Unterhalb und innerhalb der überbordenden Medienberichterstattung, die Kim de l’Horizons Blutbuch[1] seit seiner dreifachen Prämierung 2022 umgibt,[2] formieren sich nach und nach neue Dispositive einer autofiktionalen Poetik. Begünstigt und aktualisiert werden diese nicht zuletzt dadurch, dass Kim de l’Horizon als persona politische und kulturelle Diskurse immer wieder selbst öffentlich mitanstösst[3] und dabei insbesondere Konstrukte und Unsicherheiten auf dem Feld der Geschlechtlichkeit, deren Ausdruck sowie Sprache benennt und hinterfragt. Während das Hauptaugenmerk der Literaturkritik dementsprechend auf der autofiktionalen Verarbeitung von Queerness sowie auf dem Suchen und Finden einer Sprache liegt, die dies ausstellt und reflektiert, geht bisweilen unter, dass das Blutbuch die Autofiktion einer Mythopoetik unterstellt, von der selbst die Kritik – bewusst oder unbewusst – miterfasst wird.
Auf den ersten Blick scheint es sich dabei nur um Oberflächenphänomene zu handeln. In der NZZ etwa wird angemerkt, dass jener „Roman […] vom Anfangen erzählt: von den vielen Anfängen des Ichs, das in manche Metamorphosen verstrickt ist“.[4] Auch der Buchumschlag verweist auf einen Wandlungsprozess, tut dies aber bereits als gestaffelte intermediale Anspielung: Das Cover nämlich zeigt auf blauem Grund eine in rot dargestellte Skulpturengruppe der Nymphe Daphne, die, von Apoll verfolgt, in einen Lorbeerbaum verwandelt wird, um den begierigen Händen des Gottes zu entkommen. Die Skulptur und das Cover mit ihr setzen somit einen der kritischen Punkte eines Mythos ins Bild, der zu den rezeptionsstärksten Erzählungen aus den Metamorphosen Ovids zählt und für die Lektüre des Blutbuchs mancherlei Anknüpfungspunkte bietet. Zum einen wird damit ganz allgemein ein ‚mythisches Feld‘ betreten, das den analytischen Blick für Fiktionsmarker schärft. Darüber hinaus stehen die Skulptur und der Mythos, den sie abbildet, auch ikonisch für die vielfältigen, von sexualisierter Gewalt durchzogenen Verwandlungsgeschichten. Demnach fungiert das Cover nicht bloss als ‚eye-catcher‘, sondern gerade im letztgenannten Aspekt schlägt es eine Brücke zum Inhalt des Blutbuchs, da mittels Lorbeerbaum auf die Blutbuche als Leitmotiv angespielt und zugleich eine matrilineare Familiengeschichte freigelegt wird, die von Gewalt und Unterdrückung geprägt ist.
Wenn man diese paratextuelle Anbindung an die Ovid’schen Metamorphosen ernst nimmt, wirft dies die Frage auf, ob und wie viel ‚Metamorphotisches‘ im Blutbuch steckt. Dieses Untersuchungsinteresse kann, so wird im Folgenden zu zeigen sein, produktiv mit den Fragen zur autofiktionalen Poetik im Blutbuch verbunden werden. Denn neben der gewalttätigen Unterdrückung von Frauen präsentiert der antike Text zudem eine Vielzahl von poetologischen sowie medialen Reflexionen, die das Erzählen und seine jeweils mögliche Ausformung ausstellen. In Ovids Erzählungen von Arachne sowie Philomela und Prokne wird dies besonders deutlich. Die Weberin Arachne tritt in einen Webwettbewerb gegen die Göttin Minerva, wird jedoch aufgrund ihrer Hybris zu einer Spinne degradiert. Die von ihr im Wettstreit gewobenen ‚Geschichten‘ der schändlichen Liebesaffären der Götter werden so sanktioniert und die Weberin als Erzählerin stummgeschaltet. Die Kunstfertigkeit des Webens und die piktorale Gestaltung von Geschichten werden ebenfalls im Mythos von den Schwestern Philomela und Prokne in den Vordergrund gerückt. Prokne wurde als Königstochter dem Thrakerkönig Tereus zur Frau gegeben. Nach Jahren der Ehe vermisst sie ihre zurückgebliebene Schwester, weshalb sie Tereus bittet, diese zu sich zu holen. Tereus entbrennt beim Anblick der Schwester in feuriges Begehren und sperrt sie unter falschen Vorwänden in eine Waldhütte, um sie zu vergewaltigen. Doch nicht genug: Ihre Zunge wird abgeschnitten, um das Verbrechen zu verhehlen. Im Glauben, dass ihre Schwester tot sei, trauert Prokne um Philomela. Doch findet diese einen Weg, Prokne eine Nachricht zukommen zu lassen. Sie stellt ein Gewebe her, das ihre Geschichte ‚erzählt‘. Nachdem Prokne die Nachricht erhalten und verstanden hat, befreit sie ihre Schwester und plant eine drastische Rache: Die Schwestern töten und setzen Philomelas Sohn dem Vater als Mahl vor. Nach der Enthüllung der Schandtat geht Tereus auf die Schwestern los und alle verwandeln sich in Vögel: Wiedehopf, Nachtigall und Schwalbe.
