Haldenbachstrasse 22 (Karte)
von Yusur Al-Azzawi
Entlang der Haldenbachstrasse 22 erhebt sich eine Villa, die heute eine Kindertagesstätte des Universitätsspitals Zürich ist. Doch diese Villa birgt eine bedeutende Geschichte: Hier befand sich einst das erste kantonale Säuglingsheim der Stadt Zürich. Es war eine Einrichtung, die aufgrund ihrer innovativen Herangehensweise an die Betreuung von Neugeborenen eine wegweisende Rolle in der gesamten Schweiz einnahm.
Im Jahr 1908 wurde das wahrscheinlich erste staatliche Säuglingsheim dieser Art in Europa in der Villa Rosenberg in Zürich von Prof. Jakob Bernheim gegründet. Dadurch wurde ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der Neonatologie aufgeschlagen. In einer Zeit, die von medizinischen Fortschritten und sozialen Veränderungen geprägt war, entstand der Rosenberg als Antwort auf die dringende Notwendigkeit, kranke und schwache Neugeborene angemessen zu versorgen. Diese Entwicklung spiegelte sich eindrucksvoll in der Senkung der Säuglingssterblichkeit während der letzten 150 Jahre wider.
Gründung des Säuglingsheims durch Prof. Jakob Bernheim
Das Säuglingsheim Rosenberg wurde im Jahr 1908 durch Jakob Bernheim gegründet. Er war ein Zürcher Arzt, welcher seine Leidenschaft für die Medizin früh entdeckte. Nach Beendung seines Studiums widmete er sich der Kinderheilkunde, später eröffnete er seine eigene Praxis. Zusätzlich arbeitete er im Labor des Hygieneinstituts, beim damaligen Leiter des Kinderspitals. Dort erlebte er, wie die Tochter eines früheren Lehrers verstarb. Bernheim war der Meinung, dass das Kind mit Ammenmilch hätte gerettet werden können. Die Reaktion des Lehrers auf den Tod seiner Tochter prägte Bernheim sehr. Zur damaligen Zeit war die Kinderheilkunde in der Schweiz noch nicht als Spezialfach anerkannt, dies hielt Bernheim jedoch nicht ab. Er vertrat die Meinung, dass die Betreuung der Säuglinge eine staatliche Aufgabe sein soll. Er setzte sich stark für die Gründung eines kantonalen Säuglingsheim ein, dieses entstand dann auch im Jahr 1908. Das rennovationsbedürftige Gebäude der Villa Rosenberg war ursprünglich Teil der Frauenklinik Zürich und diente zur Unterbringung von Krebspatientinnen. Theodor Wyder, Gynäkologe und damaliger Direktor der Universitätsklinik unterstützte Bernheim in seiner Idee.1905 wurde die Villa für die Benutzung als Säuglingsheim zugesprochen. Trotz des kantonalen Status kam der Kanton nicht für das gesamte nötige Kapital auf. Er hat lediglich einen Kredit von 4000.- zur Verfügung gestellt. Das restliche Geld wurde durch Privatpersonen aufgetrieben.
Neonatale Betreuung und Versorgung im Säuglingsheim
Die neonatale Betreuung und Versorgung der Säuglinge erlebten im Laufe der Zeit eine bedeutende Entwicklung, die wesentlich zum Wohlbefinden und Überleben der Neugeborenen beitrugen. Bernheim war bewusst, welch eine wichtige Rolle die Ernährung spielt und arbeitete an der Verbesserung der Ernährungsbedingungen, indem er beispielsweise Ammen anstellte, die die Neugeborenen stillen sollten. Später wurde Milch auch abgepumpt oder in der Milchküche aus Pulver zubereitet. Bei Frühgeborenen wurde die Milch je nach Bedarf mit Eiweiss, Kalzium und Phosphor angereichert. Neugeborenen, die nicht selbstständig saugen und schlucken konnten, wurde eine Sonde in den Magen vorgeschoben und damit ernährt. Eine weitere wichtige Rolle spielte die Isolation der Säuglinge. Die Babys wurden in der Villa Rosenberg isoliert. Nur diejenigen, die das Frühgeborene pflegen oder behandeln mussten, hatten Zutritt zur Frühgeborenenabteilung, die Eltern durften ihr Neugeborenes also nicht direkt besuchen und mussten sich damit begnügen, ihr Neugeborenes durch die verglaste Abteilungstür zu sehen. Somit wurden enge Berührungen und so auch Zärtlichkeiten vermieden. Dies war ein Punkt, welcher damals für Kritik sorgte.
