You can call him another man mit Maria Kapajeva in Konstanz: Studentischer Workshop und Ausstellung
Wenn man einen heutigen Jugendlichen in Russland fragt, was der TV-Bildschirm auf dem oben angeführten Foto zeigt, dann würde er sich vielleicht an die Serie The X-Files erinnern oder sogar an die Creepers aus dem Computerspiel Minecraft denken. Dagegen sollte der sowjetischen «Fernsehgeneration» aus den 1970ern-80ern das Sujet mehr als geläufig sein, da die Übertragungen der Synchronschwimm- (auf dem Bild) genauso wie der Eiskunstlaufwettbewerbe zum begehrten Sujet des sowjetischen Zentralfernsehens gehörten – und somit auch zum kulturellen Gedächtnis (Halbwachs) der Nation, das heutzutage in Form der «reflektierenden Nostalgie» (Boym) in unterschiedlichen künstlerischen Unternehmungen zur Erscheinung kommt.
Das Projekt You can call him another man (2018 bei Kaunas Photography Gallery, Litauen als Buch erschienen) der aus der estnischen Grenzstadt Narva stammenden Maria Kapajeva, die zur Zeit in London lebt und arbeitet, scheint auch der Vergangenheit zugewandt zu sein. Das matt blitzende schlichte Metallgestell des Sprungfederbettes einer studentischen obščaga, verschwommen wirkende kantige Gläser samt den Resten der Salzgurkenlake am Tisch, früh morgens nach der Party; ein witziges Unterhaltungsszenario zwischen den Kiefern an der sandigen Meeresküste; auf der mit floralen Mustern verzierten Tapetenwand Šiškins Roggen (1878) – seit den 1950ern ein konstanter visueller Bestandteil der Fibel Rodnaja reč; die avantgardistisch anmutende Komposition mit zwei Degenfechtern vom Umschlag eines westlichen Magazins für November 1961; aus den weißen Tüllvorhängen schaut die armenische Kammermusik-Grazie Zara Doluchanova von den Seiten einer Rabotnica oder Ogonëk heraus; angelehnt an die verstaubten Physiklehrbücher – das belichtete Photo der Liverpool Four, ein Gruß von der sowjetischen Undergroundkultur. Die Liebe zum Detail und gut erkennbare ikonographische Kodierungen setzen die Erinnerungsmechanismen eines in die sowjetische Wirklichkeit eingeweihten Betrachters prompt in Bewegung – und das nicht zu Unrecht, da die Grundlage des Buches Hunderte von alten Negativen bilden, die aus der Zeit zwischen 1966 und 1974 stammen, durch Zufall im alten Pfannenkarton entdeckt, dem Vater der Künstlerin gehören und noch vor ihrer Geburt entstanden sind.
Die im Buch präsentierten Fotonarrativen erzählen aber viel mehr als nur der Vergessenheit entrissene Privatgeschichten aus dem sowjetischen Estland. Anhand von Italo Calvinos treffenden Zitaten aus dem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht (ital. Se una notte d’inverno un viaggiatore), 1983 und den präzisen Auswahlkriterien in Serien zusammengefügt, betreten sie die weiten Felder des Transgenerationellen und Allgemeingültigen. Sie erzählen von Mann und Frau, Tod und Leben, von der städtischen Zivilisation und ihr gegenübergestellten freien Natur, vom Lauf der Zeit, vom Eigenen und Fremden, aber auch vom Großen und Kleinen, dem Gesamtbild und dem Fragment, das die Fotografie als Medium so gut manipulieren kann.