Beide Ovid’schen Metamorphosen lassen sich als Intertexte des Blutbuchs lesen; besonders deutlich wird das in der Binnengeschichte „Fränzi Bethli Jörg und Jürgli“ (BB 83–84) sowie deren unmittelbarem Kontext; hier findet sich eine nahezu mythopoetische Bearbeitung insbesondere von ‚Philomela und Prokne‘, deren Geschichte fast identisch, aber mit veränderten Namen wiedergegeben wird. Die Schwestern heissen hier Bethli und Fränzi, der lüsterne Ehemann Jörg und das zu verspeisende Kind Jürgli. Vergleicht man den Mythos von Philomela und Prokne in der Bearbeitung durch Ovid mit der Binnengeschichteim Blutbuch, halten gemeine Motive, Symbole und Handlungszusammenhänge eine Erzählkontinuität aufrecht. Die Webkunst spielt dabei eine bedeutende Rolle. Ihrer Zunge beraubt weiss Bethli nämlich geistreiche Auswege, um sich Fränzi dennoch mitzuteilen:„Bethli, im Waldgefängnis, war aber gescheit. Sie verlangte, wenigstens weben zu dürfen. Bethli wob eine Schürze für Fränzi. In die wob sie heimlich ihre Geschichte. So, dass es nur Fränzi verstand.“ (BB 83)
Das Polyptoton („weben-wob-wob“) lenkt die Aufmerksamkeit auf den handwerklichen Vorgang, der gleich in doppelter Hinsicht mit Alternativen zur Verbalsprache in Verbindung gebracht wird: Zum einen zeigt Bethli, dass sie auch nach ihrer Stummschaltung noch über eine Form zumindest gestischer Kommunikation verfügt. Zum anderen beabsichtigt sie, ihre vergangenen Erlebnisse mittels der handwerklichen Kunst zum Ausdruck zu bringen.
Auch bei Ovid umfasst die Erzählung von der Initiation des Webens, dessen Prozess und der Fertigstellung des Gewebes bloss wenige Verse:
os mutum facti caret indice. grande doloris
ingenium est, miserisque venit sollertia rebus.
stamina barbarica suspendit callida tela
purpureasque notas filis intexuit albis,
indicium sceleris, perfectaque traditit uni
(Met. IV, 574–578)
[…] es fehlt dem stummen Mund der Anzeiger. Groß im Erfinden ist der Kummer, Geschicklichkeit stellt sich ein, wenn die Not ruft. Schlau befestigte sie am barbarischen Webstuhl den Zettel, wob in die weißen Fäden purpurne Schriftzeichen, die den Frevel anzeigten, gab dann einer das fertige Werk […].
