Eine Portion Sonne, Luft und Spielen als Mittel gegen die Tuberkulose
Biberlinstrasse 60, 8032 Zürich (Karte)
von Helena Matthijs
Nicht weit von der Tramstation Klusplatz, liegt die Freiluftschule Zürichberg. Früher verbrachten dort Tuberkulose-gefährdete Kinder ihre Sommertage. Heutzutage dient sie noch immer als Schule für Sommerlager.
Die Eröffnung der Waldschule
Die Tuberkulose-Kommission Zürich-Stadt verwirklichte 1914 eine Idee des Gemeinnützigen Frauenvereins: die Eröffnung einer Waldschule oberhalb des Klusplatzes für rund 50 tuberkulose-gefährdete Kinder. Die städtische Kommission hatte dafür die entsprechende Stiftung «die Zürcher Walderholungsstätte» gegründet. 1914 entstand an der Biberlinstrasse ein Gebäude mit Küche, Schulraum und Liegehallen. Es war eine Tagesschule, die nur im Sommer betrieben wurde. Der Unterricht, das Spielen, die Ruhezeiten, alles fand unter freiem Himmel statt.1
Die Tuberkulose-Kommission schrieb:
«Die Sonne, die gute Luft, der Wald, die einfache kräftige Nahrung, das viele Gärtnern und Spielen im Freien, der kurze aber intensive Unterricht, der fröhliche Betrieb der Waldschule, der weite Schulweg, alles hat zur Anregung und Förderung der Kinder beigetragen.»
JB Kommission Stadt 1914, S. 6
Ortsbestimmung für die Waldschule
Der Standort am Zürichberg war gut geeignet für eine Waldschule.
- Die Luft war russfrei und sauber, da sich die Schule ausserhalb des Stadtzentrums und nahe am Waldrand befand. Man wusste zu der Zeit schon, dass Bäume aus CO2 Sauerstoff produzieren. In der Stadt, so die verbreitete Meinung, hätten die Kinder nur oberflächlich geatmet, was dazu geführt hätte, dass die Luft in den Lungenspitzen nicht ausgetauscht wurde. Dies hätte zur Folge, dass Tuberkelbazillen verbleiben könnten.
- Die Luftverschmutzung, wie auch die engen Gassen, waren Gründe dafür, dass die Kinder in der Stadt der Sonne nicht oft ausgesetzt waren. Als Folge dessen, hatten viele Kinder zu wenig Vitamin D, welches das Immunsystem stärkt und Entzündungen reduzieren kann. Die Sonnenstrahlen keimtötend wirken und die Lebenslust wecken. Die Waldschule lag ausserhalb der Stadt, umzingelt von Wiesen. So konnte das Grundstück den ganzen Tag beschienen werden.
- Man schickte Kinder mit Blutarmut zur Waldschule. Aufgrund der damaligen Lehrmeinung, welche besagte, dass Blutarmut v.a. auf ein zu kleines Herz und auf zu enge Arterien zurückzuführen ist, war der Fokus auf Bewegung sehr gross. Damit die Kinder genug Platz hatten um zu gärtnern, herumzurennen und zu spielen, bedarf es eine grosse Wiese.
Die Stiftung «Zürcher Walderholungsstätte» erhielt von der Stadt Zürich finanzielle Unterstützung. Die Einnahmen der Stiftung reichten nicht mehr aus und die Waldschule wurde am 1. Januar 1939 von der Stadt Zürich übernommen. Die Waldschule wurde zur Freiluftschule Zürichberg umgetauft.((Statistisches Amt der Stadt Zürich, 1953. S. 143, 145, 147, 148, 153))
Der Alltag an der Waldschule Zürichberg
In der Woche wurden die Kinder pro Tag für zwei Schulstunden unterrichtet. Die Kinder erhielten unter anderem auch Hygieneunterricht. Man ging davon aus, dass Unreinlichkeit die Hautporen verstopfen konnte, wodurch die Sonne und die Luft ihre Wirkung nicht entfalten konnten.
Falls das Wetter mitspielte, wurde draussen unterrichtet. Eine Klasse bestand etwa aus 25 Schüler*innen. Zur damaligen Zeit waren das kleine Klassen, im Vergleich zu den städtischen Schulklassen mit 60 Schüler. Man versuchte, die Klassen nach Jahrgangsstufen zu unterrichten, teilweise gab es aber zu wenig Schüler pro Stufe und so wurden verschiedene Stufen meist zusammen unterrichtet. Die Klassen waren zugleich auch nicht Geschlechter getrennt, was zu dieser Zeit unüblich war.
