Untere Zäune 2, 8001 Zürich (Karte)
von Linus Bremi
Die Eugenik war eine schreckhafte Entwicklung der Wissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland und die Zwangssterilisation eine der daraus resultierenden Gräueltaten. Doch auch in Zürich, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden unter diesem Gedankengut tausende Frauen gegen ihren Willen sterilisiert. Das Zentrum dieser Machenschaften: die Psychiatrische Poliklinik Zürich.
Abb.1: Notariatsinspektorat, Untere Zäune 2, 2024
Das Hin und Her der Poliklinik
Die Psychiatrische Poliklinik entstand aus dem Bedarf eines Ambulatoriums der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK). Polikliniken sind generell für ambulante, also nicht-stationäre Patienten. Für die ambulanten Sprechstunden wurde also 1913 ein Ableger, die Psychiatrische Poliklinik, gegründet und in die Villa Belmont, Rämistrasse 67, verlegt. Das Ganze wurde von einem Oberarzt namens Hans Wolfgang Maier aus dem PUK geleitet. Wegen der rasch wachsenden Patientenzahlen wird die Poliklinik zur Adresse Untere Zäune 2 verlegt. Bis 1954 blieb die Poliklinik auch bei dieser Adresse und während dieser Zeit wurden tausende von Abklärungen für Zwangssterilisationen durchgesetzt. Danach zügelte die Poliklinik zur Gloriastrasse 23, zum Universitätsspital Zürich (USZ), wo sie heute noch besteht. Sie wurde umbenannt und ist jetzt als „Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik“ bekannt.
Die Unteren Zäune 2
An den Unteren Zäunen 2 stand vorher ein alter Seidenbetrieb, der für die Zwecke der Poliklinik umgebaut wurde. Das ist gut an dem amtlichen und offiziellen Stil des Gebäudes zu erkennen, welchen es auch heute noch behält. Vor längerer Zeit, bis 1851, gehörte das Grundstück Untere Zäune 2 zum Chamhaus, ein stattliches Haus aus dem Besitz einer reichen Zuger Familie „von Cham“. Das steht noch heute gegenüber der Unteren Zäune 2, mit goldiger Inschrift markiert. Heute steht im alten Gebäude der Poliklinik das Notariatsinspektorat, welches seit 1954 dort eingebracht ist. Direkt neben dem Obergericht kann es seine verwaltenden Aufgaben dort gut erfüllen. Neben seiner funktionellen Relevanz untermalt das Notariatsinspektorat die sehr bürokratische und etwas kafkaesque Atmosphäre des Gebäudes. Die überwältigende und einschüchternde Wirkung, die ein solch offizielles und bürokratisches Gebäude wohl auf die Patienten haben musste, ist nachzuvollziehen, vor allem für die vielen jungen, oft sozial benachteiligten Frauen, welche zur Sterilisation genötigt wurden.
(Links: Chamhaus, ganz rechts: Seidenbetrieb) Abb. 2: Untere Zäune 2 vor dem Umbau zur Psychiatrischen Poliklinik, 1910
Zwangssterilisationen
Zwischen 1923 und 1968 wurden tausende von Sterilisationen durch die Psychiatrische Poliklinik Zürich begutachtet, oft ohne die Einwilligung der Patient*innen. Alleine in der 1930ern vermutet man zwischen 1700 und 3600 Zwangssterilisationen. Die meisten Abklärungen erfolgten an Frauen, vermutlich weil die Sterilisation von Männern stark stigmatisiert war und in Verbindung mit Kastration und Männlichkeitsverlust gebracht wurde. Dazu war der häufigste „Beweggrund“ der Sterilisation die Abtreibung. Ob die Ärzte eine Sterilisation anordneten, hing stark vom sozialen Status oder der Herkunft der Frau ab. Diese Entscheidungen fielen die Ärzte aufgrund von Prinzipien der Eugenik.