Sowohl Bethli, die ‚Gescheite‘, als auch Philomela, die callida, zeichnen sich dadurch aus, dass sie qua dieses Wesenszuges ihre Handlungsunfähigkeit überwinden. Während dieser Eigenschaft in den Metamorphosen viel Raum gegeben und quasi sentenzenhaft die Gewitztheit zur Schau gestellt wird,[5] kondensiert sie sich im Blutbuch einzig auf die Figur Bethli. Philomelas Gewebe (= tela) wird als barbarisch (= barbarica) bezeichnet, was auf den von ihr zu vermittelnden Inhalt – die Vergewaltigung durch Tereus – und somit auch auf deren Täter zu beziehen ist. Augenfällig ist hier die Beschreibung des Materials (stamina/Zettel), des ‚Musters‘ (notas/Schriftzeichen) und des Endprodukts (vestes/Gewebe). Bei letzterem geht aus dem lateinischen Text hervor, dass es sich um ein Gewebe handelt, doch wird dies selbst im nachfolgenden Vers nicht spezifiziert, da lediglich von vestes[6] (Met. VI, 581) und carmen (Met. VI, 582) die Rede ist. Im Blutbuch hingegen wird diese semantische Offenheit auf eine Schürze rubriziert. Jene eigenwillige Umschrift der Vorlage ist narrativ dahingehend funktionalisiert, dass sie die weibliche Codierung der Webarbeit[7] durch die Assoziation der Schürze mit der Hausarbeit verdeutlicht.[8]
Was den Inhalt und dessen Darstellung im Gewebe bzw. auf der Schürze betrifft, bleiben beide Texte im Allgemeinen verhaftet.[9] Ob man sich eine piktorale oder doch skripturale Ausführung der Geschichte vorstellen soll, ist im Blutbuch vollkommen unbestimmt, wohingegen die Metamorphosen mit der Bezeichnung als notae zumindest eine mögliche Konkretisierung anbieten. Trotz der Interpretationsmöglichkeit als ‚Zeichen‘[10] sind diese immer wieder als ‚Schriftzeichen‘ übersetzt worden, gestützt durch die Beobachtung, dass die Rezeption des ‚Gewebes‘ in Analogie zur Lektüre einer Schriftrolle vollzogen wird:[11] evolvit vestes […] fortunaeque suae carmen miserabile legit („sie entrollt das Gewebe […] und liest das beklagenswerte Lied ihres Geschicks“; Met. VI, 581 f.). Innerhalb weniger Zeilen eröffnet Ovid eine vom Blutbuch genutzte Bandbreite medialer Ausformungen, nach deren Massgabe man eine Geschichte erzählen und lesen kann. Im Weiteren werden die von Philomela gewobenen notae mit dem Attribut purpureas/purpur versehen, die in den weissen Grundstoff gewoben worden sind und die materielle Qualität des Stoffes erwähnen. Die Kontrastierung von weiss und rot ist nicht nur von einer erheblichen Symbolhaftigkeit geprägt, die die Schändung des ‚reinen‘ Körpers materialisiert;[12] dem Farbkontrast komme insofern eine Körperlichkeit zu, als Philomela „dem heimlich angefertigten Gewand die Botschaft mit ihrem Blut einwebt“[13] und somit einen Teil ihrer selbst ins Gewebe lege.[14]
Weiss und Purpur sind zwar in der Binnengeschichte des Blutbuches nicht genannt, jedoch finden sich auf der nächsthöheren narrativen Ebene Weiterführungen dieses motivischen Farbspiels. Das nachfolgende dritte Kapitel, das aus Sicht der herangewachsenen Ich-Figur erzählt wird, nimmt dies gleich zu Beginn auf:
Bloody hell, bloody beech, bloody bitch, bloody fucking hell, die Wolle ist zu hell, diese Wolle ist doch wieder eins zu hell für den Pulli, den ich Grossmeer schulde, und jetzt ist auch noch die Wunde am Kiefer aufgebrochen, weil ich ständig an ihr rumfingere, und tropft auf diese scheisshelle Scheisswolle für diesen Scheisspulli, den ich Grossmeer versprochen habe […], ich habe […] lang nach der Geschichte der Blutbuche gewühlt und versucht, über sie zu schreiben, und nichts hab ich geschrieben, nur gesammelt, und jetzt, wo Grossmeer in das Dinosauerierheim eingeliefert worden ist, jetzt, wo ich sie besuchen sollte und statt des Besuchens den pinken Pulli stricke oder zu stricken mich anschicke […]. (BB 118)
Zwar nicht am Webstuhl sitzend, doch strickend stellt die Erzählfigur einen Stoff her. An dieser Stelle nun wird das Gewebe in Form und Farbe spezifiziert: ein pinker Pulli.[15] Bezeichnenderweise verändert sich die farbliche Qualität über wenige Zeilen hinweg: Während sie zu Beginn noch ‚hell‘ ist, verfärbt sie sich ins Pink, da das Blut aus der Wunde sich mit der hellen Wolle mischt. Dies referenziert den lateinischen Text, in dem rote Zeichen auf weissem Grund gewoben werden, modifiziert ihn aber dahingehend, dass die Farben im Blutbuch keinen Kontrast erzeugen und voneinander distinguiert werden. Vielmehr werden sie zu einem solchen Grad vermengt, dass eine neue homogene Farbe entsteht.
