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Anderswelten: Die Höhle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Ob als Behausung von Ungeheuern und Fabelwesen, als Zufluchtsort für Liebende, als Zugang zum Jenseits oder als künstlich angelegter Staunensraum: Höhlen sind in zahlreichen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit von besonderem Stellenwert, da sie sich in ihrer Andersartigkeit von der alltäglichen Lebenswelt unterscheiden und gängige Wissens- und Erfahrungsmöglichkeiten hinterfragen. Der Begriff der Höhle bezeichnet ganz allgemein gefasst eine oberflächliche Aushöhlung, einen Hohlraum im Innern der Erde. Die literarischen Darstellungen dieser unterirdischen Gänge sind verwinkelt und führen unmittelbar in die Tiefe von wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Im Rahmen eines anregenden Bachelor-Seminars der Älteren Deutschen Literaturwissenschaft sind wir in die

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Grenzen der Metaphern? Reflexion auf Sprache und Dichtung in einem correctio-Sonett von Philipp von Zesen

Philipp von Zesen (1619–1689) veröffentlichte 1641 seinen Deutschen Helicon, ein Lehr- und Theoriebuch über deutsche Lyrik mit zahlreichen eigenen Gedichten, die auch als Anschauungsmaterial für die formulierte Verslehre fungieren sollten. Eines davon ist überschrieben mit Alexandriniſch Sonnet. So ſich mit weiblicher endung anfaͤht. Auf die haar einer Jungfer[1]: SEyn das die guͤldnen haar? ach gold/ ſie koͤnnen zwingenund binden meinen muth mit ihrem glantz an ſich;Nicht bande; ſtraalen ſeyns; damit ſie blaͤndet michdie Sonne meiner zeit; Nicht ſtraalen; blitze dringen mit eingemiſcht herzu/ und in den Luͤfften ringen;Nicht blitze; Seenen ſeyns/ davon ſo ſeuberlichdie guͤldnen pfeile ſchieſt der kleine Wuͤtherich.Nicht

Gespenster oder unsichtbare Menschen? Macht und Materialität des Teufels um 1700

In der reformierten Theologie der Frühen Neuzeit galten sämtliche Gespenster als Werk des Teufels. Dieser agiere jedoch nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern lediglich als Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Diesbezüglich hält der Elsauer Pfarrer Bartholomäus Anhorn von Hartwiss (1616–1700) in seinem Traktat Zorn-Zeichen Gottes (1665) fest, dass Gott die Teufelsgespenster aussende, um die Frommen zu erschrecken, zu warnen und zu versuchen, und um die Sünder zu bestrafen.[1] Anhorn schreibt weiter, dass Gespenster – auf Geheiss Gottes – die Menschen offtmahlen gewalthätig zuverletzten pflegen.[2] Sie waren somit Teil des zu dieser Zeit intensiv geführten Wunderzeichendiskurses. Pestepidemien, Hungersnöte, Kriege etc.

Licht und Schatten: Gryphius’ Gespenster und ‚Special Effects‘

Computer-generated Imagery – oder kurz CGI – macht es möglich: Tupac Shakur († 1996) performt auf dem Coachella (2012). Harold Ramis († 2014) hilft in Ghostbusters: Afterlive (2021) als Totengeist von Egon Spengler, den Weltuntergang zu verhindern. Und Carrie Fisher († 2016) richtet als Leia Organa in Star Wars 9: The Rise of Skywalker (2019) letzte Worte an Rey und Poe. Auch wenn es bei den genannten Beispielen noch kleinere Probleme bei der künstlerischen Restauration – speziell von Mimik, Sprechverhalten und Alterung – der wiederbelebten Personen gibt,[1] stellen diese einen technischen Höhepunkt von Authentizität im Spannungsfeld von Deep-Fake und würdigender Memorialkultur dar. Generell

Akte und Objekt als Einblick in die gelebte Realität der frühen Neuzeit

Content Notifications: Sexuelle Gewalt, Abtreibung, Gewalt gegen Frauen Am 15.11.1654 wurde am Hof zu Hessen-Kassel ein Schreiben eingereicht, in dem Konstantin ‚Stam‘ Neurath (1633–1719), Lakai am Hof der Prinzessin und Schwester des Landesfürsten, der nothzucht anklagt wird. Verfasserin der Bitte um landesfürstlichen Beistand war Anna Martha Wißler. Sie identifiziert sich als Hans Georg Wißlers eheleibliche Tochter, ihrer Eltern Eheliches erzeugtes Landts Kindt, und bittet um Landts Vätterlichen Beistand. Das Schreiben hat einen Umfang von nur wenig mehr als einer Seite und nimmt Bezug auf eine womöglich längere Bittschrift vom vorhergehenden Tag, die vermutlich nicht erhalten ist. In dem kurzen Brief

Text-Bild-Verhältnisse: Die Titelseiten frühneuzeitlicher Praktiken und Praktikparodien