Zu einem der Manipulationsobjekte wird in diesem Fotoprojekt das sowjetische Fernsehen, was dieses auch für das im Juni 2019 an der Universität Konstanz stattgefundene Blockseminar Photography Representing Television in East and West: From Theory to Praxis interessant macht. Ein gutes Viertel aller Bilder im Buch (genau 17 von insgesamt 74) stellen diverse Repräsentationen des Fernsehgeräts dar, die an die berühmte Serie Hotel Rooms von Lee Friedlander aus den 1960er Jahren denken lassen. Wenn aber der amerikanische Fotograf sich auf die Suche nach der Vielfältigkeit der Berührungen zwischen der elektronischen Bildmedialität des TVs und dem Interieur eines anonymen Hotelwohnraumes begibt, handelt es sich bei dem russischen Autor um das immer gleiche TV-Gerät Voronež (Produktion von Ėlektrosignal), das dank der Riesendiagonale des Bildschirms 43 cm (die meist verbreitete Marke Rekord zählte nur 36 cm) – unter den Bürgern sehr begehrt war. Die Aufmerksamkeit des Fotografen gilt nicht dem Fernsehdispositiv, sondern einzeln und alleine dem leicht abgerundeten Bildschirm von Voronež und den sich darauf abbildenden Szenarien, den populären Sport- und Unterhaltungssendungen, die zu der Zeit noch öfters live übertragen wurden.
Die Fotografie, die close-ups der TV-Übertragung fixiert, erfüllt in diesem Projekt nicht nur die Funktion der archivierenden, geschichtsschreibenden Instanz. Sie trägt zugleich zur Umdeutung der Medialität des Fernsehens bei: Der Kameraverschluß stoppt den televisuellen flow und offenbart uns dadurch das punctum (Barth), das optisch Unbewußte (Benjamin) der Übertragung, eben das, was wir noch nie auf solche Weise im Fernsehen gesehen haben durften. Somit stellen die Fernsehaufnahmen ein visuelles Unikum in doppelter Hinsicht dar: Zum einen aus der medienhistorischen, zum anderen aus der ästhetischen Perspektive. Die «technische Reproduzierbarkeit» durch die Fotografie gibt der stattgefundenen Fernsehübertragung ihr «Hier und Jetzt» zurück, verleiht ihr eine «Aura» des Momentes und verwandelt sie somit im gewissen Sinne in ein Kunstobjekt. Durch den medialen Einsatz der Fotografie wird das sowjetische Fernsehen auf diesen Aufnahmen seiner politischen, pädagogisch-propagandistischen Aufgabe entbehrt. Wie im Buch dargestellt ist das Fernsehen weder «das mächtige Mittel der kommunistischen Erziehung», noch die «Tribüne, von der die Partei mit dem Volk spricht», sondern ein Kanal der Übermittlung der «reinen» Kunst – eine Vision der sowjetischen TV-Theoretiker, die den «blauen Bildschirm» als eine der Kunstarten betrachteten (vgl. z. B.: Sammelband Iskusstvo golubogo ėkrana, Moskva, 1968). Nicht nur die edle schwarz-weiße Optik, die behutsam erfaßte Faktur der Gegenstände, das bizarre Spiel des Lichts und des Schattens sowie die überraschend wirkende Geometrie der visuellen Inhalte auf den Fotos, sondern auch das Narrativieren dieses Bildmaterials, die Entwicklung auf seiner Basis der Geschichten trägt zur endgültigen Entfremdung des «Bekannten Unbekannten» der sowjetischen TV-Übertragungen bei.
