Ursprünge der Zürcher Orthopädie
Neumünsterallee 3, 8008 Zürich (Karte)
von Larissa Hagmann
1896 gelangt das Institut für Orthopädie in die Neumünsterallee 3 in Zürich. Das Institut wird jedoch nicht von zwei Orthopäden, sondern von einem Pädiater und einem Chirurgen geleitet. Doch würden Sie zwei Ärzten, die offensichtlich nicht auf ihrem eigenen Fachgebiet arbeiten, vertrauen? Und warum bezeichnen genau diese beiden ihre Einrichtung auch noch als „das Orthopädische Institut“, wo „richtige“ Orthopäden sich doch bestimmt besser in der Orthopädie auskennen?
Historischer Hintergrund rund um die Orthopädie
Die Orthopädie, laut Oxford Languages die „Wissenschaft von der Erkennung und Behandlung angeborener oder erworbener Fehler des menschlichen Bewegungsapparats“ gehört mittlerweile zu den bekanntesten Fachgebieten der modernen Medizin. Laut der Schweizerischen Ärztezeitung 2019 haben über 3% der tätigen Ärzte ihre Tätigkeit in der Orthopädie ausgeübt und auch in der Bevölkerung ist die Orthopädie als Teilgebiet der Medizin durchaus nicht unbekannt. Dies war jedoch noch nicht immer so:
Die Grundideen der Orthopädie stammen aus dem Zeitalter der Aufklärung. Oft wurde beobachtet, dass Kinder, die sich genügend bewegten, auch gesund und ohne Abweichungen der Wirbelsäule aufwuchsen. Daraus wurde geschlossen, dass eine gesunde Bewegung überaus wichtig für das gesunde Heranwachsen der Kinder war.
Der Begriff „Orthopädie“ hat seinen Ursprung im 18. Jahrhundert: Haltungsfehler und funktionelle Formabweichungen werden hier bereits untersucht und entsprechende Therapien dafür vorgeschlagen. So soll nach damaliger Meinung ein „korrigierender und keinesfalls brechender Druck“ bereits im Kindesalter auf Fehlstellungen ausgeübt werden.
Anfangs 19. Jahrhundert kommt die Orthopädie nun auch nach Zürich.1,4
Beginn der heutigen Schulthess Klinik
1883 gründen Wilhelm Schulthess und August Lüning das Orthopädische Institut an der Löwenstrasse 16 in der Zürcher Innenstadt. Wie bereits beschrieben kam die Orthopädie anfangs 19. Jahrhundert nach Zürich und war somit ein eher neues Fachgebiet der Medizin. In der Bevölkerung noch ziemlich unbekannt und sogar in der Ärzteschaft mit grosser Skepsis angesehen, war die Orthopädie sicher kein einfaches Gebiet für eine medizinische Karriere in der damaligen Zeit. Da es jedoch durchaus „orthopädische“ Probleme in der damaligen Zeit gab, aber keine anderen Institutionen, die Behandlungen dafür anboten, war auf jeden Fall eine Nachfrage in der Bevölkerung vorhanden. So nannten Schulthess und Lüning ihre Einrichtung auch „das orthopädische Institut“, da sie zur damaligen Zeit die einzige solche orthopädische Einrichtung in Zürich waren.1
Vorgeschichte – Die Zeit an der Löwenstrasse 16
Wie bereits erwähnt gründeten Schulthess und Lüning ihr Orthopädisches Institut an der Löwenstrasse 16, 8001 Zürich. Ein Gebäude mit einem großen Gymnastiksaal für die verschiedensten Apparaturen, ansonsten jedoch eher engen Räumen (siehe Abb. 2). Ausserdem besassen sie einen zusätzlichen Anbau, wo auch Operationen durchgeführt werden konnten. Zudem gab es eine Pension für bis zu sechzehn Personen im Orthopädischen Institut.1
Anfängliche Behandlungsmethoden
Zur Zeit von Schulthess und Lüning gab es noch keine universitären orthopädischen Lehrstätten und so mussten die beiden Gründer des Orthopädischen Instituts sich alle orthopädischen Fähigkeiten selbst beibringen und durch eigenes Erforschen und genaues Dokumentieren Erklärungen und neue Therapieansätze in der Orthopädie herausfinden. Die anfänglichen Behandlungen bezogen sich auf sämtliche Deformationen des Knochengerüsts, doch mit der Zeit begannen vor allem die Skoliosen (Rückgratverkrümmungen) in ihren Behandlungen zu überwiegen. Da das Röntgen erst 1895 erfunden wurde, mussten sich die beiden Gründer die Krankheitsbilder rein aus der äusserlichen Wahrnehmung erklären. Mittels verschiedener Messungen- und Zeichnungsapparaten konnten sie die Rückgratskrümmungen genauestens und auch regelmässig dokumentieren und sich so ein Erfahrungsgut ansammeln, das auch zuverlässige wissenschaftliche Auswertungen erlaubt. Für ihre Messungen der Rückgratsverkrümmung benutzten sie verschiedenste Mess- und Zeichnungsapparate, um sich ein Bild vom Ausmass und Verlauf der Erkrankung machen zu können.1
Ein Tag als „Skoliose-Patient“ im Orthopädischen Institut
In der damaligen Zeit waren viele Laien, aber auch Ärzte der Meinung, Skoliosen würden sich von alleine auswachsen und bräuchten damit keine Therapie. Lüning und Schulthess hielten jedoch an ihrem Ansatz, eine Skoliose könne und müsse therapiert werden, fest und gerade auch Schulthess als Pädiater vertiefte sich mehr und mehr in die Pathologie und Therapie der Rückgratsverkrümmungen ihrer meist sehr jungen Patienten.