Kritische Beurteilung des Säuglingsheims
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden intensive Debatten über die Ursachen des „Hospitalismus“ geführt, der in Findelhäusern und Säuglingsheimen kursierte und häufig zum Tode der Neugeborenen führte. Der Kinderarzt Meinhard von Pfaundler sah die Ursache in der psychischen Vernachlässigung der Säuglinge, denen eine enge Beziehungsperson fehlte. Von Pfaundler beschrieb bereits im Jahr 1901 die Stadien des Hospitalismus und die damit verbundenen emotionalen und körperlichen Entwicklungsstörungen. Er kritisierte, dass Neugeborenen oft nicht nur die Muttermilch, sondern auch die individuelle mütterliche Pflege entzogen wurde, indem sie in Säuglingsheimen untergebracht wurden. Obwohl diese Kritik am fehlenden Mutter-Kind-Kontakt bekannt war, wurden die Säuglinge im von Jakob Bernheim gegründeten Säuglingsheim Rosenberg ebenfalls isoliert und von ihren Müttern getrennt untergebracht. Dies widersprach den Erkenntnissen von Pfaundler und trug potenziell zu den negativen Folgen des Hospitalismus bei den Neugeborenen bei. Des Weiteren kann man die im Säuglingsheim betriebene Forschung durch Prof. Jakob Bernheim kritisieren. Er führte zwischen 1911 und 1913 mehrere Forschungsprojekte durch, wobei er die Säuglinge als Forschungsobjekte betrachtete und verschiedene experimentelle Ansätze zur Untersuchung von Krankheiten und Therapiemethoden verwendete. Ein Beispiel dafür ist seine Studie zur Sommerdiarrhöe, bei der er den Einfluss von zersetzter Milch auf Säuglinge untersuchte. Dabei ernährte er 80 Kinder mit sorglos aufbewahrter Milch und beobachtete die Auswirkungen auf ihre Gesundheit. Hierbei ist fraglich, welchen Nutzen diese Experimente für die Säuglinge hatten.
Ammenwesen in der Schweiz
In der Schweiz stillten die Mütter ihre Säuglinge grundsätzlich selbst. Vor allem in ländlichen Gebieten war das Stillen stark verbreitet. War eine Mutter nicht fähig, ihr eigenes Kind zu stillen, so half man sich gegenseitig aus. Dies geschah meistens durch Vermittlung der Hebamme, war dies nicht möglich, musste man sich mit Kuh- oder Ziegenmilch begnügen. Das Stillen, entweder durch die eigene Mutter oder durch eine Amme, war für die Neugeborenen unabdingbar, um zu überleben. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte sich ein rudimentäres Ammensystem. Durch dieses System ergab sich die Möglichkeit für unverheiratete Mütter, sich aus einer finanziellen Notlage zu verhelfen. 1911 stellten das Kantonale Säuglingsheim und die Frauenklinik gesunde Frauen als Ammen an. Diese mussten neben ihrem eigenen Kind mindestens ein weiteres stillen und erhielten nach einer erfolgreichen Probezeit als Gegenleistung freie Verpflegung, ein Bettchen fürs eigene Kind und ein Monatsgehalt von 20 bis zu 35 Franken.
Bildquellen
Abb. 1: Eigenes Foto
Abb. 2: https://www.e-pics.ethz.ch/index/BAZ/BAZ_190466.html
Literatur
Ritzmann, Iris: Zwischen Fürsorge und Forschung: Die Anfänge des kantonalen Säuglingsheims. Unpubl. Vortragsnotizen, Zürich 2008.
https://www.tellmed.ch/tellmed/Presse/100_Jahre_Neonatologie_in_Zuerich.php
https://www.aerzteblatt.de/archiv/61445/Neonatologie-Eine-Handvoll-Mensch
100 Jahre Neonatologie Zürich -Dokumentation zur Ausstellung – UniversitätsSpital Zürich