Praxis Paulette und Fritz Brupbacher: Eine sozialmedizinische Institution

Kasernenstrasse 17, 8004 Zürich

von Dilan Yigit

Im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl prägten Paulette Brupbacher-Raygrodski und Fritz Brupbacher Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue Form von Medizin. Ihre Praxis diente nicht nur als Anlaufstelle für die gesundheitlichen Bedürfnisse der Arbeiterschaft, sondern auch als Zentrum für gesellschaftliche Reformen.

Die Geschichte von Paulette Brupbacher-Raygrodski (1880–1967) und ihrem Ehemann Fritz Brupbacher (1874–1945) ist untrennbar mit einem Gebäude in Zürich verbunden, das nicht nur eine Praxis beherbergte, sondern ein Zentrum für progressive Ideen und gesellschaftliche Reformen wurde. Ihr gemeinsames Engagement prägt die Medizingeschichte ebenso wie die soziale Entwicklung Zürichs.

Abb. 1: Eine Fotographie zwischen 1890 – 1899 von der Kasernenstrasse 17. (Bestehend aus fünf Reihenhäuser)

Die Geschichte des Gebäudes

Das Gebäude, in dem Paulette und Fritz Brupbacher ihre Praxis eröffneten, liegt im Quartier Aussersihl, einem damals dicht besiedelten und von der Arbeiterklasse dominierten Viertel Zürichs. Im frühen 20. Jahrhundert war Aussersihl ein Zentrum sozialer Spannungen, geprägt von den Auswirkungen der Industrialisierung und den damit einhergehenden sozialen Problemen. Die Praxis lag strategisch günstig, um der Arbeiterbevölkerung medizinische Versorgung zugänglich zu machen.
Die Räume wurden bewusst schlicht gehalten, um die geringe Schwelle für die Patienten zu unterstreichen. Dabei übernahm das Gebäude mehr als nur eine funktionale Rolle: Es wurde zu einem symbolischen Ort, der moderne Medizin und soziale Fürsorge vereinte. Später entwickelten sich Teile der Praxis zu einem Treffpunkt für politisch und sozial engagierte Persönlichkeiten.

Die Bedeutung des Ortes

Die Praxis der Brupbachers war eine der ersten in Zürich, die sich explizit auf die Bedürfnisse der unteren Gesellschaftsschichten konzentrierte. In einer Zeit, in der medizinische Versorgung oft nur Wohlhabenden zugänglich war, boten Paulette und Fritz Behandlungen zu erschwinglichen Preisen an und setzten sich für umfassende Gesundheitsaufklärung ein.
Neben der physischen Gesundheit war das Gebäude auch ein Ort, an dem soziale und kulturelle Themen behandelt wurden. Paulette, eine überzeugte Sozialistin, engagierte sich besonders für die Rechte der Frauen, während Fritz als bekennender Anarchist eine umfassendere gesellschaftliche Veränderung anstrebte. Das Gebäude war somit weit mehr als eine Arztpraxis; es war ein Symbol für den Wandel und ein Hort des Dialogs.

Sichtbarkeit am Ort

Die Sichtbarkeit der Praxis Brupbacher war in der Umgebung prägnant. Nicht nur die Patientenströme, sondern auch die Veranstaltungen und Diskussionen, die dort stattfanden, machten das Gebäude zu einem bekannten Punkt im Quartier. Die Brupbachers setzten sich aktiv für Aufklärung ein, etwa in den Bereichen Sexualität, Hygiene und Familienplanung, die zu jener Zeit stark tabuisiert waren. Flugblätter, Vorträge und öffentliche Aktionen machten das Gebäude zu einem Zentrum sozialer Reformen.
Obwohl das Gebäude selbst äußerlich unscheinbar war, strahlte die Arbeit der Brupbachers weit über die Stadt hinaus. Sie erlangten sowohl in der Schweiz als auch international Anerkennung für ihren Beitrag zur Verbindung von Medizin, Politik und Gesellschaft.