Das prophetisch-astrologische Schrifttum der Frühen Neuzeit Im 15. und 16. Jahrhundert florierte das astrologisch-prophetische Schrifttum geradezu, nahm Einfluss auf das alltägliche Leben, aber auch auf Politik, Religion und Wissenschaft: Sogenannte ,Lasstafeln‘, Ein- oder Mehrblattdrucke, verrieten unter Angabe der Neu- und Vollmonde günstige Termine für medizinische Behandlungen, insbesondere den Aderlass, aber auch für landwirtschaftliche Tätigkeiten wie Aussaaten. Die zu ihnen ursprünglich als Ergänzung gedachten ‚Praktiken‘ oder ,Prognostiken‘ machten hingegen die Gestirnkonstellation zu Jahresbeginn oder im Jahresverlauf zum Ausgangspunkt ihrer Vorhersagen und etablierten sich schließlich als eigenständige Gattung. Sie gaben vornehmlich Auskünfte über Witterungsbedingungen und Ernteaussichten, aber auch zu Krankheiten, Unglücksfällen oder

Adressierungsstrategien in Trauer-Tweets aus linguistischer und theologischer Perspektive

In diesem Blogbeitrag geben wir einen Einblick in die Trauer-Kommunikation auf Twitter. Wir untersuchen, wie Menschen ihre Trauer im Internet – hier konkret auf dem Microblogging-Dienst Twitter – ausdrücken. Zunächst gehen wir auf unsere Daten und methodischen Herangehensweisen ein, im Anschluss daran präsentieren wir einige Ergebnisse. Als Datengrundlage haben wir ein Korpus mit Tweets erstellt, die mindestens einen der folgenden Hashtags enthielten: #RIP, #restinpeace, #RuheInFrieden oder #R.I.P. Berücksichtigt wurden ausserdem nur Tweets, die von Twitter als Deutsch getaggt worden waren und keine Retweets sind. Der gesicherte Zeitraum reicht von Twitters Gründung 2006 bis zum Zeitpunkt der Erhebung, die zwischen dem

Die Kopien der Madonna di Trapani: Medien eines Gnadenbildes

Im 17. Jahrhundert hatte die Verehrung marianischer Gnadenbilder längst globale Ausmasse angenommen, wie der Jesuit Wilhelm Gumppenberg in seinem Atlas Marianus, einer Sammlung von 1200 wundertätigen Bildern der Jungfrau Maria aus aller Welt, den Lesern deutlich vor Augen zu führen suchte.[1] Insgesamt 266 Ordensbrüder hatten sich an dem in seiner geografischen Expansion einzigartigen Projekt beteiligt und Gumppenberg in rund 2000 Briefen von der Geschichte und dem Wirken ihrer lokal verehrten Bildnisse berichtet.[2] Eines dieser Mariengnadenbilder war die Madonna di Trapani (Abb. 1). Ab dem 15. Jahrhundert hatte die in der sizilianischen Küstenstadt Trapani verehrte Marmorstatue der Jungfrau Maria bei den Gläubigen zusehends

Mit Steinen kommunizieren? Materielle Darstellungsformen des Bergkristalls im Mittelalter

Viele Objekte der mittelalterlichen Kunst und Kultur bestehen typischerweise aus den kostbarsten und seltensten Materialien.[1] Insbesondere Dinge, die in physischer Realpräsenz mit dem Heiligen (z. B. Reliquiare) oder innerhalb erzählender Texte mit dem Wunderbaren (z. B. Zelte, Automaten, Schwerter) in Verbindung stehen, erhalten zusätzlichen Glanz und sind häufig zu großen Teilen mit Edelsteinen besetzt.[2] Die wertvollen Steine dienen dabei aber nicht ausschließlich der Aufwertung und Zierde der einzelnen Kunstwerke, sondern können in verschiedener Hinsicht funktionalisiert sein. Neben allegorischen Implikationen, die insbesondere in der christlichen Exegese mit den Steinen zusammenhängen, sind es auch spezifische Konfigurationen des Materials, die in bildender Kunst und Literatur

Gesungenes Heil: ›Die Bibel in drei Liedern‹ (Augsburg 1534)

Im Anfang da schuoff Gotte Den himmel vnd die erd  Auch ruowet er on spotte Ein spyß verbot der werd. Die schlang verfürt daz wybe mit sampt dem mann darnach. Der Cayn bracht von lybe Sin bruoder Abel trüwe Die vätter sturben gmach. (Gn 1,1–5) Die Strophe entfaltet in äußerster Verknappung das Spektrum von Schöpfungsgeschichte, Sündenfall, Brudermord und Geschlechtsregister von Adam und seinen Kindern bis auf Noahs Geburt (Gn 5,29). Während die ersten beiden Verse den Beginn des ersten Buchs Mose in einer auf Wiedererkennbarkeit angelegten Wörtlichkeit präsentieren (In principio creavit Deus caelum et terram Gn 1,1), komprimieren die folgenden