Das erste Institut für Blinde und Taubstumme

Karl-Schmid-Strasse 4, 8006 Zürich (Karte)

von Luana Rambaldi

Wo heute das Hauptgebäude der UZH steht, war einst das erste Institut für Blinde und Taubstumme der Stadt Zürich. Wenn man davorsteht, kann man es sich kaum vorstellen, aber der hektische Universitätsstandort war während 72 Jahren das Zuhause von zahlreichen Kindern, denen man eine Bildung trotz ihrer Beeinträchtigungen zur Verfügung stellen wollte.

Abb.1: Blinden und Taubstummenanstalt an der Künstlergasse 10

Abb.2: Naturhistorisches Museum am Hauptgebäude der UZH, dieses Foto zeigt den Teil der Universität der heutzutage dort steht, wo bis im 1908 die Blinden und Taubstummenanstalt war.

Die zeitliche Entwicklung
1809Gründung Blindenanstalt durch Hülfsgesellschaft der Stadt Zürich
1826Vereinigung mit Taubstummenanstalt
1838-1910Standort an Künstlergasse 10 (Wo Heute das Hauptgebäude der UZH steht)
1899Neues Volksschulgesetz; Verpflichtung Unterrichtsanstalten für Blinde und Taubstumme mit Staatsbeiträgen zu unterstützen bzw. übernehmen und errichten->“Gleichstellung aller Kinder“
1908Anstalt geht in staatlichen Besitz über und wird wegen Bau des neuen Hochschulgebäudes verschoben
1910-1915Provisorium an Plattenstrasse und Pestalozzistrasse
1915Neues Gebäude auf dem Entlisberg Wollishofen

Der Standort

Mit dem neuen Volksschulgesetz von 1899 verpflichtete sich der Staat, Unterrichtseinrichtungen für Blinde und Taubstumme zu unterstützen, zu übernehmen und bei Bedarf neu zu errichten. Infolgedessen ging die Anstalt im Jahr 1908 – fast 100 Jahre nach ihrer Gründung – in staatlichen Besitz über und musste aufgrund des Baus eines Hochschulgebäudes an einen neuen Standort verlegt werden.

Das heutige Hochschulgebiet zeichnete sich durch eine „freie, luftige Lage“ aus, ein Merkmal, dass man auch am neuen Standort wiederfinden wollte. Frische Luft und Sonnenlicht galten nämlich lange Zeit als wesentliche Bestandteile jeglicher medizinischen Behandlungen, wobei Blindheit und Taubstummheit keine Ausnahme bildeten. Zudem genossen sie an der Künstlergasse einen weiten Ausblick über die Stadt, was den Standort für die spätere Errichtung der Universität attraktiv machte und noch immer ein charakteristisches Merkmal des Hochschulquartiers ist.

Der Entlisberg in Wollishofen bot den perfekten Kompromiss zwischen Zugänglichkeit und der so stark erwünschten „freien und luftigen Lage“, sodass die Anstalt inmitten des ersten Weltkrieges dorthin verlegt wurde. Nun verfügten sie über Schlafräume, Klassenzimmer, Küchen, Speisehallen sowie eine kleine Turn- und Spielhalle um den Bedürfnissen des schulischen Alltags und der Freizeit der Kinder gerecht zu werden.

Unterricht in der Anstalt

Schulische und soziale Integration waren die Hauptziele solcher Institutionen. Neben gewöhnlichen Fächern wie Handarbeit wurden im 19 und 20gsten Jahrhundert oft Ansätze verfolgt, um die vermeintlichem „Defizite“ der Kinder zu korrigieren. Gemäß der sogenannten oralistischen Methode wurde das Erlernen der Gebärdensprache lange Zeit unterdrückt, da sie als hinderlich für das Lernen der „normalen“ Lautsprache und somit schlecht für die Integration gesehen wurde. Aus heutiger Sicht wirkt dies eher wie ein Versuch die „Andersartigkeit“ dieser Personen zu kaschieren.

Diese Unterrichtsphilosophie zeigte sich in der Einrichtung der Blinden und Taubstummenanhalt Zürich besonders in den Schulzimmern für taube Schüler.

Um eine gute Lektion „Lippenlesen“ zu ermöglichen, sah ein Klassenzimmer nämlich ganz anders aus, als wir es gewöhnt sind. Die Zimmer wurden mit zweiseitigem Licht versehen und die Tische wurden üblicherweise im Kreis um den Lehrer herum aufgestellt. So hatten die Schüler eine klare Sicht auf den Mund des Lehrers, um ihren Sprachunterricht in gewöhnlicher Lautsprache statt Gebärdensprache zu erhalten.

Abb.3: Ein Schulzimmer für Taubstumme in der Anstalt.