Diese Farbvermischung besitzt mythopoetische Valenz, verschafft sich in ihr doch die Weiterentwicklung der Autofiktion zum Mythos Ausdruck, insofern die Vermischung des ‚reinen‘ Weiss mit dem roten Blut der Wunde, die der Erzählfigur zugefügt worden ist („[…] wo ich femme-butch bloody verprügelt wurde, wo mir Aggloschweine einen zweiten, stummen Mund am Kiefer geschlagen haben […]“; BB 118), eine Überziehung des ‚reinen‘ Körpers mit dem auf das Trauma verweisenden Blut darstellt. Zwei Komponenten, die nicht mehr voneinander geschieden werden können; die sinnbildliche Gewalttat wird in Gänze einverleibt. Während aber in der Metamorphosen-Version das indicium sceleris noch als Einzelnes zu ‚lesen‘ ist, da die roten Schriftzeichen sich als durch Farbgrenzen erkennbare Formen gegenüber dem weissen Grund zeigen, verformt es sich im Blutbuch, sodass es über den (Schrift-)Zeichenrand hinüberschwappt und dadurch keinerlei Grenze zwischen Körper und Stigma mehr herrscht.
Gleichzeitig wird in diesem ‚Anmischen‘ der Farbe das poetologische Moment so stark, dass auch die Erzählfigur an einer anderen Stelle explizit über das Verhältnis ihrer Form der Handarbeit, dem Stricken, und dem eigenen Erzählen reflektiert:
„Die Linie deines Blutes“, sagtest du. […] Erst nachdem ich beide Stammbäume eingehend studiert hatte, fiel mir auf, dass es ja gar nicht DIE Linie meines Blutes ist. Das heisst, es ist nur die Hälfte. Der Faden der Männer. Aber ich sagte es dir natürlich nicht. Wie ich dir auch nicht sage, dass ich das hier schreibe, dass ich endlich den Pulli für dich stricke, dass ich nun alle pinken Wollfäden, die ich bisher angebraucht habe, miteinander verwebe, auch dasjenige, mit dem ich den dritten Teil angefangen habe, mit dem Blutfleck aus der Wunde am Kiefer, dieser Blutfleck, der gehört jetzt einfach dazu, ja, ich habe dich immer noch nicht besucht und bin dafür durch das Zusammennehmen der verschiedenen Fäden auf das richtige Pink gekommen, und so stricke ich hier und sage dir nichts, aber ich schreibe dir dies hier […]. (BB 172 f.)
Durch den expliziten Verweis auf die vorherige Passage wird das ‚Miteinanderverweben‘ als das Herstellen von Zusammenhängen innerhalb eines Textes metaphorisch fassbar. Ebenso offenbart die texttopologische Nähe von Stricken und Schreiben die enge Verknüpfung von schreibendem Erzählen und strickender Stoffherstellung. Noch eindeutiger wird dies an einer anderen Stelle: „[…] und wie ich dir das schreibe, auf dem Computer schreibe, spüren meine Finger das Stricken […]; im Stricken, im Schreiben […] bin ich mit dir verbunden“ (BB 35). Schreiben bzw. schreibendes Erzählen und Stricken sind für das Ich Strategien, mit der Grossmeer in Kontakt zu treten und die Beziehung aufrechtzuerhalten, was auch für den Schreibprozess des Blutbuches von direkter Relevanz ist.