Abb. 2: Eine Photographie aus dem Jahr 2024. Die Praxis von Paulette und Fritz Brupbacher hat sich oberhalb des heutigen Nagelstudio befunden.

Historischer Kontext

Die Tätigkeit der Brupbachers fällt in eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Das frühe 20. Jahrhundert war geprägt von Industrialisierung, sozialen Spannungen und dem Erstarken sozialistischer und anarchistischer Bewegungen. Paulette und Fritz bewegten sich in einem Spannungsfeld zwischen politischem Aktivismus und medizinischer Praxis.
Fritz Brupbacher war ein unermüdlicher Kämpfer für anarchistische Ideen und die Abschaffung sozialer Ungleichheiten. Paulette, die ihre medizinische Ausbildung in Paris absolvierte, brachte eine feministische Perspektive in ihre Arbeit ein und engagierte sich besonders für Frauenrechte. Beide setzten sich vehement für den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und die Abschaffung patriarchaler Strukturen ein.
Ihre Praxis war zudem in ihrer Verbindung von Wissenschaft und Idealismus einzigartig. Sie trugen wesentlich zur Verbreitung moderner medizinischer Ansätze bei, die auf Prävention und Aufklärung basierten. Gleichzeitig waren sie in ihren politischen Ansichten kompromisslos, was ihnen sowohl Bewunderung als auch Widerstand einbrachte.

Paulette Brupbacher-Raygrodski und Fritz Brupbacher

Abb. 3: Paulette Brupbacher-Raygrodski und Fritz Brupbacher (Jahr unbekannt)

Paulette Brupbacher-Raygrodski und Fritz Brupbacher leisteten historische Beiträge in der Sozialmedizin, der Arbeiterbewegung und für die Frauenrechte. Sie setzten sich für die Gesundheitsversorgung der Arbeiterklasse und für Geburtenkontrolle ein. Ihre progressive Praxis war ein Zentrum für soziale Reformen. Wegen ihrer politischen Überzeugungen und öffentlichen Aktivitäten, die vor allem im linken Spektrum verortet waren, wurden sie zeitweise mit einem Redeverbot belegt, was ihre Sichtbarkeit in der öffentlichen Debatte jedoch nicht minderte. Ihr Engagement und Widerstand gegen Unterdrückung machten sie zu wichtigen Figuren ihrer Zeit.

Vermächtnis der Praxis

Auch nach dem Tod von Paulette und Fritz bleibt ihr Wirken ein wichtiger Teil der Zürcher Geschichte. Das Gebäude, in dem ihre Praxis untergebracht war, wird heute oft als Symbol für die Verbindung von Medizin und sozialer Verantwortung gesehen. Es erinnert an eine Zeit, in der Ärzte wie die Brupbachers weit über ihre beruflichen Pflichten hinausgingen, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken.
Ihr Engagement für eine gerechtere Gesellschaft, verbunden mit ihrem medizinischen Einsatz, hat nicht nur das Quartier Aussersihl geprägt, sondern auch Impulse für die sozialmedizinische Arbeit in der Schweiz und darüber hinaus gegeben. Bis heute inspiriert ihr Beispiel jene, die an der Schnittstelle von Medizin, Politik und sozialem Aktivismus tätig sind.

BILDQUELLEN

Beitragsbild: wie Abb.1

Abb. 1: Aus dem Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich

Abb. 2: Fotographie von Dilan Yigit, 2024

Abb. 3: Literaturverzeichnis SRF «Der Ketzer von Aussersihl»: Hommage an Fritz Brupbacher

LITERATUR

Die Zürcher Arbeiterärztin, die gegen das Verhütungs-Tabu kämpfte

«Der Ketzer von Aussersihl»: Hommage an Fritz Brupbacher

BRUPBACHER Paulette, geb. Raygrodski [Wörterbuch der Anarchisten]

Historisches Lexikon der Schweiz

Wikipedia Fritz Brupbacher

Wikipedia Paulette Brupbacher