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Freier Zugang zu Wissen – durch Digitalisate

Digitalisierte Karten mit Ad Fontes und Digital Mappa – Karten und Lernwege für die Lehre. In diesem Beitrag unserer Reihe zu «Digital Humanities an der Philosophischen Fakultät» stellen uns Judith Vitale, Privatdozentin am Historischen Seminar, und Nobutake Kamiya, wissenschaftlicher Bibliothekar am Asien-Orient-Institut, ihr Lehrprojekt mit Ad Fontes und Digital Mappa vor. In der Reihe geben Lehrende und Forschende der PhF uns einen Einblick in Forschungsprojekte und Methoden «ihrer» Digital Humanities und zeigen uns, welche Technologien in ihrer Disziplin zum Einsatz kommen. Wir diskutieren den Begriff «Digital Humanities» von ganz verschiedenen Perspektiven aus.

Bitte stellt Euch vor, Judith Vitale und Nobutake Kamiya!

[Judith Vitale, im Folgenden JV] Ich bin Privatdozentin am Historischen Seminar und unterrichte Geschichte der Neuzeit. Da ich zu japanischer Geschichte forsche, habe ich Nobutake Kamiya von der Japanischen Bibliothek des Asien-Orient-Instituts kennen gelernt – er ist immer sehr hilfsbereit, wenn es um japanische Bücher geht. Aus dieser Bekanntschaft hat sich ein gemeinsames E-Learning Projekt entwickelt, das wir später noch vorstellen werden.
[Nobutake Kamiya, im Folgenden NK] Ich bin wissenschaftlicher Bibliothekar in der Bibliothek des Asien-Orient-Instituts und habe Judith – wie schon gesagt – durch ihr Forschungsgebiet kennengelernt. Ich interessiere mich sehr für Digitales – die Bibliothek bekommt auch zunehmend digitale Materialien.

Was für digitale Materialien habt Ihr in der Bibliothek?

[NK] Wir haben z.B. Karten aus der Edo- und Meiji-Zeit, Flyers aus dem 2. Weltkrieg und weitere alte Materialien, die wir in der Bibliothek lange behalten möchten. Ein Teil dieser Materialien, Karten und Flyer, sind zuerst zum Zweck der Langzeitarchivierung digitalisiert. Die digitalisierten Flyers sind über den Bibliothekskatalog zugänglich. Die digitalisierten Karten habe ich mit IIIF Standard online zur Verfügung gestellt. Wir haben aber nicht nur eigenen Bestand, sondern geben auch Zugriff auf Digitalisiertes im Internet, vieles stammt aus Japan. Einige Bibliotheken bieten digitalisierte Bilder oder Karten frei an – so werden diese Materialien ganz einfach zu benutzen.

Ein Digitalisat mit IIF Viewer der National Diet Library in Japan.

 

Was ist denn ein gemeinsames Projekt, wie seid Ihr auf die Idee gekommen, zusammen zu arbeiten?

[JV] Wie ich mich erinnere, erwähnte Nobutake, dass die Bibliothek alte japanische Karten besitze, die er in der Zentralbibliothek Zürich digitalisieren lassen hat. Dabei ging es darum, die Karten zu schützen und zu erhalten. Da der Bibliothekskatalog NEBIS aber nicht darauf ausgerichtet ist, Digitalisate im Internet zur Verfügung zu stellen, habe ich vorgeschlagen, diese Digitalisate in Ad Fontes als E-Learning Modul zu verwerten.

Ein Digitalisat, mit einem IIF Viewer publiziert von Nobutake Kamiya. Mit dem Viewer lässt sich weit in die Karte hineinzoomen.

 

Was ist Ad Fontes – kannst Du das den Leserinnen und Lesern vorstellen?

[JV] Ad Fontes wurde am Historischen Seminar entwickelt, mit Hilfe und Finanzierung von Digitale Lehre und Forschung (DLF). Man findet darauf Einführungen und Übungen zu europäischen Manuskripten, die als «Lernprogramm», Lernpfad durchgearbeitet werden können. Es geht darum, diese alten Urkunden oder Briefe lesen zu lernen, auch die Schriften.