In der dem Wasser gewidmeten Serie (Informationsströme werden schon seit Günther Anders mit dem Flüssigen in Verbindung gebracht, vgl. «Kulturwasserhähne des Radios» aus Die Welt als Phantom und Matrize, 1953,101) handelt es sich in Anlehnung an Calvino um die konstante Verbindung, Kommunikation aller Plätze untereinander («all places communicate instantly with all other places»). Die immer auf der rechten Seite des Buches plazierten Voronež-Bildschirme (gegenüber den Wassermassen auf der linken) gestalten sich als Scharniermechanismen, die diese Kohärenz alles mit allem (den fließenden Substanzen gleich) abzusichern vermögen. Die sich mit den «Wasserdarstellungen» abwechselnden Bildschirme mit den sternförmigen Synchronschwimmern, einem Militärregiment, einem Nilpferd und drei Mensch- Tintenfisch-Szenerien aus den Tiefen des Ozeans (und der Fernsehsendung Klub Putešestvennikov) darauf bringen in die flüssigen «Lebensströme» Struktur und Ordnung, die durch die televisuelle Darstellung der Ziffer Drei (№ 3) auf dem dritten TV-Bildschirm dieser Fotoserie plakativ demonstriert wird. Die konzeptuelle Zusammenführung der Zahl und der figurativen Darstellung erinnert an die Fotokollagen eines Aleksandr Rodčenko oder Gustav Klucis und bestätigt somit auch auf der ästhetischen Ebene die Idee der allumfassenden Kommunikation, hier – zwischen den Zeiten, Orten, Künstlern und Gattungen.
In gewisser Weise folgt diesem Motto der von Maria Kapajeva am 7. Juni 2019 im Café Mondial (Konstanz) veranstaltete Workshop. Im Laufe des Tages durften die StudentInnen des Foto- und TV-Seminars während der künstlerisch-analytischen Studien in der Praxis ertasten lassen, wie sich die Bilder des Familienarchivs verwandeln und die daraus gebildeten Narrativen «a possible portal between an unfinished past and a reopened future» (Foster, H. An Archival Impulse. In: October, 110, 2004, 3-22, p.15) erbauen – eines der Ziele, das Maria von ihren interaktiven Aktionen und Workshops mit den fotografischen Second-Hand-Materialien (wie etwa mit dem gleichen Archiv in der Fotogalerie in Kaunas 2017) erhofft.
Der ästhetisierte Voronež-Bildschirm mit gemütlich anliegenden gestreiften Vorhängen im Hintergrund (man pflegte in der Sowjetunion das Fernsehgerät in die Ecke vor dem Fenster zu stellen) wird auch in den studentischen Projekten zu einem nicht unwichtigen Manipulationsobjekt.
Erwin Dorn konzentriert sich auf der Problematik des Inneren und des Äußeren. Der vertikal ausgerichteten, in die Höhe strebenden Sphäre des Individuellen, die durch die Darstellungen der auf sich selbst fokussierten Personen (einer meditierenden, einer lesenden und einer in den Spiegel schauenden) verbildlicht wird, steht der Öffentlichkeitsraum gegenüber, der durch die Prävalenz der TV-Bildschirme markiert ist. Die strahlenden Gesichte der sowjetischen TV-Stars Jurij Gagarin und Ėdita Pjecha verdoppeln und vermehrfachen sich, indem sie die Terrains der Alltagswelt in Gestalt der anthropomorphisierten Fernsehbildschirme (der «Kopf-Kineskope», wie etwa in der Serie Phantom Limb Photographs 1980-1990, von Lynn Hershman Leeson) betreten, während die sich selbst zugewandten, auf das Innere konzentrierte Protagonisten des mittleren Bereiches dieser Installation anonymisiert werden. Haben sie unter dem unausweichlichen Drang der Massenmedien ihr Gesicht verloren oder zeugt die vom Autor grafisch unterstrichene Weiße der Gesichte von einer geschickten Maskierung und der zugespitzten Konzentration auf sich selbst, auf «seeking a pattern, a route that must surely be there» (Calvino)?
Das Problem der Persönlichkeit, des Seins und Scheins steht im Zentrum der Installation von Adriana Clemente. Woraus setzt sich unsere Erinnerung an jemanden zusammen? Und verwischt sich nicht das «wahre Gesicht» durch die visuelle Überlappung, das Aufeinanderreihen der medial, darunter auch televisuell vermittelten Bildströme, aber auch der Erinnerungen der anderen, die wie «smoke under the lamps» unsere visuelle Vorstellung von jemandem beeinflussen und gleichzeitig verstellen?
