Schrift, Lautsystem, Wortschatz

02 Das Lautsystem

 

A) Voranmerkung zur Palatalisierung

Schon im vorangehenden Kapitel haben wir die «harten», «weichen», «palatalen» oder «palatalisierten» Konsonanten erwähnt. Unter Palatalisierung versteht man in der Phonetik allgemein, dass durch Hebung des Zungenrückens in Richtung des harten Gaumens palatale Konsonante entstehen, was in der Regel durch Kontakt mit dem Phonem ​[j⁠]​ (bzw. auch [i] und [e] – häufig auch als [´] dargestellt) geschieht. Im BKMS und dem Russischen weisen die Konsonanten j / й [j] und die Vokale i / и [i] und е [e] diese phonetische Fähigkeit auf[1], wobei im Russischen die weiteren weichen Vokale – я, ю, ё – und das Weichheitszeichen ь hinzukommen und die Palatalisierung – „Erweichung“ – der Konsonanten hervorrufen.

In beiden Sprachen müssen allerdings die palatalen von den weichen Konsonanten unterschieden werden:
Im BKMS sind alle weichen Konsonanten (ć, đ, j, lj und nj) zugleich palatal, aber es gibt weitere palatale Konsonanten, die auch durch Hebung des Zungenrückens (oder eher der Zungenseiten) in Richtung des harten Gaumens entstehen, die aber ihren ursprünglichen weichen Charakter verloren haben und hart geworden sind (č, , š, ž).
In der russischen Phonetik wird nur das й als palataler und zugleich stets weicher Konsonant eingeordnet, aber die postalveolaren (manchmal auch als palatoalveolaren bezeichnet) ч und щ sind auch immer weich auszusprechen, wohingegen ш und ж immer hart bleiben.

Beim Lesen der Texte, die die Palatalisierung behandeln, ist es wichtig, sich zu vergewissern, ob die Texte unter „palatal“ „weich auszusprechen“ verstehen, oder sich auf den Ort der Lautbildung in der Mundhöhle beziehen. Zugleich darf man nicht vergessen, dass, wenn im Russischen ein Konsonant palatalisiert wird, dies bedeutet, dass er weich ausgesprochen werden soll.
Im BKMS hingegen sind zwei Lautänderungen zu beachten, die in der Literatur häufig als die erste und die zweite Palatalisation/Palatalisierung bezeichnet werden – die letztere wird in den neueren Grammatiken und Fachtexten meistens Sibilarisierung genannt –, bei denen die Vokale e und i zu Konsonantenänderungen führen, wobei aber kein einziger Konsonant weich wird: Bei der (ersten) Palatalisierung werden z. B. die Velare k, g und h vor –e und an gewissen Stellen vor –i zu den Palatalen č, ž und š (also: sie werden palatal – im Sinne des Bildungsorts –, aber sie bleiben hart) und bei der Sibilarisierung (der zweiten Palatalisierung) wechseln dieselben Velare vor dem Vokal –i zu Dentalen c, z und s, was bedeutet, dass sie nicht am Palatum entstehen.

Warum spricht man also doch von den Palatalisierungen, obwohl im BKMS dabei keine weichen Konsonanten entstehen? Einige Wortformen in modernen slavischen Sprachen stellen die „versteinerten“ Folgen der früher durchgeführten Palatalisierungen dar – unter „früher“ ist die Phase vor der Ausdifferenzierung der einzelnen slavischen Sprachen zu verstehen, das sog. Urslavische. So bedeutet die Palatalisierung bezogen auf das Urslavische und auf das moderne BKMS und Russische nicht ganz dasselbe: im Urslavischen haben alle vorderen Vokale die erste Palatalisierung der Konsonanten к, г und х (k, g, h) zu ч, ж und ш (č, ž, š) ausgelöst, was im BKMS und im Russischen an den Wortformen wie z.B. okooči / окоочи, uhouši / ухоуши, mogumožeš / могуможешь ersichtlich wird. Diese palatalisierten Formen werden also automatisch beim Lernen verinnerlicht, während die Palatalisierungen, die russische Konsonanten weich machen, sowie die, die regelmässige Lautänderungen in der BKMS-Flexion hervorrufen, fortlaufend im Hinterkopf behalten werden müssen, denn an ihre Anwendung muss man zunächst regelmässig denken.