Die digitalisierten Karten wollten wir nun auch auf Ad Fontes zur Verfügung stellen, so dass sie einerseits nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zugänglich sind, sondern auch mehr Aufmerksamkeit erhalten. Wir haben die Karten in Leseübungen integriert, so dass auch Studierende damit in Berührung kommen können.

[NK] Andere Bibliotheken besitzen vielleicht die gleichen Drucke, diese sind aber noch nicht digitalisiert. In dem Sinne bieten wir hier eine seltene Dienstleistung, auch für die Öffentlichkeit, an. Es wäre schön gewesen, diese Digitalisate z.B. über e-rara, einer an der ETH Bibliothek angesiedelten Plattform, anzubieten, doch dazu wäre es nötig gewesen, dass die gesamte Institutsbibliothek des Asien-Orient-Instituts eine Mitgliedschaft beantragt, nicht nur eine einzelne Abteilung. Dies ist schliesslich, auch aus finanziellen Gründen, leider nicht zustande gekommen.

[JV] Ad Fontes ist nun ganz frei der Öffentlichkeit zugänglich, nicht an eine Immatrikulation an einer Universität gebunden. Man kann sich neben einem AAI Login auch als «einfache» Benutzerin registrieren und darauf zugreifen.

Eine Übung zur Datierung von Karten in Ad Fontes …

 

… mit der Lösung.

Ad Fontes wurde ja 2018 mit Hilfe von DLF Fördermitteln komplett neu programmiert und bietet erst seither die Möglichkeit, hochauflösendes Bildmaterial mit aufzunehmen. Ist auch die Integration des Kartenmaterials erst seither möglich?

[JV] Genau, wir haben gleich Ende 2018 auch bei Digitale Lehre und Forschung einen Förderantrag für die Umsetzung dieser Lerneinheit eingereicht und sie dann 2019 umgesetzt. Generell ist durch die Neuprogrammierung die Usability viel besser geworden, auch im Admin-Bereich, wo wir die Lerneinheiten zusammenstellen. Der zweite grosse Vorteil ist, dass man seither IIIF Bilder einbinden kann. [Anm. LC: IIIF Bilder sind Bilder, die nach Standards des International Image Interoperability Frameworks im Internet publiziert sind. Der IIIF Viewer macht es erst möglich, sehr hoch aufgelöste Bilder einzubinden und v.a. darzustellen. Mit diesem Viewer kann man sehr weit hinein zoomen und das Material in einem grossen Detaillierungsgrad betrachten.

Was machen die Studierenden nun konkret mit diesem Kartenmaterial, welche geisteswissenschaftlichen Methoden sollen sie anwenden?

[JV] Bei Ad Fontes geht es darum, eine Einführung in das Arbeiten mit historischen Quellen zu geben. Unsere Übung ist in gewisser Hinsicht einmalig, weil wir darauf aufmerksam machen, dass Quellen nicht nur in Archiven aufbewahrt werden, sondern häufig auch in Bibliotheken, häufig sogar als Leihmaterial. Natürlich geht es v.a. auch darum, den Umgang mit Karten als historischen Quellen zu lernen. Die Benutzer/-innen sollen lernen, diese zu betrachten, sie als Text-Bild-Symbol-Systeme zu erkennen: Einerseits kann man alte Schriftzeichen lesen lernen, andererseits auch eine kunsthistorische Perspektive kennenlernen. Welche Funktion haben ausserdem ornamentale Bilder in Karten? Auf der Ebene der Symbole soll man ein bisschen «historische/-r Geograph/-in» sein, indem man z.B. Schraffierungen oder Schifffahrtswege erkennen lernt.

In dieser Übung müssen z.B. Schiffe erkannt und markiert werden.

 

Die eigenen Markierungen werden angezeigt – ermöglicht wird dies durch das Tool Digital Mappa, das hier in Ad Fontes integriert ist.