Auf einer textheoretischen Ebene und unter der Voraussetzung, dass in der Webmetapher einzelne Texte und deren Passagen als Fäden fungieren,[16] wird sie für das Blutbuch besonders produktiv – jedoch scheint sie eher für das Endprodukt als für dessen Produktionsprozess gültig. In der eigentlichen Schreibpraxis, die in der Diegese am Computer vollzogen und auch als Schreibszene inszeniert wird,[17] ist die Metaphorik nämlich hinfällig, da Textprogramme spätere Korrekturen erlauben, die beim Weben so nicht mehr gemacht werden können.[18] Daher, so lässt sich schliessen, ist die Webmetapher ‚gescheit‘ mit dem Stricken kombiniert.
Beide Künste und ihre Rolle als Bildspender fürs Schreiben erlauben eine Aussage über die Werkpoetik und deren Reflexion. Da beim Weben insofern restriktivere Bedingungen der Stoffherstellung herrschen, als dass die konkrete Ausgestaltung hinsichtlich Breite und Mustergebung schon vor der effektiven Herstellung geplant werden muss, wird das literarische Erzählen als ordnende und in sich geschlossene Kunst inszeniert, wenn sie mit dem Weben parallelisiert wird. Dieser Restriktivität arbeitet die Poetik des Blutbuches aber entgegen, da in der Erzählung der gewebte Stoff durch kombinatorisches Zusammennähen einzelner Stoffpartien zu einer Schürze weiterverarbeitet wird, was sich wiederum auf die Webmetapher auswirkt, die aufgrund des Rückverweises auf das Weben eine geschlossene Form einfordert. Da die bestimmte Gewebeform im Kontext der Metapher auf Textsorten, Stil und ähnliche literarische Konventionen übertragen und hierin überwunden wird, nimmt diese Metaphorik eine erzählerische sowie literarische Formfreiheit für sich in Anspruch und wird werkpoetisch betrachtet auch eingelöst: Jedes Kapitel ist eigens und sogar Textsorten übergreifend stilisiert. Die im Mythos angelegte Webmetapher erhält somit eine eigene Wendung und wird für die Werkpoetik genutzt, indem die Suche und die gleichzeitige Durchbrechung von Formgrenzen eine rhetorisch produktive Entsprechung erhalten, die Grenzen und Ränder neu vernäht und verwoben werden.
In ähnlicher Weise ist das Stricken zu denken. Im Vergleich zum Weben ist beim Aufschlag der Maschenanzahl ein Anfang gegeben, jedoch kann die Breite des Strickstücks durch die Möglichkeit, Maschen zu- und abzunehmen, im Verlauf der Herstellung variiert werden, weshalb zu einem gewissen Grad die Grenzen des Strickstückes ausgedehnt bzw. eingeengt werden können und eine Verformung auch innerhalb des linearen Herstellungsprozesses möglich ist. Im Hinblick auf das Endprodukt, nämlich den Pullover für die Grossmeer, müssen zudem ‚Versatzstücke‘ zusammengefügt werden, die jeweils eine andere Form aufweisen, woraus sich markante Parallelen zur Werkstruktur des Blutbuches ergeben, dessen Kapitel stilistisch divers geschrieben sind. Stricken und im Besonderen die Herstellung des Pullovers versinnbildlichen demnach in Herstellungsprozess und Qualität einerseits die formale Gestaltung des literarischen Werkes und andererseits, durch die intertextuellen Bezüge auf Philomelas Gewebe sowie die symbolische Referenz, die diegetischen Gewalttaten an Frauen. Die Mehrdeutigkeit von ‚Gewebe‘, welches nicht nur die stofflichen, sondern auch die körperlichen Gewebe einschliesst, findet Eingang in der folgenden Passage:
Trauma – so gut hab ich damals der leitenden Psychiaterin zugehört – nennt die Altgriechin Wunde. Eine Wunde kann vieles sein, eine Beschädigung, aber auch zerrissenes Gewebe, etwas Entzweigerissenes. Gewebe, das zusammengehört, klafft auseinander. Ein Trauma zu vererben, bedeutet also, ein Auseinandergerissensein, ein Nichtverbundensein weiterzugeben, ein Fehlen von Gewebe. (BB 132 f.)
