Plattentheater am Zürichberg

«Bereits ist einer gestorben. Selbstverständlich finden die Ausstellungen doch statt, da ein solcher Fall kein Anlass zu besonderer Trauer ist»

«Die Limmat»

Von Hanna Massamba, 25. November 2024

 

Triggerwahrnung: Rassismus, Kolonialismus

«Die Wilden von den Feuerlandinseln»1

Im Winter 1882 wurden fünf Menschen chilenischer Herkunft nach Zürich gebracht, um im Plattentheater am Zürichberg Menschenmengen zu unterhalten. Das gemeinberüchtigte Plattentheater gehörte dem Wirt Josef Grüninger, der die Bühne mit Zweigen verzierte, so schreibt die Autorin Rea Brändle in ihrem Buch «Wildfremd, hautnah». Natürlich durfte auf dieser Bühne ein offenes Feuer nicht fehlen, das Ziel war ja schließlich, dass sich die «Feuerländer» (so wurden die fünf entführten Menschen bezeichnet, siehe Glossar) so natürlich wie möglich vor den Augen der gierigen ZuschauerInnen präsentierten. Da gehörte natürlich alles drum und dran dazu: halb nackt auf dem Boden kauern, Pfeile schnitzen und Binsen flechten. Kurz gesagt: Sie sollten sich auf dieser Bühne, vor fremden Menschen, nackt auf dem Boden, fremd und völlig ausgestellt, wie zu Hause fühlen. Dafür sorgte schließlich auch das warme Feuer.1

Die ursprünglich zehnköpfige Gruppe stammte aus dem südwestlichen Teil Chiles und waren Teil des indigenen Volkes der Kawésqar.2 Sie wurden dort von Kapitän Schweers gekidnappt und mit seinem Frachtschiff nach Hamburg gebracht. Dort übergab er sie an den Tierhändler Carl Hagenbeck. Ich wiederhole: Tierhändler. Hagenbeck organisierte regelmäßig sogenannte «Völkerschauen» (= die Zurschaustellung von Angehörigen einzelner Völker)3, auch Menschenzoos genannt. Hagenbeck hatte den zehn Menschen eigene Namen gegeben – Gekauftes darf man schliesslich benennen: Die Männer hießen Capitano, Antonio, Pedro und Henrico, die Frauen Trine, Grethe, Liesel, Linda und Frau Capitano. Die beiden Mädchen wurden Frosch und Dickkopf genannt. Blühende Fantasie, dieser Hagenbeck, nicht? Der Plan war, dass sie sieben Monate lang durch Europa touren sollten. Bei den Vorführungen in Paris kamen eine halbe Million ZuschauerInnen, im Zürcher Plattentheater war die Show ausverkauft.

Als sie am Tag der Premiere, dem 18. Februar 1882, in Zürich eintrafen, waren alle Mitglieder entweder erkältet oder krank. Eine der fünf Frauen starb bereits auf dem Weg nach Zürich – ihre Leiche wurde in die Anatomische Sammlung der UZH gebracht. Krank hin oder her, Grüninger wollte eine Show: Den ersichtlich kranken Menschen gab er Pfeil und Bogen, Glasperlen und Tabakpfeifen. Ein Arzt schritt zum Glück ein und brachte alle ins Kantonsspital. Nach und nach starben drei der Gruppe. Die drei Leichen wurden seziert, die Geschlechtsteile einer der verstorbenen Frauen kamen nach München zu Professor Bischoff. Die Überlebenden blieben noch etwas mehr als einen Monat in Zürich. Die damalige Presse schrieb unbeeindruckt: «Bereits ist einer gestorben. Selbstverständlich finden die Ausstellungen doch statt, da ein solcher Fall kein Anlass zu besonderer Trauer ist», so «Die Limmat».

Gelernte Strukturen entlernen

Reisen wir nun zusammen ins Jahr 2010 in den Kaffeeraum des Anthropologischen Instituts der UZH. Versammelt sind dort eine fünfköpfige Delegation aus Chile mit Abgesandten der Volksstämme der Kawesqar und der Yahgan, ein Vertreter der chilenischen Botschaft, weiter noch Vertreter der UZH. In ihrer Mitte stehen sechs verschlossene Kartonkisten. Professor Christoph Zollikofer legt auf jede dieser Boxen eine weiße Rose. In den Schachteln befinden sich die Überreste von zwei Männern, zwei Frauen und einem Mädchen, dieselben fünf Menschen, die im Plattentheater Zürichberg vor etwas mehr als 100 Jahren gezwungen wurden, irgendwelche ZürcherInnen zu unterhalten. Mit dieser Repatriierung der Gebeine endet zwar die Geschichte, die im Winter 1882 angefangen hatte.1 Doch was ist mit allen Menschen, die im Zoo Basel zwischen 1879 und 1935 in 21 «Völkerschauen» ausgestellt wurden? Wie sieht es aus mit dem «N****-Dorf» in Altstetten, dort wo das heutige Stadion Letzigrund steht? Vielen ist zum Beispiel auch nicht bewusst, dass viele Zirkusse teilnahmen – unter anderem der beliebte Schweizer Nationalzirkus Knie präsentierte noch bis vor etwa 60 Jahren «Völkerschauen». Im Zeitraum zwischen 1835 und 1964 war es in der Schweiz gang und gäbe, entführte Menschen anderer Völker auszustellen und anzugaffen. «In Zürich sind insgesamt 91 “Völkerschauen” dokumentiert – 72 in Bern, 55 in Basel und 12 in Glarus.»4