 

[NK] Heute kann man schon vieles Kartenmaterial digitalisiert im Internet finden, es ist aber sehr zerstreut. Deshalb finde ich es gut, dass wir in Ad Fontes eine Quellensammlung erstellen konnten. Natürlich bringt das ein Copyright-Problem mit sich: Ich finde es wichtig, dass man lernt, Quellen zu finden, aber auch mit der Wiederverwendung der digitalen Medien richtig umzugehen. Das wird sicher in Zukunft noch wichtiger, und deshalb zeigen wir das auch in unserem Modul.

Ein Beispiel eines Tutoriums, das in ein Thema einführt.

 

Brauchen die Studierenden für diese Lerneinheit andere als «nur analoge» Kenntnisse, um sie nutzen zu können?

[JV] Wir sind dem klassischen Aufbau von Ad Fontes gefolgt, dieser enthält verschiedene Einheiten: Tutorials, die in die Geschichte der Karten einführen, dann die Ressourcen, d.h. eine Zusammenstellung einer Bibliographie und wichtigen Datenbanken. Ausserdem einen Übungsteil, in dem Fragen zu den Karten gestellt werden. In diesen Teilen benötigen die Studierenden keine speziellen technischen Kenntnisse. Ein Alleinstellungsmerkmal ist aber, dass wir Digital Mappa integrieren möchten: Das ist ein Quelleneditionstool, entwickelt von der University of Wisconsin, mit dem man alte Karten oder Manuskripte edieren kann.

[LC] Genau, ein Prototyp wurde bereits durch Digitale Lehre und Forschung auf einem eigenen Webserver für Digital Humanities Tools in Betrieb genommen, eine definitive Inbetriebnahme ist per Herbst 2020 geplant. Ein grosser Vorteil dieses Tools ist auch, dass man die Quellen annotieren und auch kollaborativ in Teams arbeiten kann.

Wie würdet ihr denn den Mehrwert beschreiben, den ihr durch die Digitalisierung erhaltet?

[NK] Zunächst einmal ist es schlicht möglich, das Material auch anzusehen – ortsunabhängig. Ausserdem schützt die Digitalisierung das Material, das sonst durch die Verwendung abgenutzt würde. Wenn man in den vorhandenen Tools gewandt ist, kann man die Quellen viel besser präsentieren, annotieren usw., d.h. die eigenen Forschungsergebnisse sehr attraktiv darstellen. Das Wissen wird so kostenlos und frei ins Allgemeinwissen eingeschlossen. Das sind für mich die grossen positiven Punkte. Man weiss dann, dass das Internet zum gemeinsamen Wissen beiträgt.

Wenn man das Kartenmaterial darüber hinaus auch noch mit Geodaten versehen kann, kann man die historischen Quellen zusammen mit anderem Kartenmaterial verknüpfen und darstellen. So gibt es auch viele neue Erkenntnisse.

[JV] Ich schliesse mich Nobutake an – noch vor wenigen Jahren wurde ich eher zufällig von Kolleginnen oder Kollegen über Quellen informiert, die z.B. in der British Library oder der Waseda Bibliothek in Tokyo vorhanden waren. Alle diese Quellen sind mittlerweile digitalisiert online verfügbar. Das Modul in Ad Fontes hätten wir noch vor wenigen Jahren nie so schnell zusammenstellen können, weil man früher tagelang vor Ort in die Bibliotheken gehen musste. Gerade in Japan sind sie mit Digitalisaten schon sehr weit und sehr grosszügig – sie sind meist frei zugänglich. Für mich ist das einer der grossen Vorteile der Digital Humanities.

Wie würdet ihr denn diesen Begriff beschreiben – Digital Humanities?