B) Die Vokale und Konsonanten im Vergleich

PDF: Vokale BKMS Russisch

Eine tabellarische vergleichende Übersicht der Vokale in beiden Sprachen, mit wichtigsten Informationen zu ihrer Aussprache (besonders wichtig fürs Russische!), finden Sie im PDF-file.

Im BKMS gibt es fünf Vokale, die meistens klar und offen ausgesprochen werden. Zu leichten Vokalreduktionen kommt es im immer unbetonten Auslaut der zwei- oder mehrsilbigen Wörter. Regional werden Vokale manchmal auch in anderen unbetonten Positionen reduziert ausgesprochen (charakteristisch ist z.B. die Reduktion des unbetonten Vokals [i] im gesprochenen Bosnischen), aber es gibt keine standardisierten Vokalreduktionen wie im Russischen. (Der Konsonannt r kann im BKMS auch betont werden und die Rolle eines betonten Vokals übernehmen (vgl. cȓn – schwarz, kȓv – Blut, zavŕšiti – beenden), dann spricht man vom „silbentragenden r“ – slogotvorno r).

Im Russischen zählt man 10 Vokale, wobei fünf von ihnen die weichen Entsprechungen der harten Vokale darstellen.

BKMS / БЦС a e i / и o u / у
Russisch hart a э ы о у
weich я е и ё ю

Die weichen russischen Vokale (ausser и [ i ]) werden am Wortanfang, nach anderen Vokalen und nach ъ oder ь jotiert, d.h. sie werden mit einem hörbaren vorangehenden Laut [ j ] ausgesprochen. Nach Konsonanten dienen weiche Vokale der Palatalisierung dieser Konsonanten, was bedeutet, dass der Laut [ j ] nur noch schwach hörbar ist und dass der Konsonant weich ausgesprochen wird.
Im BKMS werden die Vokale nicht in „hart“ oder „weich“ eingeteilt, wobei aber die Vokale i und e eine wichtige Rolle in der Entstehung der palatalen und weichen Konsonanten spielen bzw. sprachhistorisch gesehen gespielt haben. Im modernen BKMS muss man aber beim Lesen nicht darauf achten, welcher Vokal nach welchem Konsonanten kommt: gelesen wird immer so, wie es geschrieben ist. Ausserdem ist wichtig, dass es im BKMS keinen Laut gibt, der dem russischen harten Vokal ы entspricht.

 

 

 

 

 

(Angepasst nach Reddit)

 

PDF: Konsonanten BKMS-Russisch

Eine tabellarische vergleichende Übersicht der Konsonanten in beiden Sprachen, mit wichtigsten Informationen zu ihrer Aussprache (besonders wichtig fürs Russische!), finden Sie im PDF-file.

 

 

Im BKMS gibt es 25 bzw. im Montenegrinischen 27 Konsonanten. Im Russischen sind es – da ь und ъ weder Konsonante noch Vokale darstellen – 21.
Da die Buchstaben j im BKMS und й im Russischen den gleichen Lautwert haben – [ j ] -, entfällt der Unterschied auf fünf (bzw. mit den montenegrinischen ś und ź sieben) BKMS- und einen russischen Konsonanten, wobei die meisten weich sind:

BKMS / БЦС weich ć / ћ đ / ђ lj / љ nj / њ
BKMS / БЦС hart dž / џ
Russisch weich щ

Im Hinblick auf die Auswirkung der weichen Vokale und des Weichheitszeichens ь auf die Aussprache der russischen Konsonanten, betonen alle Grammatiken, dass gewisse russische Konsonanten ihre Grundeigenschaften nie verlieren, unabhängig davon, in welcher lautlicher Umgebung sie sich befinden. Es sind:

Russisch immer weich й ч щ
immer hart ж ц ш

Alle weiteren russischen Konsonanten sind hart – und werden vor weichen Vokalen und dem ь weich ausgesprochen.