Blindheit und Taubstummheit im 19 bis frühen 20gsten Jahrhundert

Blinde und taubstumme Personen lebten lange Zeit in Isolation und Armut und wurden als Belastung für die Gesellschaft angesehen.

Im frühen 19 Jahrhundert waren Organisationen zur Bildung und Integration von Menschen mit Behinderungen jeder Art noch selten. Wer spezielle Bedürfnisse hatte, erhielt meist keine schulische Bildung. Es kam daher zunehmend das Verlangen nach solchen Schulen auf, wie etwa im Text „Über das Bedürfnis einer Taubstummenanstalt“ 1834 beschrieben wurde. In diesem wurden Taubstumme folgendermaßen charakterisiert:

Die Erfahrung lehrt uns sattsam, dass der Taubstumme ein sehr blödes Gemüth hat, und merentheils sich dumm zum Gutem, zum Bösen aber fertig und geschickt zeigt. Sein Körperbau […] äussert sich mit einer gewissen Plumpheit, worauf meistentheils das missfällige Auessere und Tölpelartige beruht […]. Er erscheint in der Welt, anstatt eine selbstständige Person, vielmehr als eine mechanische […] und mehr das Spiel seiner blinden Triebe und Neigungen bleibt.

(Josef Grüter, Über das Bedürfnis einer Taubstummenanstalt, Luzern 1834, S. 13,18f.)

Für das 19te Jahrhundert war die Idee des Menschen mit Behinderung als minderwertig völlig normal. Im Text wird erläutert, dass eine Taubstummenanstalt genau aufgrund deren Unterlegenheit so wichtig sei. Eine klare Unterscheidung zwischen geistiger Behinderung und Taubstummheit wurde zu dieser Zeit häufig nicht getroffen – möglicherweise, weil der medizinische Wissensstand noch nicht ausreichte, um solche Differenzierungen so präzise wie heute zu verstehen.

Aus verachteten, rechtlosen Wesen haben sie sich zu vollrechtsfähigen Menschen entwickelt, denen auch die Handlungsfähigkeit eignet.

(Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, 1913, S. 449)

Im Laufe des 19ten Jahrhundert begann man diese Diskriminierung mehr und mehr zu hinterfragen. Blinden und Taubstummen wurde im Jahr 1913 offiziell die Handlungsfähigkeit zugeschrieben, jedoch noch immer mit Einschränkungen, die lange Zeit durch das Schutzbedürfnis dieser „Gebrechlichen“ begründet wurden. Grundsätzlich sah man sie und viele andere „Gebrechliche“ unabhängig von ihrem Alter als Kinder, um die man sich kümmern musste, und nicht als gleichwertige Erwachsene.

Erst im 2000 wird in der Bundesverfassung (Art. 8 Abs.4) das ausdrückliche Verbot der Diskriminierung wegen körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen ausgesprochen. Worauf im Jahr 2004 das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen in Kraft tritt. Von nun an wurde unter anderem auch die Integration behinderter Kinder in Regelschulen verlangt und nicht ausschließlich in Sonderschulen, wie es das Institut für Blinde und Taubstumme der Stadt Zürich war.

Bildquellen

Abb. 1 und 3: .Schweizerische Taubstummen-Zeitung, Band 9 (1915), Heft 12.

Abb. 2: eigene Aufnahme

Literatur

Vogel, Bertha. „Die privatrechtliche Stellung der Taubstummen und Blinden.“ Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, Band 13/1912 (1913). Verfügbar unter: https://doi.org/10.5169/seals-91196

Fietz, H. „Die kantonale Blinden- und Taubstummenanstalt in Zürich.“ Schweizerische Bauzeitung, Band 67/68 (1916), Heft 5. Verfügbar unter: https://doi.org/10.5169/seals-33043

[s.n.] „Festnummer: zur Einweihung der neuen kantonalen Taubstummenanstalt in Wollishofen-Zürich 2.“ Schweizerische Taubstummen-Zeitung, Band 9 (1915), Heft 12. Verfügbar unter: https://doi.org/10.5169/seals-9231 63

Janett, Mirjam. „Gehörlosigkeit und die Konstruktion von Andersartigkeit: Das Beispiel der Taubstummenanstalt Hohenrain (1847-1942).“ Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Band 66 (2016), Heft 2. Verfügbar unter: https://doi.org/10.5169/seals-630362

Die neue kant. Blinden- und Taubstummen-Anstalt auf Entlisberg-Wollishofen., Chronik der Stadt Zürich (13. November 1915),Verfügbar unter: http://www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=CSZ19151113-01.2.12.1.

Jubiläumsfeier der zürch. Blindenanstalt., Chronik der Stadt Zürich (16. Oktober 1909), Verfügbar unter:http://www.e-newspaperarchives.ch/?a=d&d=CSZ19091016-01.2.17.1.