Der letzte Fürstabt von St. Gallen, Pankraz Vorster, scheint nicht vom Glück verfolgt worden zu sein. Am 1. Juni 1796 wurde er gegen seinen Willen zum Abt gewählt – zum Abt eines Klosters, dessen Blütezeit schon längst vergangen war und das stattdessen unaufhaltsam der Verschuldung, Aufständen in der Schweizer Bevölkerung und dem drohenden Einmarsch der französischen Truppen entgegenschritt.

Abb. 1: Der Verlust seines Klosters, die vielen Reisen und die immer knappere Reisekasse haben sich in Vorsters Gesicht niedergeschlagen – zumindest scheint es sich für einen Porträt-Maler der 1810er oder 20er Jahre so präsentiert zu haben. Nicht umsonst schrieb sein Sekretär, Kolumban Ferch, 1830 in einem Brief an das st. gallische Generalvikariat von dem freylich wenig getroffenen Portrait des Hochseligen.
StiASG, Nachlass Pankraz Vorster, Nr. 3690. Das Porträt findet sich als Epitaph im Kloster Muri, digital: StASG, BMA 519, DIG 01.

Angesichts dieser tristen Ausgangslage bemerkte Vorster am Tag der Abtswahl in seinem Tagebuch: Den ersten Brachmonaths traf mich das Unglück, zum Abbten des so sehr zerütteten Gotteshauses St. Gallen erwöhlt zu werden: Der Himmel wolle mir beistehen und diese Bürde erträglich machen […]. Dennoch gelang es ihm – mal schlechter, mal besser –, sich einige Jahre als Fürstabt eines umfassenden Herrschaftsgebiets durch den politischen Irrwald hindurchzuschlagen. 1799 wurde es ihm dann aber spätestens (und nicht zum ersten Mal) etwas gar zu unbequem in den fürstäbtischen vier Wänden: Am 26. September 1799 schrieb er in sein Tagebuch: […] Ich nahm also meine Maasregeln, packte alles ein, flüchtete, was zu flüchten war, fragte jeden Religiosen, ob er zu Hauß bleiben wollte oder nicht, und machte für jene, die herauswollten, Anstalten zur Abreiß, redete mit dem Herrn General von Gruber ab, um morgen in der Fruhe von hier abzugehen. Es sollte denn auch bei diesem Entschluss bleiben – Vorster kehrte nach dem hastigen Aufbruch am 27. September morgens um 3 Uhr zeit seines Lebens nicht mehr nach St. Gallen zurück.

Die Odyssee eines Heimatlosen

Abb. 2: Tagebuch von Pankraz Vorster; 15. Dezember 1818.
StiASG, Nachlass Pankraz Vorster, Tagebuch III.

Mehr als 20 Jahre reiste Pankraz Vorster durch ganz Europa: in die St. Galler Herrschaft Ebringen, nach Mehrerau, Augsburg und Neuravensburg, an den kaiserlichen Hof in Wien, nach Slawonien, Prag und Rom, bis nach Arth (SZ) und Zürich. Schliesslich fand er in der Benediktinerabtei in Muri seine längste Zuflucht: Von 1819 bis zu seinem Tod 1829 blieb er dort, unterrichtete naturwissenschaftliche Fächer und leckte wohl seine Wunden als gescheiterter Fürstabt in einem fremden Kloster.

Dieses fremde Kloster wurde in Vorsters letzten zehn Jahren zu einer zweiten Heimat, doch scheint es schon vorher ein geschätzter Rückzugsort gewesen zu sein. Auch hier bietet sein Tagebuch zahlreiche Einblicke in die Gedankenwelt des ehemaligen Fürstabts. Am 9. September 1814 notierte er beispielsweise: […] Morgen in der Fruhe trat meine Reise naher Wien an, nachdem ich hier in Muri sehr wohlthätig und brüderlich behandelt war und sowohl Herr Fürstabt als die Seinige auf jeden Fall mich eingeladen, wieder zu ihnen zu kommen. Ähnliches schrieb er am 15. Dezember 1818: [B]egab mich mit P. Columban fruhe Morgen auf Schiff naher Zug, speiste da zu Mittag und kam glücklich abends in Muri an: Herr Prälat und die übrige Herren empfiengen uns mit vieler Bruderliebe und Freundschaft (Abb. 2).

Beispiele für eine solche Verbundenheit gibt es noch einige; klar wird jedenfalls, dass Pankraz Vorster das Kloster Muri als Aufenthaltsort schätzte und keinerlei Bestrebungen zeigte, die Abtei, die sowohl ihn als auch seinen Sekretär Kolumban Ferch aufgenommen hatte, jemals wieder für eine längere Zeit verlassen zu wollen.