Handlungsrahmen
Ab 1917 war der Oberarzt Hans Wolfgang Meier vom PUK der Leiter der Psychiatrischen Poliklinik. Er sprach sich mehrmals für eine weitreichende Zwangssterilisationspolitik aus eugenischen Gründen aus. Gesetzlich war der Handlungsrahmen ein wenig strikter als es Meier sich gewünscht hätte. Eine Sterilisation war nur mit Einwilligung des Patienten erlaubt. Ein operativer Eingriff war nur zu „Heilungszwecken“ erlaubt. Diese Heilungszwecke können aber auch prophylaktisch sein. Demnach waren Eingriffe in die Schwangerschaft und Fertilität erlaubt, sofern eine Schwangerschaft oder ein Kind die psychische Krankheit verschlimmern würde. Es war also immer eine psychiatrische bzw. medizinische Indikation verlangt. Welche Indikationen genau als zureichend galten, überliess das Gesetz aber den Medizinern. So wurde für sozial und eugenisch motivierte Sterilisationen oft ein medizinischer Grund „gefunden“. Die Abtreibungen wurden auch locker handgehabt. 1923 wurden soziale und eugenische Gründe als Teilindikationen erlaubt für den Schwangerschaftsabort. Als 1942 das StGB in Kraft trat wurde dies strenger reguliert und die Sterilisations- und Abtreibungszahlen gingen drastisch herunter.
Junktim-Praxis
Die meisten Sterilisationen wurden wegen Abtreibung verordnet. Frauen, die ein Schwangerschaftsabort wollten, brauchten eine medizinische Abklärung, um dies bewilligt und evtl. teilweise finanziert zu bekommen. Für diese Abklärung konnte man zu staatlichen Einrichtungen, wie der Poliklinik, oder zu Privatkliniken. Die meisten Abtreibungen waren aus sozialer Not, also zu wenig Geld oder eine uneheliche Schwangerschaft. In der Psychiatrischen Poliklinik wurde dann oft die Abtreibung nur in Kombination mit einer Sterilisation bewilligt. Diese Koppelung wird als Junktim-Sterilisation oder Junktim-Praxis bezeichnet. Also fanden sich Frauen genötigt zur Sterilisation einzuwilligen, weil sie unbedingt eine Abtreibung wollten. Der Zwang war eher ein systemischer als ein direkter Zwang. Die Sterilisation galt als Legitimation einer sozial begründeten Abtreibung, welche zur damaligen Zeit kaum akzeptiert waren.
Analyse der Fallbeispiele
Roswitha Dubach ist ein Grossteil des Wissens über diese Zwangssterilisationen in der Psychiatrischen Poliklinik zu verdanken. Sie analysierte auch viele Fallbeispiele aus den Akten der Poliklinik und ein übliches Muster ist zu erkennen. Die Patient*innen waren meist verheiratete Frauen aus der Arbeiterklasse, die notfallsmässig eine Abtreibung wollten. Sicher die Hälfte dieser Frauen wurden Junktim sterilisiert, einem Viertel wurde die Abtreibung nicht bewilligt und einem Viertel die Abtreibung ohne Sterilisation. Die Ärzte stuften die Frauen als dauerhaft Schwangerschaftsunfähig ein, oder erkannten es als aussergewöhnliche Notfalllage an. Es gab auch viele Abklärungen, sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen Individuen, bei denen die Sterilisation von Patient*in gewünscht wurde. Bei unverheirateten Frauen zeigen sich die sozial-eugenischen Motive stärker. Wurden die Frauen als „rechtschaffend“ eingestuft, wurden sie nicht sterilisiert, weil sie ihre gesellschaftliche Rolle als Mutter noch zu erfüllen hatten. War aber eine eugenische Indikation vorhanden, wie Vorfahren mit geistiger Behinderung, oder Sexualverhalten, welches nicht der damaligen Norm entsprach, so wurde immer eine Sterilisation angeordnet.