Nicht zu kurz kommt in studentischen Installation die Liebe. Der Wirbelsturm der Erinnerungen an eine geheimnisvolle «Sie» im Projekt von Pascal René Herrmann reimt sich mit den lustvoll-erotisch anmutenden Darstellungen eines liegenden Frauentorso mit freiem Haar. Dem Max Renn, der handelnden Person aus David Cronenbergs Videodrom, 1983 nicht unähnlich, stürzt der Protagonist in die verlockenden Tiefen der obsessiven visuellen Vergnügungen hin: Das auf der Oberfläche der Wassermassen plazierte Fernsehgerät schmunzelt seine Opfer mit gierig leuchtenden Äugelein an und verlockt mit dem lüsternen rot markierten Streifen an der Stelle des Mundes – wohl einem Zeichen der verzehrenden Begierde.
Kristina Kisling wendet sich an Ophelia-Sujet und lässt uns auch an Liebe, Wahnsinn und Leidenschaft, die im Wasser ihr Ende finden, denken. Dabei zeichnet sich die fatalistische Romantik der städtischen Shakespeareheldin durch neue Requisite: Den Blumenkranz ersetzt der bunte Lichthof, zusammengesetzt aus den visuellen Restbeständen der digitalen Medien. Der estnische Hintergrund der Fotomaterialien ruft im Bezug auf dieses kanonische Sujet der Weltliteratur eine dichte Schicht der fernsehbezogenen Assoziationen hervor. An der estnischen Küste des Finnischen Meerbusens, nicht weit von der Siedlung Keila-Joa bei Tallinn entstanden in den 1960er Jahren die Dekorationen des dänischen Schlosses Elsinore: Hier wurde zum 400en Geburtstag von Shakespeare die erste und berühmteste russische Verfilmung von Hamlet (Regie: Grigorij Kozincev, 1964) nach der Übersetzung von Boris Pasternak und mit Musik von Dmitrij Šostakovič gedreht. Auch in seinem König Lear (1971) blieb Kozincev den estnischen Landschaften treu und verewigte die Umgebung von Narva und die Festung Ivangorod, die dem Film-und Fernsehzuschauer die Atmosphäre des mittelalterlichen Englands vermitteln sollten.
In ihrer Deutung des Fernsehens als eines Kampf- und Schlachtfeldes nähert sich Siqi Li an die theoretischen Überlegungen von Jean Baudrillard oder Paul Virilio, der behauptet, dass Medientechnologien aus den kriegstechnischen Erfordernissen entstehen und somit die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln darstellen. Von den Szenen der kämpfenden Degenfechter wie von einem Nimbus umringt strahlt der Voronež-Bildschirm das dem russischen Zuschauer gut bekannte Motiv aus – eine Baletttänzerin, die an Tschaikowskis Schwanensee denken lässt. Während der politischen Umbruchszeiten (eines Generalsekretärwechsels oder des Augustputsches 1991) hat traditionell die Schwanenseeübertragung das Fernsehprogramm gefüllt, die seit der Zeit zum Zeichen der politischen Transformationen wurde. «The past is closed», lautet das diese Installation begleitende Zitat aus Calvino. Und setzt sich fort: «What if he showed up again?»
Das Café Mondial wurde zum Ort, wo künstlerischer Prozess und Denkprozess zusammenflossen: Die von Studierenden angewandte Collagentechnik hat das unerschöpfliche Potential des privaten Familienarchivs ans Licht gebracht. Die mit Kleister und Schere ausgeführten Kompositionen widersprechen dem allgemeinen Digitalisierungsdrang und atmen nicht zuletzt durch diese Handwerklichkeit neue Sinngebungen in die dem sowjetischen Estland entstammenden Privatbilder ein, lassen sie transnational gültig und zeitkonform erklingen, so dass – mit Susan Sontag gesprochen – durch die fotografischen Aufnahmen auch die Zukunft in einem gewissen Sinne des Wortes entwickelt wird.
Maria Zhukova, University of Konstanz
Fotos: Maria Kapajeva, London