Der Letzte Wille Pankraz Vorsters

So bedachte Vorster das Kloster Muri denn auch als Zeichen der Dankbarkeit und Vertrautheit mehrmals in seinem Testament aus dem Jahr 1821. Er hinterliess der Abtei verschiedene Schriften und Bücher und vertraute ihr zudem einige Kostbarkeiten zur sicheren Aufbewahrung an, bis entweder das Kloster St. Gallen restituiert oder zumindest ein Bistum gegründet worden sei. Vorster rechnete damit, bis zu seinem Tod in Muri zu bleiben. So regelte er in seinem Letzten Willen die Begleichung seiner Bestattungskosten und die Vergabe seiner Kleidung und sonstiger kleiner Hausratsgegenstände an das klösterliche Personal – die Abtei Muri nannte er dabei stets an erster Stelle. Das Vererbte beispielsweise sollte jenem Orte überlassen seyn, wo wir werden begraben werden, mithin dem Gotteshause Mury, wenn wir da sollten zu Grabe gebracht werden. An anderer Stelle heisst es, einige Stücke aus dem Nachlass seien den Dienstboten des Stiftes Mury oder des Hauses, wo wir dieses Zeitliche verlassen werden, […] auszutheilen (Abb. 3 u. 4).

Abb. 3 und 4: Testament von Abt Pankraz Vorster; 1. Juni 1821.
StiASG, Nachlass Pankraz Vorster, Nr. 3688.

Im Gegensatz zu Muri ging St. Gallen praktisch leer aus: Nur die vier Pfarreien Wil, Rorschach, Gossau und Lichtensteig wurden mit den Resten von Vorsters Ersparnissen bedacht; der grösste Anteil der jährlichen Pensionen, die Vorster vom Kanton St. Gallen erhalten hatte, hatte er nämlich bereits vor seinem Tod in Jahrzeitenstiftungen investiert – unter anderem in das „St. Galler Examen“, eine Stiftung, die noch heute die besten Schülerinnen und Schüler aus Muri auszeichnet.


Die Suche nach dem Nachlass

Heute findet sich im Kloster Muri kaum noch etwas aus der versprochenen Hinterlassenschaft Vorsters. Vielmehr wird fast der gesamte Nachlass im Stiftsarchiv St. Gallen aufbewahrt – und das, obwohl die Fürstabtei, wie Pankraz Vorster es sich doch gewünscht hatte, keineswegs restituiert wurde. Auch sonst scheint das Testament in vielen Punkten unberücksichtigt geblieben zu sein: Den eigenen Blutsverwandten beispielsweise vermachte Vorster explizit nichts: [Es] ergiebt sich, daß niemand als Erbe auf unsern Nachlaß den geringsten Anspruch machen könne. Was nie unser Eigenthum war, kann auch an niemand als Erbschaft übergehen. Doch nach deren Anfechtung des Letzten Willens wurde auch ihnen ein Teil des Erbes zugesprochen – wovon inzwischen wiederum einige Stücke ihren Weg ins Stiftsarchiv St. Gallen gefunden haben (Abb. 6).

Das Kloster Muri zollte dem Andenken des St. Galler Fürstabtes gegenüber grossen Respekt: Die Wünsche des Testaments wurden – sofern heute noch nachvollziehbar – genauestens befolgt, das Begräbnis nach Vorsters Wünschen vollzogen, die Hinterlassenschaft aufgeteilt und bis zum Abholen der jeweiligen Parteien aufbewahrt, und auch die Kostbarkeiten, die in Muri gehütet werden sollten, dem Bistum St. Gallen gleich nach dessen Gründung übergeben.

Die St. Galler Behörden hingegen zeigten sich nicht von ihrer besten Seite: Lange wurde beispielsweise das den Pfarreien zugedachte Geld nicht in Muri abgeholt; so lange nicht, dass schliesslich Kolumban Ferch einen Brief in leicht genervtem Tonfall an das Generalvikariat in St. Gallen verfasste. Es habe sich nämlich noch niemand von den st. gallischen hiervon Betheiligten, um den ihm beschiedenen Antheil in Empfang zu nehmen, gemeldet! (Abb. 5) Auch indem der Kanton St. Gallen einige Jahre später Nachforschungen über den Verbleib des fürstäbtischen Tagebuchs anstellte, übergingen sie Vorsters Testament. Dieser nämlich hatte private Schriften sowie einige Bücher und Karten seinem Sekretär vermacht; vermutlich befand sich darunter auch sein Tagebuch. Es war jedoch fest geregelt: Sollte Ferch vor einer eigenen Verfügung sterben, hätte Vorsters schriftlicher Nachlass gesamthaft an das Kloster Muri zu fallen: Die wenigen Bücher und Schriften mag RP. Columban zu Handen nehmen und sie lebenslänglich benutzen; nach dessen Hintritt sind sie ein Eigenthum des Stiftes Mury (Abb. 3 u. 4).

Abb. 5: Im selben Brief schrieb Ferch auch über die Anfechtung des Testaments vonseiten Vorsters Familie, die er als das vermessene, widerrechtliche Attantat […] der Verwandten gegen die Disposition bezeichnete; 8. September 1829.
BiASG, M8, 1, Dossier c.
Abb. 6: Bestätigung des fürstäbtischen Testaments; 17. Dezember 1824.
StiASG, Nachlass Pankraz Vorster, Nr. 3689.