Gesellschaftlicher Kontext
Die Sterilisationspraxis der Psychiatrischen Poliklinik ist ein gutes Beispiel für die wissenschaftlich-politischen und sozialen Veränderungen der Zeit. Oftmals wurden sozialpolitische Angelegenheiten damals verwissenschaftlicht, bei unserem Beispiel ist es umgekehrt. Die Wissenschaft wurde stark von der sozialpolitischen Lage beeinflusst. Die Einflüsse der pseudowissenschaftlichen Eugenik sind unübersehbar. Begriffe der alten Akten, wie „hereditäre Belastung“, „Schwachsinn“ und „Imbezillität“ weisen eindeutig auf dieses Gedankengut. Ein weiteres Beispiel ist der Fokus auf die Mutterrolle der Frau und die „Pathologisierung“ von Verhalten, die der gesellschaftlichen Normen entweicht. Diese in die Gesellschaft eingebetteten Glauben suggerieren auch einen gewissen „Zwang zum Selbstzwang“. Konkret bedeutet es, dass Frauen die Entscheidung zur Sterilisation eventuell als autonom wahrgenommen haben, obwohl die Entscheidung aufgrund des gesellschaftlichen Drucks zustande kam.
Zwangssterilisation heute
Auch heute finden in der Schweiz Zwangssterilisationen statt. Die Betroffenen sind schwer beeinträchtigte, urteilsunfähige Personen. Die Sterilisation ist erlaubt, wenn mit der Zeugung des Kindes zu rechnen ist, wenn die Elternverantwortung nicht genügend wahrgenommen werden kann oder es im Interesse der zu sterilisierenden Person ist. Ein Einverständnis der Kesb ist hierfür notwendig. Berichtet wurden nur 16 Sterilisationen in den letzten 10 Jahren (stand 2023), doch die Dunkelziffer könnte einiges grösser sein. Die Abklärungen über die Kesb werden vermutlich oft umgangen.
Bildquellen
- Abb. 1: Eigenaufnahme
- Abb. 2: Hochbauamt der Stadt Zürich, Untere Zäune 2 und Chamhaus, 1910, Fotografie, Link (abgerufen 25.11.2024)
- Abb. 3: Illustrationen von Felix Eisengräber zu den Aufsätzen von Erich Lexer und Albert Döderlein über die Eingriffe zur Unfruchtbarmachung von Frauen (links) und Männern (rechts), erschienen in der von Arthur Gütt, Ernst Rüdin und Falk Ruttke bearbeiteten und erläuterten Publikation Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, J. F. Lehmanns Verlag, München 1934 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich, GR 1043)
- Abb. 4: Dudli Hanspeter, Untere Zäune 2, 2009, Fotografie, Link (abgerufen 25.11.2024)
Literatur
- Marietta Meier, Brigitta Bernet, Roswitha Dubach, Urs Germann: Zwang zur Ordnung; Psychatrie im Kanton Zürich, 1870-1970. Zürich, 2007
- Roswitha Dubach; Roswitha Dubach: „Sterilisation und Kastration“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.02.2024. Link, konsultiert am 25.11.2024
- o.A.: Geschichte der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik. Link, konsultiert am 25.11.2024
- Staatsarchiv Zürich: PLAN D 2601 Haus Lindenegg (ehemaliger Chamhaus-Garten), Untere Zäune 2, Seidenbetrieb von Herrn Wild-Nägeli: Kellergeschoss; Grundriss, 1851.09.01 (Dokument), Link, konsultiert am 25.11.2024
- Andreas Faessler (Hg.): Zuger Zeitung. Hingeschaut: Vom Aufstieg der Chamer in Zürich. Link, konsultiert am 25.11.2024
- Staatsarchiv Zürich: MM 3.89 RRB 1954/2825 Verwaltungsgebäude «Lindenegg»., 1954.10.06 (Dokument), Link, abgerufen am 25.11.2024
- Staatsarchiv Zürich: Psychiatrische Poliklinik, 1912-2003 (Fonds), Link, abgerufen am 25.11.2024