Das Stricken als Stoffherstellung und die Endverarbeitung in ein zusammenhängendes Textil liest sich hinsichtlich der vielschichtigen verwebenden Verknüpfung als Verarbeitungsversuch eines Traumas. Allerdings scheitert diese Aufarbeitung, denn bei der Übergabe des pinken Pullis (BB 228) wird die Botschaft seiner Farbe nicht verstanden. Die Grossmeer ‚liest‘ den Pulli lediglich als Reduktion auf ihre geschlechtliche Vergangenheit („Du sagtest, als Mädchen habest du immer Pink und Rosa anziehen müssen. Du seist kein Mädchen mehr“; ebd.), ohne dabei in Kommunikation mit dem Ich zu treten. Da kein Gespräch zwischen den Figuren entsteht und das Ich nur über die Möglichkeit des sprachlichen Austausches nachdenkt, diese aber nicht umsetzt, verhärtet sich das Schweigen.[19]
[1] Hier und im Folgenden werden Textverweise auf die Primärtexte in runden Klammern sowie mit der Sigle BB (= Kim de l’Horizon: Blutbuch. Köln 22022) bzw. mit der Abkürzung Met. (= Ovid: Metamorphoses, ed. von W. S. Anderson [Editio stereotypa editionis alterius 1982]. Berlin/New York 2001) wiedergegeben. Die Übersetzung der lateinischen Texte stammen, wenn nicht anders angegeben, von Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Niklas Holzberg. Berlin/Boston 2017 (Sammlung Tusculum).
[2] Dem Roman wurde nacheinander der Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung, der Deutsche sowie der Schweizer Buchpreis zuerkannt.
[3] Kathrin Hondl: „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. In: SWR2 Kulturaktuell, 5.10.2022, https://www.swr.de/swr2/literatur/blutbuch-von-kim-de-lhorizons-auf-der-shortlist-fuer-den-deutschen-buchpreis-100.html (Stand: 20.06.2023.); Kim de l’Horizon: Lieber John Unbekannt, lieber Ueli Maurer, ihr habt mich geschlagen. Aber ich vergebe euch. In: NZZ, 19.10.2022, https://www.nzz.ch/feuilleton/kim-de-lhorizon-fragt-ueli-maurer-warum-bekaempfen-sie-mich-ld.1707890 (Stand: 2.7.2023.); Roman Bucheli: Kim de l’Horizon gewinnt mit dem Roman „Blutbuch“ nach dem Deutschen auch den Schweizer Buchpreis. In: NZZ, 11.11.2022, https://www.nzz.ch/feuilleton/der-schweizer-buchpreis-2022-geht-an-kim-delhorizon-ld.17128901 (Stand: 20.06.2023.)
[4] Bucheli 2022 (wie Anm. 3). Weitere Beispiele stellen dar: Bettina Kugler: Kim de l’Horizon las in St. Gallen in der neuen Reihe „Loot“. In: St. Galler Tagblatt, 27.01.2023, https://www.tagblatt.ch/kultur/ostschweiz/lesung-an-einem-koerper-wie-meinem-ist-alles-politisch-kim-de-lhorizon-las-in-stgallen-zwei-schauspielerinnen-performten-danach-ld.2406583?reduced=true (Stand: 13.3.2023.); Ronald Pohl: Kim de l’Horizon: Dichten gegen die Macht der Pronomen. In: Der Standard, 22.10.2023, https://www.derstandard.at/story/2000140198571/kim-de-lhorizon-dichten-gegen-die-macht-der-pronomen (Stand: 28.6.2023.)
[5] callida könnte hier jedoch nicht bloss mit Philomela, sondern ebenso mit stamina kongruieren.
[6] K. E. Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 2 Bde. Hannover 81913–1919. s. v. ‚vestis‘: Bekleidung im weiten Sinne, d. h. Kleidung der Menschen oder auch Teppich. In einigen Übersetzungen wird vestes mit Tuch, Gewebe oder Stoff übertragen; vgl. Holzberg 2017 (wie Anm. 1); Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 2010; Ovids Werke. Deutsch im Versmasse der Urschrift, ed. von R. Suchier / E. Klussmann / A. Berg. 3 Bde., Bd. 3: Metamorphosen. Berlin 1855–1919.