Die kleineren Klassen ermöglichten eine individuelle Förderung der Kinder. Die Lehrpersonen waren zugleich auch Betreuer und waren den ganzen Tag für die Kinder verantwortlich. Man erhoffte sich damit, ein vertrautes Verhältnis zwischen den Kindern und den Betreuern aufbauen zu können.
Nach dem Mittagessen erfolgte ein einstündiger Mittagsschlaf für die Kinder. Bei schönem Wetter fand dieser draussen statt. Spielte das Wetter nicht mit, so gab es die Möglichkeit, den Mittagsschlaf auf den Liegeterrassen abzuhalten. Nachmittags stand freies Spielen auf dem Programm. Nach dem Nachtessen gingen die Kinder nach Hause.
Was heute noch sichtbar ist
Das Gebäude steht noch. Man sieht heute noch die grossen Fenster des Schulgebäudes. Es sollte so viel Licht wie möglich ins Gebäude gelangen. Vor dem Gebäude hat es eine grosse Wiese, wo sich die Kindern austoben konnten. Neben dem Schulgebäude wurde eine überdachte Terrasse gebaut. Womöglich wurde dort die Mittagsruhe abgehalten. Davor stehen Betonkästen, die vielleicht früher als Gemüsebeete zum Gärtnern verwendet wurden.
Die Schule wurde mehrmals umgebaut. Im Jahr 1950 wurde sie erweitert. Ein weiteres Schulzimmer wurde gebaut, dafür wurde ein Teil der überdachten Terrasse benutzt. Neben dem Hauptgebäude wurde das kleinere Gebäude gebaut, dass womöglich als Liegeterrasse verwendet wurde.
Mit der Zeit wurde die Schule vermutlich nicht mehr nur als Primärpräventions-Massnahme gegen die Tuberkulose verwendet, sondern bot auch Platz für Kinder, welche sonstige gesundheitliche Probleme hatten oder ruhebedürftig waren.
Eine Primärprevention der Tuberkulose
Im 19. Jahrhundert wütete in der Schweiz, wie auch in vielen anderen europäischen Ländern, die Tuberkulose. Die Krankheit brach nur bei etwa 10% der Leuten aus, die das verantwortliche Tuberkulose-Bakterium in sich trugen.((Lungenliga Zürich, 2008. S. 4/5)) Häufig davon betroffen waren Kinder und Menschen mit einem schwachen Immunsystem, was in den Arbeiterquartieren Anfang 20. Jahrhundert wahrscheinlich die Mehrheit darstellte. Im April 1908 gründete ein gemeinnütziger Frauenverein die erste Tuberkulose-Fürsorgestelle des Kantons Zürich.
Zu dieser Zeit nahm man an, dass langes Sitzen, die falsche Ernährung, Vererbung, sowie soziale Aspekte wie z.B. zu frühe Eheschliessungen eine Ansteckung der Krankheit erklären könnten. Im Jahre 1882 entdeckte Robert Koch den verantwortlichen Erreger Myobacterium tuberculosis. Man wusste nun, dass die Krankheit über Tröpfchen übertragen wurde. Eine geeignete Therapie war nicht bekannt.((Zusammenfassung aus Andréa Kaufmann: Luft zum Leben)) Die Vermutung bestand, dass viel Sonne, frische Luft und eine gesunde Ernährung die Genesung vorantreiben konnte und eine Ansteckung verhindern konnte.
Einen Haken hatte die Waldschule. Es handelte sich um eine Tagesschule und die Kinder gingen abends wieder nach Hause, wo sie möglicherweise den Tuberkulose Erregern wieder ausgesetzt waren. Ein Aufenthalt in der Waldschule erniedrigte lediglich die Anzahl Stunden, in denen die Kinder den Erregern ausgesetzt waren.
Wer durfte die Waldschule besuchen?