Entweder aus echtem Unwissen über den Verbleib des Tagebuchs oder aber vorsätzlich etwas irreführend im Hinblick auf Vorsters testamentarische Anordnungen gab denn auch Abt Adalbert von Muri am 4. Januar 1839 auf die st. gallischen Nachfragen zur Antwort, dass sich ein solches Diarium weder in Besitz seines Klosters noch im Nachlass von Vorsters mittlerweile verstorbenem Sekretär befunden habe (Abb. 7).

Abb. 7: Der Abt von Muri fügte jedoch an, Vorster habe lange vor seinem Tod tatsächlich einmal von einem solchen Tagebuch gesprochen, dann aber beigefügt, durch seine Aufzeichnungen solle niemand blossgestellt werden. Ob er das Diarium deswegen vernichtet, anderswohin in Verwahrung gegeben oder verschenkt habe, wisse Adalbert jedoch nicht; 4. Januar 1839.
StASG, KA R.134-2-2-14.

Es ist anzunehmen, dass sich Vorsters Tagebuch respektive sein gesamter schriftlicher Nachlass zu dieser Zeit tatsächlich nicht mehr in Muri befand; der mittlerweile verstorbene Kolumban Ferch hatte zumindest Ersteres (wohl aber auch Letzteres) nach Arth an einen befreundeten Pfarrer gegeben, der den Nachlass wiederum dem Kloster Einsiedeln überbrachte. Als grosses Geheimnis wurde Vorsters schriftliche Hinterlassenschaft zuerst in der Einsiedler Propstei St. Gerold, danach im Kloster Einsiedeln selbst gehütet – erst rund 100 Jahre später drang das Gerücht über den Aufenthaltsort bis nach St. Gallen durch. 1981 kam Vorsters Nachlass auf Nachfrage des Regierungsrates sowie des Katholischen Konfessionsteils schliesslich ins Stiftsarchiv St. Gallen.


Zurück in St. Gallen – ein unerwartetes Ende

Etwas Ähnliches geschah auch mit Vorster selbst, genauer gesagt: mit seinen sterblichen Überresten. Obwohl er in Muri bestattet wurde und ein Epitaph in der dortigen Kirche noch heute davon zeugt (Abb. 1), so war es doch ein St. Galler Bestreben, Vorster wieder ganz zu sich zu holen. Federführend war dabei Stiftsbibliothekar Adolf Fäh, dessen Traum es gewesen zu sein scheint, den verbannten Fürstabt ‚nach Hause‘ zu holen. Dazu suchte er nach dem genauen Standort des Grabes in Muri und stellte Gesuche an den Kanton Aargau, der eine Überführung der Gebeine nach St. Gallen schliesslich im November 1923 erlaubte.

Vorsters eigene Vorstellungen seiner Grablege, die – wie aus den Bemerkungen im Testament hervorgeht – an erster Stelle Muri vorsahen, ganz sicher aber nicht das Kloster St. Gallen, das er noch 1824 in der Bestätigung seines Testaments als unterdrükt bezeichnete, könnten einen Hinweis darauf geben, wo er sich seine letzte Ruhestätte wünschte respektive nicht wünschte. (Abb. 6)

Wenn Fäh am 26. November 1923 also in sein Tagebuch schreibt: „Ich muss mich oft fragen, ob alles Wirklichkeit oder nur ein Traum sei, denn, was ich seit einem Jahrzehnte erhoffte, erstrebte, soll Wirklichkeit werden“, dann bliebe sich wohl schlussendlich nur zu fragen, ob Pankraz Vorster diesem Sentiment ebenfalls zustimmen würde.

Ein Beitrag zur Jahresausstellung „Verschleppte Zettel –Irrfahrten der Überlieferung“ im Ausstellungssaal des Stiftsarchivs St. Gallen, 26. Januar 2024 bis 22. Januar 2025 (Abb. 8)

Abb. 8: Zur sicheren Aufbewahrung der Urkunden liess Fürstabt Joseph von Rudolphi in den 1730er Jahren spezielle Kisten anfertigen, in denen das Archiv bei Gefahr rasch geflüchtet werden konnte. Eine solche „Fluchtkiste“ zeigt auch das Plakat zur Ausstellung „Verschleppte Zettel“.

Weitere Informationen zur Odyssee des Nachlasses von Pankraz Vorster finden sich in: Stiftsarchiv St. Gallen (Hg.): Verschleppte Zettel (vvaldo VI). Begleitpublikation zur Jahresausstellung des Stiftsarchivs 2024 Verschleppte Zettel. Irrfahrten der Überlieferung, Lindenberg i. A. 2024.

Das Tagebuch von Pankraz Vorster erscheint voraussichtlich noch in diesem Jahr in drei Editionsbänden der Reihe Itinera Monastica (IV.1–3) im Böhlau Verlag.

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