[7] „Textile Handarbeiten sind in allen Kulturen, ob matrilokal oder patriarchal, immer weiblich besetzt, und zwar auch in postmythischer Zeit. Die Frau sitzt am Spinnrocken und am Webrahmen.“; Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln 2002 (Pictura et Poesis 9), S. 24 f.
[8] Gleichsam nimmt die Schürze das Kochen Jürglis gewissermassen vorweg. Ausserdem wird in manchen Interpretationen zu der Textstelle argumentiert, dass das textile Stück als „Substitut des männlichen, mündlichen Diskurses“ und als Geheimsprache zwischen den beiden Schwestern fungiert; vgl. Lena Behmenburg: Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters. Berlin/New York 2009 (Trends in Medieval Philology 15), S. 42; Gabriele Stein: Mutter – Tochter – Geliebte. Weibliche Rollenkonflikte bei Ovid. München/Leipzig 2004 (Beiträge zur Altertumskunde 204), S. 145.
[9] Bei Chrétien de Troyes zugeschriebener Erzählung folgt an dieser Stelle eine nach der mittelalterlichen Tradition der amplificiatio folgende Ekphrasis; vgl. Behmenburg: Philomela(wie Anm. 8), S. 196.
[10] „Obwohl das lateinische notas gleichermaßen als Schriftzeichen und bildhafte Darstellung interpretiert werden kann, wird in den unterschiedlichen Übersetzungen dieser Passage die Übertragung als ‚Schriftzeichen‘ bevorzugt […]. Ebenfalls findet sich die Übertragung als ‚Zeichen‘, was im Deutschen der scripto-pikturalen Vagheit der purpurfarbenen Botschaft entspricht.“; ebd., S. 189.
[11] Vgl. Vanessa Klomfaß: Eingewebte Mythologie. Zur Signifikanz und Transformation der F/Philomela-Figur in Abrams’/Dorsts S. In: Barbara Bollig (Hg.): Mythos und Postmoderne. Mythostransformation und mythische Frauen in zeitgenössischen Texten. Göttingen 2022 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 32), S. 87–99, hier S. 91 f.
[12] Vgl. Behmenburg 2009 (wie Anm. 8), S. 194.
[13] Erika Greber: Art. Gewebe/Faden. In: Günter Butzer / Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Erweiterte und um ein Bedeutungsregister ergänzte Auflage. Berlin 32021, S. 219–222, hier S. 221.
[14] Vgl. Klomfaß 2022 (wie Anm. 11), S. 92.
[15] Ebenso verweist der pinke Pulli als Kleidungsstück mit dessen Implikationen intratextuell auf Reflexionen über Ausdruck und Geschlecht hin; vgl. BB 39f.
[16] Zu dieser Deutungsoption vgl. allgemeiner Greber 2002 (wie Anm. 7) und im Besonderen im Hinblick auf antike Texte Cédric Scheidegger Lämmle: Einige Pendenzen. Weben und Text in der antiken Literatur. In: Henriette Harich-Schwarzbauer (Hg.): Weben und Gewebe in der Antike. Materialität, Repräsentation, Episteme, Metapoetik. Oxford 2016, S. 167–204.
[17] Vgl. BB 35 sowie „Die Kreise meines Schreibens schliessen sich nicht, […] sie [= Spiralen] ziehen von der Blutbuche in mein Begehren, sie ziehen eine weitere Schlaufe von diesem Computer zurück ins Papier, dieses ehemalige Holz, und ich frage mich, wie sehr das Schreiben meine agency ist und wie sehr die Wirkkraft beim Holz selbst liegt.“ (BB 172)
[18] Vgl. ebd.
[19] Dieser Blogeintrag bildet einen kleineren und veränderten Teil eines längeren Beitrages; vgl. Shana Fehr: De fagu sanguinea mutata. Die Metamorphosen Ovids in Kim de l’Horizons Blutbuch. In: Germanistik in der Schweiz (GiS) 19/2022 (2023), S. 72–94.