erzählt. Und das Publikum kann sich ohnehin eine ganz andere, persönlichere Bedeutung aneignen, wenn es sich ein Video ansieht und ein Lied anhört.
Es gibt einen Bezug zu den Werken, die ich gelesen habe und bei denen mir die Verfilmung wirklich gefallen hat. Ich denke da an die Serie Master I Margarita von Vladimir Bortko aus dem Jahr 2005. Vij hat auch etwas Besonderes, I don’t want to see the doctor today, mit den Bildern aus dem Film Marc’Antonio e Cleopatra von Enrico Guazzoni 1913. Ich mag das Tragikomische; was ich mache, muss nicht unbedingt nur rein melancholisch und oder romantisch sein. Ich lache gerne, besonders über die Groteske und die Ironie des Lebens, und manchmal passen bestimmte Filmausschnitte extrem gut zu unseren Liedern.
J.W.: Inwiefern fließt der musikalische Stil in den Charakter von der Videos hinein?
M.S: Ich würde sagen, dass es eher der Stil des Films ist, der mit der Musik zusammenpasst der nicht. Das macht die Suche sehr interessant. Ich denke, es geht vor allem um den Rhythmus und weniger um den Musikstil. Die Stummfilme der 1900er und 1920er Jahre sind ein sehr gutes Beispiel. Dies ist eine sehr interessante Übung, da diese Filme bereits von Musik begleitet wurden. Es war die Musik, die sich dem Rhythmus, der Intensität und den Emotionen, die von den Schauspielern gespielt wurden, anpasste. Bei neueren Werken verlässt man sich auch auf den Rhythmus der Bilder und die Bewegungen und Ausdrücke der Schauspieler. Bei der Bearbeitung eines Videos zu unserer Musik ist es meine Aufgabe, die richtigen Sequenzen und Einstellungen zu finden, die die verschiedenen Teile eines Liedes am besten illustrieren. Ich baue immer Bilder aus Filmen ein, die einen literarischen oder emotionalen Bezug zum gesungenen oder rezitierten Text haben.
Musik zu komponieren ist eine Chance, eine Absicht, eine Emotion, die in deinem Bauch und in deinem Gehirn eingeschlossen ist, nach außen zu bringen. Das funktioniert nicht jedes Mal! Manchmal legen Sie eine Idee für lange Zeit beiseite oder werfen sie weg; wie bei einem Text oder einem plastischen Werk. Manchmal brauchen Sie nur ein paar Minuten. Einen Text zu integrieren, ist doppelt heikel. Bei uns ist es der Text, der die Musik begleitet – normalerweise komponiere ich zuerst und schreibe parallel dazu auf lose Blätter, wenn mir eine Idee kommt. Dann nehme ich meine Notizen wieder auf und versuche, Reime und Rhythmen zu finden, die zu der Farbe passen, die die Musik vorgibt. Bei den Bildern, die ein Lied begleiten sollen, gehe ich genauso vor. Ich wähle die Sequenzen aus, die die Komposition und den dazugehörigen Text am besten illustrieren.
J.W.: Vielen Dank für das Gespräch!
RASKOLNIKOV – VIJ
From the album Lazy people will destroy you Manic Depression Records / Icy Cold Records 2020, Music by Raskolnikov Lyrics by M. P. Szpiechowycz
RASKOLNIKOV – VOZNESENIE
Music from Raskolnikov Produced, recorded, mixed by Jaime F. da Costa Text. From the part Voznesenie Mayakovskogо Vladimir Mayakovsky’s poem The Man 1916-1917
RASKOLNIKOV – MASTERFREAK
New single from the French-Swiss-Spanish post-punk trio, announcing a new EP in spring and a third album for autumn 2024. Music by Raskolnikov Lyrics by M. Szpiechowycz
© Mathieu Szpiechowycz, © Band Raskolnikov
Interview conducted by: Juliana Wiemer, University of Konstanz
Edited by: Anna Medzhydova, University of Konstanz and Olga Burenina-Petrova, University of Zurich & University of Konstanz