Eine institutsübliche Skoliosebehandlung sah in den ersten Jahren wie folgt aus:
Die Kinder mussten am Morgen und am Nachmittag für mindestens zwei Stunden in die „Anstalt“ (= das Orthopädische Institut), wo sowohl aktive Übungen als auch passive Massnahmen wie beispielsweise Massagen auf dem Tagesplan standen. Verordnete Ruhezeiten auf schiefer Ebene oder auf einem Lagerungsapparat kamen auch noch dazu. Die Kinder machten viele Spaziergänge, badeten oft im See und hatten somit viel Bewegung in der Natur. Während ihrer Behandlung wurde viel Wert auf eine kräftige Ernährung, frühe Bettruhe mit möglichst flacher Unterlage und auf Vermeidung von sitzenden Tätigkeiten (ausserhalb des Schulunterrichts) gelegt. Eine Behandlung im Orthopädischen Institut war jedoch nicht nur die medizinische Therapie einer Krankeit, sondern beinhaltete auch Betreuung, Erziehung, Schulung und teils sogar berufliche Ausbildungen einiger Patienten.
Eine solche Therapie dauerte von sechs Wochen bis zu drei Monaten und wurde bei günstigem Verlauf gemildert. Zudem konnten die Kinder gewisse Übungen und andere Therapieansätze auch gut zu Hause ambulant durchführen. Mit diesen anfänglichen Therapieansätzen konnten Schulthess und Lüning laut eigene Angaben Besserungsquoten von beinahe 70% erreichen. Mit der Zeit kamen immer mehr Apparate, oft von Schulthess selbst entwickelt, zur Behandlung der Rückgratverkrümmungen hinzu. Die Kombination aus den neuen Apparaten und dem vermehrten Tragen von Korsetten trieb ihre Besserungsquote auf über 90% in die Höhe! Doch einen Nachteil haben all die neuen und hilfreichen Apparate: Sie brauchen jede Menge Platz, das enge Haus in der Löwenstrasse reicht längst nicht mehr aus!1
Umzug in die Neumünsterallee 3
1896 ist das Gebäude an der Löwenstrasse 16 endgültig zu eng für das Orthopädische Institut und all seine Apparate. Schulthess und Lüning ziehen mit ihrem Institut an die Neumünsterallee 3 in Zürich um (siehe Abb. 3). Das neue Gebäude liegt an möglichst ruhiger und sonniger Lage etwas ausserhalb der lärmigen und stickigen Stadt und ist trotzdem nicht allzu weit entfernt vom Kantons- und Kinderspital. Die Lage scheint perfekt zu sein!1
Erfolgszeit an der Neumünsterallee
In der Nachbarschaft rund um das neue Haus gibt es einen grossen Garten und einen Kinderspielplatz, was die gesunde Bewegung der Kinder und somit auch ihr Genesung fördern soll.
Im Gebäude selbst befinden sich ein Konsultation- und Messungszimmer für die Therapiebesprechung und Vermessung der Patienten, sowie ein grosser Turnsaal für freie und Gerätegymnastik, als auch ein grosser Raum für die maschinelle Orthopädie mit zahlreichen Übungsapparaten, ein Operationszimmer, ein Massageraum und ein Kranken- und Wartezimmer im Erdgeschoss. Ein ziemlich grosses Haus! Im ersten Stockwerk hat das Orthopädische Institut zudem noch einige Wohnungen für interne Patienten. Die restlichen Stockwerke darüber dienen als Wohnraum für Angestellte und die Familie Schulthess selbst und im Keller befanden sich Wirtschaftsräume und ein photographisches Atelier. Eine so grosse Klinik benötigt dementsprechend auch Personal: So arbeiteten zu dieser Zeit eine Hausdame, drei Gehilfinnen für die Apparate im Turnsaal, eine Krankenpflegerin und eine Masseuse im damaligen Orthopädischen Institut (siehe Abb. 1).