Im BKMS sind dagegen alle Konsonanten immer entweder hart oder weich. Manche harten Konsonanten können auch auf die Qualität der nachfolgenden Vokale und Konsonanten reagieren, aber sie werden nicht grundsätzlich „erweicht“ vor jedem e, i oder j, wie im Russischen, sondern unterliegen gewissen Lautänderungen, unter denen die Palatalisierungen und die Jotierung (siehe Voranmerkung) eine sehr wichtige Rolle neben der Stimmassimilierung spielen.

Beispiel:

BKMS: immer hart ч / č
immer weich ћ/ć
Russisch: immer weich ч

Am Beispiel der Laute und Buchstaben ч / č in beiden Sprachen und des ћ / ć im BKMS kann man sehr gut die feinen Unterschiede in der harten und weichen Aussprache der Konsonanten in zwei Sprachen beobachten: Das russische ч ist „immer weich“, im Unterschied zum immer harten ч / č im BKMS, aber es ist in der Realität auch nicht so weich wie ћ/ć im BKMS[2]. Wenn man beide Sprachen lernt, kommt man sehr schnell zum Schluss, dass das russische ч, gemessen auf der Achse „hart-weich“ die mittlere Position zwischen ч/č und ћ/ć des BKMS einnimmt. (Dies war auch der Grund, weshalb man Mitte des 19. Jahrhunderts ein neues Graphem – lateinisch ć und kyrillisch ћ – in die damaligen kroatische und serbische Alphabete eingeführt hat.)

Das heisst, dass „weich“ im Russischen nicht ganz gleich wie „weich“ im BKMS zu verstehen ist – und genau diese Beobachtung kann sowohl dem beseren Verständnis der Lautänderungen sowie der besseren Aussprache dienen:

Die harten Konsonanten klingen in beiden Sprachen sehr ähnlich oder identisch.

Die weichen Konsonanten: Im Russischen können alle Konsonanten ausser ж, ц und ш weich werden, was im BKMS unvorstellbar ist; ein harter Konsonant bleibt im BKMS auch vor einem -e oder -i hart, oder, wie in der Voranmerkung gezeigt, er wechselt zu einem harten palatalen Konsonanten. Vor einem -j werden manche Konsonanten im BKMS jotiert und nur dann werden sie weich. Im BKMS sind die Konsonanten ć, đ, j, lj und nj immer weich – und sie werden auch „weicher“ als die Russischen weichen Konsonanten ausgesprochen, womit gemeint ist, dass der Anteil des j-Lautes in diesen BKMS-Konsonanten deutlich grösser ist als bei den russischen „erweichten“ Konsonanten und dass der j-Laut mit dem Konsonanten regelrecht zu einem neuen Laut verschmilzt. Diese Intensität der Palatalisierung macht den feinen Unterschied (auch in der kyrillischen orthographischen Lösung) zwischen dem z.B. russischen ль und dem љ (lj) im BKMS.

Beispiel:

BKMS prijatelj / БЦС пријатељ                    RU приятель

Im BKMS-Substantiv prijatelj sind die einzigen weichen Konsonanten das j und das lj; das r wird vor dem i nicht weich, und das t vor dem e ebenfalls nicht.
Beim entsprechenden russischen Substantiv приятель bleibt dagegen nur noch der Konsonant п [p] hart.
Im Vergleich werden nur dieser harte Konsonant am Wortanfang sowie das russische я und die entsprechende BKMS-Silbe ja identisch ausgesprochen. Für die Sprecher und Lernenden beider Sprachen ist es daher am schwierigsten, den feinen Unterschied zwischen dem harten (BKMS) und erweichten r (RU) zu perzipieren und einzuüben, genauso wie den ebenso feinen Unterschied zwischen dem sehr weichen lj im BKMS und dem durch nachfolgendes ь im Russischen erweichten л.

