Zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Hörbehinderung in ausgewählten Beispielen aus der Kinder- und Jugendliteratur

Melanie Rothaupt

Zwei Bilder stehen nebeneinander. Das rechte Bild zeigt eine Illustration eines Mädchens von der Seite, welches auf ihr Ohr deutet. Hinter ihrem Ohr befindet sich ein Auschnitt des Himmels mit weissen Wolken. Auf dem zweiten Bild sieht man eine Häsin, die durch den Himmel fliegt. Die Kabel ihres Hörgeräts (ein altes Modell) bilden den Schriftzug "Read".
Illustrationen zu Sara Novićs Roman True Biz (links) und zu Cece Bells Graphic Novel El Deafo.

Hörbehinderung zählt grundsätzlich zu den unsichtbaren Behinderungen, da sie zumindest auf den ersten, oberflächlichen Blick nicht wahrnehmbar ist. Doch gerade in der Literatur bietet sich die Möglichkeit, Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit auf eine textuelle, aber auch graphische Weise erfahrbar zu machen. In meiner Bachelorarbeit wollte ich dieser Sichtbarmachung nachgehen und danach fragen, wie die zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit abbildet. Im Zentrum stehen Momente, in denen Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit von den Figuren selbst als soziale Erfahrung und identitätsstiftend in ihrem alltäglichen Leben verhandelt werden. Ausgehend von dem im deutschsprachigen Raum noch wenig verbreiteten Feld der Disability Studies habe ich mich literaturtheoretisch sechs Werken aus der Kinder- und Jugendliteratur genähert. Dabei habe ich drei Romane, eine Kurzgeschichte und zwei Graphic Novels ausgewählt.

«Being Deaf [is] not a consequence of not hearing.

Being Deaf [is] an existential experience, complete in itself and not a consequence of broken bodies but the outcome of biological destiny.»

Jackie Leach Scully (zit. nach Padden and Humphries)

In meiner Bachelorarbeit zeigt sich die Hörbehinderung nicht mehr als objektiv messbare Einheit zwischen Hören und Nicht-Hören, sondern sie stellt dem medizinischen Verständnis das individuelle Empfinden entgegen. Statt den Hörverlust also als fehlenden Prozentsatzes des Hörvermögens zu präsentieren, nehmen die Werke die alltägliche Erfahrung und die Empfindungen der Figuren in den Blick. Die Werke hinterfragen die vorherrschende Wahrnehmung von Gehörlosigkeit als blosse Absenz von Gehör und Sprache. Dabei geraten gängige Annahmen zur Kommunikation, (Gebärden-) Sprache und Anderssein ins Wanken. Stattdessen handeln die Bücher von Selbstakzeptanz der Figuren, die ihre Hörbehinderung sogar als Gewinn betrachten können. Denn warum muss anders sein gleich schlecht sein? Mit dem Anderssein kann auch viel gewonnen werden.

«Our differences are our superpowers

Cece Bell


Quellen:

Abb. 1. True Biz. Illustration von Josie Norton, https://www.nytimes.com/2022/03/15/books/review/true-biz-sara-novic.html. (Abgerufen am 15.12.2022).

Abb 2. El Deafo. Illustration von Cece Bell. https://www.thelibrarymarketplace.com/products/el-deafo-poster. (Abgerufen am 15.12.2022).

Scully, Jackie Leach: Deaf Identities in Disability Studies. In: Watson, Nick, und Simo Vehmas (Hgg.). Routledge Handbook of Disability Studies. 2. Aufl. Abingdon, Oxon: Routledge, 2020. S. 147.

Bell, Cece: El Deafo. New York: Amulett Books, 2014. S. 237.

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