Emil Feer (1864-1955) war von 1911 bis 1929 Direktor des Kinderspitals Zürich. Feer veröffentlichte eine Broschüre über die Aufgaben der geplanten Waldschule. Darin hielt er fest, wer sie besuchen darf. Die Waldschule durfte besucht werden von Kindern mit einer schwachen Anämie, «konstitutionell schwach beanlagte Naturen», Kinder von « schwächlichen Eltern» und Kinder, die in «sehr bedürftigen familiären Verhältnissen leben, in engen, schmutzigen Wohnungen».2
Waldschulen gab es auch in anderen Ländern, unter anderem auch in Deutschland. Karl König war 1912 ein Kreisschulinspektor in Mülhausen. Laut König war das Ziel der Waldschule «die Herausnahme der körperlich, geistigen und ethisch gefährdeten aus dem geräuschvollen Leben und Treiben, aus der verpesteten Luft der Städte». König empfand ein Aufenthalt in der Waldschule aus zwei Gründen für richtig. Einerseits soll verhindert werden, dass die Kinder an Tuberkulose erkrankten, «deren Keim» die Kinder, nach damaliger Meinung, bereits in sich trugen. Andererseits befürchtete König, dass «der körperlich schwächliche Leib des Kindes seine Geistesbildung schädigt, seine Jugend verbittert und die Zukunft des gesamten Volkes gefährdet werde.»3
König bezeichnete die Besucher als körperlich, geistig und ethisch gefährdet. Er benutzte auch Bezeichnungen, wie Schwachsinnige und sittlich Gefährdete. Damit meinte König wahrscheinlich die Kinder von alleinerziehenden Mütter oder Kinder aus gesellschaftlichen Randgruppen, die zu dieser Zeit stark diskriminiert wurden. Die Zuweisung an eine Waldschule waren also nicht immer nur auf gesundheitliche Gründe basiert.
In dieser Zeit nahmen die Theorien der Eugenik zu. Die Idee hinter der Eugenik ist die genetische Verbesserungsfähigkeit der Menschen. Was als gutes genetisches Material bewertet wurde, hing von den gesellschaftlichen Werten ab. Randgruppen wurden als minderwertig betrachtet. Es wurde als negativ empfunden, dass sie zu den kinderreichsten Gesellschaftsgruppen gehörten. Als Massnahme wurden Ihnen zum Teil die Kinder weggenommen. Die Kinder wurden in verschiedenen Institutionen untergebracht, unter anderem auch in Waldschulen.
Die Waldschule am Zürichberg war nur eine Tagesschule. Abends gingen die Kinder wieder nach Hause. Trotzdem war es den Betreuern in der Waldschule möglich, einen Einfluss auf die Erziehung der Kinder zu nehmen.
Wie sah es mit der Finanzierung aus?
Die Waldschule wurde unter anderem von Kinder, die aus «sehr bedürftigen familiären Verhältnissen» stammen, besucht. Wie sah es also aus mit der Finanzierung des Waldschulaufenthaltes? Es wurde teilweise durch die Eltern der Kinder, private Spenden oder durch öffentliche Gelder finanziert.4
Weitere Bilder der Freiluftschule Zürichberg
https://baz.e-pics.ethz.ch/main/thumbnailview/qsr=Freiluftschule%20z%C3%BCrichberg
https://memobase.ch/de/object/bar-001-SFW_1415-2
Bildquellen
Beitragsbild: Fotograf: Stephan Bolten, Juni 2018.
Abb. 1: Baugeschichtliches Archiv Zürich, Nr. KOE_1450_01.
Abb. 2: Foto: Helena Matthijs, 2024.
Abb. 3: Foto: Helena Matthijs, 2024.
Abb. 4: Baugeschichtliches Archiv Zürich, Nr. BAZ_108682.
Abb. 5: Baugeschichtliches Archiv Zürich, Nr. BAZ_108683.
Abb. 6: Baugeschichtliches Archiv Zürich, Nr. BAZ_108684.
Abb. 7: Baugeschichtliches Archiv Zürich, Nr. BAZ_108685.
Abb. 8: Baugeschichtliches Archiv Zürich, Nr. BAZ_108689.
Literatur
Kaufmann, Andréa. Luft zum Leben. Die Geschichte der Lungenliga Zürich. Chronos. Zürich, 2008.
Feer, Emil. Walderholungsstätte für Kinder. Zürich, 1913.
JB Kommission Stadt 1914, S. 6.
König, Karl. Die Waldschule – Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung, Heft 89. Hermann Beyer & Söhne. Langensalza, 1912.
Statistisches Amt der Stadt Zürich. Zürcher statistische Nachrichten 1953, 30. Jahrgang. Buchdruckerei Berichthaus Zürich. Zürich, 1953.
Weber, Isabel. Historische Kindererholungsstätten der Pro Juventute. Analyse einer Fotodokumentation. Zürich, 2014.