C) Der Akzent

Wörter im BKMS und im Russischen richtig zu betonen ist wichtig, aber nicht einfach. Vor allem, weil Akzente normalerweise weder im BKMS noch im Russischen geschrieben werden.

In den deutschsprachigen Grammatiken und Lehrbüchern zum Russischen werden die Akzente jedoch meist gesetzt; in den entsprechenden BKMS-Lehrmitteln stellt die Akzentsetzung eher eine Ausnahme neueren Datums dar. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass das Russische nur über einen Akzent verfügt und seine Einfügung einfach ist (z.B. краси́вая), während im BKMS vier Akzente und eine «Länge» (eine Art zusätzlichen schwachen Akzent) existieren (siehe unten den Abschnitt zu Akzenten im BKMS), deren Darstellung schwierig ist und in den am Computer geschriebenen Texten erst in den letzten Jahren – immer mit Hilfe der Sonderzeichen – erfolgen kann (z. B. rȁme, kȓv, razgòvārām, lijépa/lépa).

Wenn man also eine der BKMS-Sprachen lernt, helfen die eingetragenen Akzente erst dann, wenn man die Symbole selbst richtig lesen kann. Sobald aber dieser Schritt gemacht ist, wird das Lesen der BKMS-Texte sehr einfach.

Im Russischen wiederum wirkt sich der Akzent entscheidend auf die Aussprache des Buchstaben «o» aus, denn eigentlich wird nur ein betontes «o» tatsächlich als [ o ] ausgesprochen (vgl. den entsprechenden Eintrag in der Tabelle zu den Vokalen in beiden Sprachen). Ausserdem gibt es weitere Regeln für die Aussprache der Vokale und Konsonanten im Russischen, die je nach Position des Akzents im Wort beachtet werden müssen, oder auch das Sprechen erleichtern (wie z.B. die Regel, dass ein «ё» fast immer betont wird).

Leider kann man sich nicht darauf verlassen, dass die Wörter, die in beiden Sprachen gleich oder sehr ähnlich geschrieben werden und/oder dasselbe bedeuten, auch identisch betont werden, weshalb es wichtig ist, von Anfang an die richtige Betonung zu lernen. Vgl. z.B.: prȉjatelj (kurzes erstes «i» im BKMS) vs. прия́тель (betontes я [ ja ] im Russischen).

Eine zusätzliche Schwierigkeit stellt die Tatsache dar, dass die Betonung in beiden Sprachen bei der Flexion oder beim Zusammentreffen mehrerer Worte ihren Platz (im BKMS häufig auch ihre Qualität) wechselt. Deshalb ist es beim Lernen dieser zwei slavischen Sprachen besonders hilfreich, die Sprachen zu hören und das Gehörte häufig nachzusprechen. Dies ist umso wichtiger, da in beiden Sprachen, dort wo sie täglich gesprochen werden, auch regional geprägte Unterschiede bzw. Akzentverschiebungen und (im BKMS) Qualitätsänderungen auftreten, die bei Lernenden Unsicherheiten hervorrufen können.

PDF: Modelle der Betonung im Russischen

Betonung im BKMS: „silabotonski naglasak“

 

 

 

 

 

 

PDF: Akzente im BKMS

Falls Sie selber BKMS-Akzente in kyrillisch oder lateinisch geschriebene Texte einführen möchten, können sie das File mit Akzenten übernehmen: KLICK.

 


  1. Im Russischen immer – ausser nach ц, ж und ш; im BKMS unter gewissen Voraussetzungen, die auch schriftlich markierte Lautänderungen (Palatalisierung und Jotierung) hervorrufen.
  2. Dabei wird die Aussprache dieser Laute im Serbischen und Montenegrinischen deutlich stärker voneinander unterschieden als im Bosnischen und Kroatischen.

Lizenz

Interkomprehension BKMS-Russisch Copyright © Jelena Gall; Anna Möhl; Jovanka Antić; und Domagoj Odrljin. Alle Rechte vorbehalten.

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