Das Orthopädische Institut ist nicht nur in seiner Grösse, sondern auch in seinem Ansehen gewachsen: Trotz anfänglicher Schwierigkeiten und viel Skepsis hat das Orthopädische Institut mittlerweile auch ausserhalb von Zürich einen guten Ruf und empfängt auch immer einmal wieder verschiedenste Orthopäden, Chirurgen und sogar Besuch aus dem Ausland!1
Monatliche Therapiekosten für einen Patienten des Orthopädischen Instituts
Die Therapiekosten für Patienten unterschieden sich abhängig von der Therapiedauer pro Tag: So spannten sich die Preise von monatlich dreissig Franken für eine Therapiestunde pro Tag bis zu sechzig Franken monatlich für vier Therapiestunden täglich auf. Preisermässigungen gab es auch schon damals aufgrund bescheidener Vermögensverhältnisse oder durch die Empfehlung einer Vertrauensperson.
Rechnet man die Therapiepreise in heutige Verhältnisse um, so befinden sich die Kosten im Bereich von 320 bis zu 650 Franken monatlich, was im Durchschnitt circa vier Franken pro Stunde macht. Ein echtes Schnäppchen!1,3
Photographische Eindrücke vom therapeutischen Geschehen an der Neumünsterallee 3
Tod des Gründers
1917 stirbt Wilhelm Schulthess während einer Institutssprechstunde durch einen plötzlichen Herzschlag. Sein Kollege und Mitbegründer des Orthopädischen Instituts, August Lüning, widmet sich nun vollkommen dem Institut und erhält dabei die Unterstützung von Eugen Hallauer, Schwiegersohn von Wilhelm Schulthess. Nachdem dann auch noch Lüning zurücktritt, leitet Hallauer das Institut weiter, wobei noch einige Schwierigkeiten wie beispielsweise der Krieg und die Nachkriegszeit auf ihn warten. Während seiner Leitung erlebt die Orthopädie einen regelrechten Umbruch, doch Hallauer bleibt eher konservativ und hält an den Therapieansätzen von Schulthess fest. 1944 wird zudem ganz in der Nähe an der Neumünsterallee 10 ein Heim für orthopädische Pflegerinnen in Ausbildung gegründet.1
Nachgeschichte – Die heutige Schulthess Klinik
Mittlerweile befindet sich die heutige „Schulthess Klinik“ an der Lengghalde 2, 8008 Zürich, ganz in der Nähe der Universitätsklinik Balgrist, welche ebenfalls auf Orthopädie spezialisiert ist. Heutzutage werden verschiedenste Behandlungen in der Schulthess Klinik angeboten, die sich über Fachgebiete von Sportmedizin über Handchirurgie und vieles mehr erstrecken. Kaum zu glauben, dass diese Klinik einst mit Wilhelm Schulthess und seinen ersten Behandlungen der Skoliose begonnen hat!
Aus dem ehemaligen Gebäude der Schulthess Klinik (damals noch „Orthopädisches Institut“) in der Neumünsterallee 3 ist mittlerweile eine psychiatrische Klinik für Jugendliche geworden (siehe Abb. 6). Auch wenn das Fachgebiet sich in diesem Gebäude geändert hat, so sind es immer noch Kinder, die hier behandelt werden und wer ganz genau hinschaut, sieht noch einige Ähnlichkeiten zwischen dem heutigen Gebäude und dem damaligen Orthopädischen Institut.
Kurz und knapp – ein zeitlicher Überblick: | |
Aufklärung | Erste Grundgedanken der Orthopädie wie beispielsweise die gesunde Bewegung der Kinder kommen auf. |
18. Jahrhundert | Der Begriff „Orthopädie“ findet hier seinen Ursprung. |
frühes 19. Jahrhundert | Die Orthopädie als neues Fachgebiet gelangt nun auch nach Zürich. |
1855 | Wilhelm Schulthess wird im Kanton Aargau geboren. |
1883 | Wilhelm Schulthess gründet zusammen mit August Lüning das Orthopädische Institut an der Löwenstrasse 16, 8001 Zürich. |
1896 | Das Orthopädische Institut zieht um und ist nun neu an der Neumünsterallee 3, 8008 Zürich, zu finden. |
1917 | Wilhelm Schulthess stirbt an einem plötzlichen Herzschlag. |
heute (2023) | Die Wilhelm Schulthess Klinik als moderne Klinik für Orthopädie in der Nähe der Universitätsklinik Balgrist. Das alte Gebäude der Schulthess Klinik in der Neumünsterallee ist nun eine Psychiatrie für Jugendliche. |
Bildquellen
Abb. 1: Orthopädisches Institut, Neumünsterallee 3, 8008 Zürich, 1896, FotographIn unbekannt. BAZ_095603
Abb. 2: Löwenstrasse 16, 8001 Zürich, „heute“ (2007), Fässler und Partner Architekturbüro
Abb. 3: Neumünsterallee, 1901, FotographIn unbekannt
Abb. 4: Gymnastiksaal, Neumünsterallee 3, 1958, Wolf-Bender’s Erben
Abb. 5: Schwimmbecken, Neumünsterallee 3, 1958, Wolf-Bender’s Erben
Abb. 6: Neumünsterallee 3, „heute“ (2023), Larissa Hagmann