In den letzten vier Jahren intensiver Forschung zum illustrierten Flugblatt der frühen Neuzeit wurde mir die faszinierende Komplexität eines Mediums offenbart, das auf den ersten Blick einfach erscheinen mag.[1] Ich durfte entdecken, wie Bild- und Textdetails einzeln und besonders im Zusammenspiel eine beeindruckende Wirkung entfalten. Meine Erkenntnis ist, dass Flugblätter nicht nur Objekte zur Beobachtung, sondern auch der Beobachtung sind. Das geht bereits aus ihren medialen Voraussetzungen hervor: Flugblätter entstanden in den geschäftigen Großstädten der Frühen Neuzeit, wo sie durch fahrende Händler auf Straßen und markanten öffentlichen Orten zum Kauf angeboten wurden. Durch ihre simple Aufmachung – in den meisten Fällen bestehend aus Titel, Illustration und Text – und meist einseitig auf lose Papierbögen gedruckt, fanden sie rasch ihren Weg in die Hände eines breiten Publikums. Ihre Worte und Bilder erregten die Aufmerksamkeit von Passanten und luden zum gemeinsamen Betrachten und Diskutieren ein. Thematisch waren Flugblätter ein Kaleidoskop der Möglichkeiten, ohne Grenzen in der Darstellung von Alltäglichem bis zum Außergewöhnlichen. Flugblätter reflektierten die Gesellschaft auf vielschichtige Weise. So auch auf einem Flugblattexemplar, das vermutlich im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Straßburg erschienen ist:[2]

Die visuelle Hervorhebung des titelgebenden Schaw=Platz signalisiert seine Bedeutung als Schlüsselbegriff. Er nimmt Bezug auf das, was das Flugblatt zeigt und ist: eine Zusammenschau der Geschehnisse des städtischen Lebens (Ebene 1: Darstellungsebene). Darüber hinaus handelt es sich bei dem Begriff um eine Einladung an die Rezipierenden, genau hinzusehen. Es ist eine Aufforderung an uns als Betrachtende, sich die dichten Bild- und Textkomponenten im Detail anzuschauen und diese zu entschlüsseln (Ebene 2: Rezeptionsebene). Unsere Aufmerksamkeit soll auf das gelenkt und fokussiert werden, was sonst vielleicht übersehen würde. Schließlich verweist das Flugblatt durch seinen Titel auch auf seinen eigenen medialen Status (Ebene 3: mediale Selbstreflexion). Zum einen geht es hierbei um die Stellung des öffentlichen Raums, der, wie wir bereits gehört haben, essentiell für den Vertrieb der Blätter war. Hierauf verweist auch der Buchträger, der sich dem bunten Treiben auf dem Markplatz vom unteren Rand her nähert. Zum anderen unterstreicht der Titelbegriff die voyeuristische Tendenz des Flugblattes, das Einblicke in die Innenräume von Gebäuden gewährt und damit in Szenen, die sonst vor den neugierigen Blicken anderer geschützt sind. Das Flugblatt macht das Verborgene, möglicherweise Intime sichtbar und spielt dabei mit der Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit. Gleichzeitig wird verdeutlicht, dass Flugblätter ihrerseits nicht nur reine Beobachtungsobjekte sind, die angeschaut werden können, sondern Rezipierende selbst durch das Medium unter Beobachtung stehen. Es wird deutlich, wie vielschichtig die verschiedenen Ebenen auf dem Flugblatt zusammengefügt werden, was vor allem eines zeigt: Beobachtende sind immer auch Beobachtete.


[1]  In diesen Beitrag sind Teilergebnisse meiner Dissertation eingegangen, die 2024 unter dem Titel „Zwischen Gott, Mensch und Teufel. Beobachtungskonstellationen in der deutschen Flugpublizistik der frühen Neuzeit“ bei De Gruyter erscheinen wird. Diabolischen Aspekte des Flugblattes habe ich bereits an anderer Stelle beleuchtet: https://vigilanz.hypotheses.org/1185.

[2] Flugblatt Schaw=Platz/Aller Schnadrigen/Vielschwätzigen/Bapplerin, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: IE 110.

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