[NK] Das ist ein sehr breiter Begriff, muss ich sagen… Was die digitalen Karten angeht – die digitalen Karten wegen einer historischen Forschung zu bearbeiten, ist für mich schon ein Teil der Digital Humanities, weil man Digitalisate im Rahmen der Geisteswissenschaften verarbeitet. Karteninformationen verarbeitet man aber auch in den Naturwissenschaften, z.B. der Biologie… [lacht]  Die Be/Verarbeitung der digitalen Karten  gehört also nicht nur zu Digital Humanities, sondern sie gilt einfach als eine von vielen digitalen Kompetenzen, die auch für Geisteswissenschaft eingesetzt werden können.

[JV] Humanities sind Geisteswissenschaften und Digital heisst digital – für mich ist es also die Entwicklung der Geisteswissenschaften unter der digitalen Wende. Darunter fällt natürlich auch die Aufbereitung von Materialien als Digitalisate, so, dass sie aufbewahrt und zugänglich gemacht werden können. Ich persönlich gehe auch nicht weiter.

Aktuell werden viele neue Professuren für Digital Humanities geschaffen, mit der Hoffnung, dass man über den Schritt der Aufbewahrung hinausgehen kann. Auch die Georeferenzierung, die Nobutake angesprochen hat, ist ja bereits eine Art Interpretation bzw. eine neue Art, Karten zu analysieren, die man früher nicht hätte anwenden können. Oder auch «Thick Mapping», also der Versuch, historische Daten auf Karten einzuzeichnen, ebenso wenn man Netzwerke geografisch referenziert und darstellt. Ein anderes Beispiel ist die virtuelle Rekonstruktion von alten Stätten.

Die Frage ist dann, ist das wirklich eine neue Methode, führt das zu neuen Perspektiven und Fragestellungen?

Nobutake Kamiya und ich haben zusammen mit Tobias Hodel, der an der Universität Bern eine Professur für Digital Humanities innehat, ein neues Projekt zu Schweizer Geschichte in der Antragsphase. Wir werden auch auf Ad Fontes ein Modul zu Schweizer Geschichte aufbereiten. Das Neuartige wird sein, dass es sich an Sekundarschülerinnen und -schüler richtet und sie die Möglichkeit haben werden, dort eigene Projekte zu erarbeiten. Es soll eine Art «Bürgerwissen», Citizen Science, sein – die Schülerinnen und Schüler sollen vor Ort gehen und z.B. historische Namen mit den aktuellen vergleichen und auf Karten darstellen. Die andersartige Darstellung als in der klassischen Buchform soll hier zu neuen Perspektiven führen.

Ich bin da manchmal etwas skeptisch – gerade z.B. Big Data mag in gewissen Bereichen wie in den Naturwissenschaften funktionieren. Aber die Geschichtswissenschaft ist kein quantitatives Fach; es ist auch kein Fach, das auf ein Buch verzichten kann, es bleibt bei der Narration.

Es muss auch kein Entweder-Oder sein – es ist doch immer die Frage, was Digital Humanities sein sollen? Das Fachwissenschaftliche entfällt doch eigentlich nie …

Möchtet Ihr noch etwas ergänzen?

[NK]: Durch die Digitalisierung der Gesellschaft erhält man sehr viele Information im Internet. Wenn die Geisteswissenschaft ihre Erkenntnisse für die Gesellschaft öffnet, leistet sie schon einen Beitrag für die Gesellschaft. Aber abgesehen von dieser Bereicherung des frei zugänglichen Wissens werden die geisteswissenschaftlichen Fähigkeiten, z.B. strenger und kritischer Umgang mit Quellenmaterial, als Teil des Informationskompetenz immer wichtiger, mit Hilfe dessen man mit der Informationsüberflut umgeht.

 

Im Beitrag erwähnte Technologien und Links:

https://www.adfontes.uzh.ch/

https://www.e-rara.ch/

https://dlf.uzh.ch/2018/09/19/relaunch-ad-fontes/

https://iiif.io/

https://www.digitalmappa.org/

Zu Thick Mapping z.B.: http://pennyjohnston.org/blog/digital-humanities-2/thick-mapping/ oder https://www.hypercities.com/