Wieso ich mich mit dieser Geste von 2010 nicht vollständig zufriedengeben kann, ist, weil die rassistischen Strukturen unserer Gesellschaft, die überhaupt erlauben, auf solch abstruse, völlig perverse Ideen wie Menschenzoos zu kommen, noch lange nicht aufgearbeitet wurden – und erst recht nicht ein Problem der Vergangenheit sind. Der ganze Witz der «Rassenlehre» wurde genau von solchen verzerrten, bewusst falschen Darstellungen von verschiedenen Kulturen und Menschengruppen und pseudowissenschaftlichen Untersuchungen gestützt. Durch das Konstruieren solcher Klischees und Vorurteile werden diese tief verankerten Bilder und Denkmuster an Generationen weitergegeben, mal aktiver, mal unbewusster. Doch es sind diese jahrhundertealten Denkmuster, die Jahrhunderte später immer noch nachhallen. Einige dieser Vorstellungen von «primitiven und unzivilisierten Völkern», die ihre Schlechterbehandlung bzw. eine vermeintliche «Rettung» oder gar den «Schutz vor sich selbst» – etwa durch den Kolonialismus – angeblich legitimieren sollten, wirken noch heute. Von Rassismus betroffene Menschen erleben auch in der Schweiz die Auswirkungen in ihrem Alltag, indem sie rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind und systematische Benachteiligungen sowie Ungleichbehandlungen erfahren.4

Wir haben schon viele wichtige Schritte bestritten in die Richtung eines diskriminierungsfreien Zusammenseins. Doch um die rassistischen Strukturen – egal in welchem Feld, sei es in der Medizin, in den Medien oder in unseren eigenen Köpfen – aufzudecken und zu entlernen, müssen wir immer wieder einen Blick in die Vergangenheit werfen, um die Ursprünge zu verstehen.

Glossar:

  • „Feuerländer“: Feuerland ist eine Inselgruppe an der südlichen Spitze Südamerikas, der südliche Teil Patagoniens, wobei heute ein Teil zu Chile gehört, der andere zu Argentinien. Der Name entstand durch die Feuer der indigenen Völker, die die Europäer sahen, als sie vorbeisegelten.5 Der Begriff „Feuerländer“ wurde den indigenen Einwohnern durch Ferdinand Magellan gegeben (früher hiess Feuerland auch „Magellanica“). Da ich es für wichtig empfinde unseren Wortschatz zu dekolonialisieren, dementsprechend Benennungen, die von Kolonialisten (bewusst nicht gegendert) stammen, nicht zu verwenden, sondern auf die korrekten Bezeichnungen zurückzugreifen. So leben in dieser südlichsten Inselgruppe Südamerikas vier verschiedene Völker: die Kawésqar, Yaghan, Selk’nam und Haush. Im Zuge der Besiedelung haben weisse Eindringlinge diese Ureinwohner bereits Anfang des 20. Jahrhunderts fast vollständig ausgerottet.6

Quellenverzeichnis: 

  1. Tages-Anzeiger. Die letzte Reise der Feuerländer. 12. Januar 2010. URL. Letzter Zugriff: 25. November 2024.
  2. UZH News. Seenomaden aus Patagonien setzen neue Zeichen. 21. August 2023. URL. Letzter Zugriff: 25. November 2024
  3. Europäische Geschichte Online (EGO). Kolonialausstellungen, Völkerschauen und die Zurstaustellung des „Fremden“. 17. Februar 2012. URL. Letzter Zugriff 25. November 2012
  4. Kollektiv Vo Da. „Völkerschauen“ in der Schweiz. 2. Oktober 2020. URL. Letzter Zugriff: 25. November 2024
  5. Wikipedia. Feuerland. URL. Letzter Zugriff 25. November 2024
  6. Wikipedia. Kawasqar. URL. Letzter Zugriff 25. November 2024