Zwei verschiedene Ausgaben von Erika und Klaus Manns ursprünglich 1931 erschienenen «Buch von der Riviera» hält der Buchhandel aktuell bereit. Der elegant-schnöselig in selbstironischer Halbdistanz zum Gegenstand geschriebene Reiseführer der Mann-Geschwister über die Côte d’Azur und die ligurische Küste war seinerzeit ein Bestseller. Das ist auch heute noch nachvollziehbar: Erika und Klaus Mann bieten eine virtuos-virtuelle Tour durch die mondäne Welt der französischen und italienischen Mittelmeerküste, radikal subjektiv erzählt im vollem Selbstbewusstsein einer literarischen Jeunesse dorée, die alles gesehen hat und alles beschreiben kann. Sie fühlen sich in den Hafenkneipen von Marseille genauso wohl wie im Casino von Cannes und beim High Tea im Hotel Negresco in Nizza.

Erika Mann im Liegestuhl in Le Lavandou, 1933
(Photo: Annemarie Schwarzenbach)

Die beiden derzeit verfügbaren Ausgaben unterscheiden sich im Layout erheblich: Die Taschenbuchausgabe stellt den photomechanischen Nachdruck der Originalausgabe von 1931 dar, das jüngst erschienene Hardcover enthält hingegen nicht nur ein geschmackvoll-buntes neues Cover, sondern auch einen vollkommen neu gesetzten Text. Und noch etwas fällt beim Vergleich der beiden Buchausgaben auf. Während das Reprint des Originals durch Zeichnungen der verschiedenen geschilderten Stationen illustriert ist, wird die Neuausgabe u.a. durch Photographien der Autorin und des Autors (teils photographiert von Annemarie Schwarzenbach) vor Ort bebildert: Erika im Liegestuhl in Le Lavandou, Klaus beim Morgenkaffee auf der Terrasse. Das schafft nicht nur Glaubwürdigkeit und effets du réel, sondern verschiebt von einer Ausgabe zur anderen den medialen Status des Reiseführers und damit auch implizit den der Leser-Touristinnen und -Touristen. Indem die Texte der Geschwister Mann mit ihren Portraits synchronisiert werden, eröffnet sich ein Raum des historischen Reisens in die Historizität des Reisens selbst. Wer mit der Neuausgabe des «Buchs von der Riviera» in der Tasche reist, blickt nicht nur durch die Augen der Manns auf die Côte, sondern begehrt deren unwiederbringlich verloren gegangene touristische Erfahrung. Die Reise wird zur Reise in die Vergangenheit – aber nicht in eine vermeintlich authentische, unberührte und fremde Welt, deren Aporien der Luzerner Historiker Valentin Groebner ebenso genau wie genussvoll freigelegt hat. Vielmehr entsteht ein meta-touristisches Verlangen nach dem Re-Enactment einer vergangenen touristischen Erfahrung. Ich will spüren, was Erika gespürt hat, als sie Touristin war. Ich will sehen, was Klaus gesehen hat, als die Uferpromenade von Le Lavandou noch nicht vollgerümpelt war mit Souvernirshops, Kaffeebars und Gelaterien.  

Klaus Mann beim Morgenkaffee in le Lavandou, 1933
(Photo: Annemarie Schwarzenbach)

Meta-Tourismus sucht nicht nach dem Authentischen der Fremde, sondern ist ein Tourismus zweiter Ordnung. Ihm geht es um den Nachvollzug eines vergangenen touristischen Blicks, der Glamour und Grandezza anstelle von Flipflops und Gummieinhorn verspricht. Die Côte d’Azur ist ein vielfach medial überschriebener Raum. Unter dem aktuellen Bild der Küste schimmern die medialen Repräsentationen vergangener Jahrzehnte hindurch. Die Côte ist so längst zu einem Palimpsest immer neuer touristisch-medialer Aneignungen geworden. Wer ans Cap d’Antibes zum Hotel Eden Roc fährt, rollt die Avenue F. Scott Fitzgerald entlang und fühlt sich ein in Dick Diver, jenen Virtuosen des Sozialen aus «Tender is the Night» und Alter Ego seines Autors. Wer auf dem Weg zur Plage de Pampelonne in Saint-Tropez am Hafen an den Mega-Yachten der indischen Stahlmagnaten und den Designer-Boutiquen in den benachbarten Strässchen entlangschlendert, hält unvermeidlich Ausschau nach Brigitte Bardot aus «Et Dieu… créa la femme». Wer schliesslich die Corniche in Richtung Nizza entlangkurvt, wünscht sich jene eleganten Autos herbei, in denen Cary Grant in Hitchcocks «To Catch a Thief» einst von Grace Kelly durch die spektakuläre Landschaft kutschiert wurde.

Brigitte Bardot in Saint-Tropez, Filmstill aus «Et Dieu créa… la femme» (Roger Vadim, F 1956)

Als gut geölte Dienstleistungsmaschinerie erfüllt der moderne Tourismus jedoch fast alle Wünsche – auch die historisch-medialen. An der Ausfallstrasse von Saint-Tropez Richtung Antibes finden sich mehrere auf Oldtimer-Cabrios spezialisierte Autovermietungen, die für Meta-Touristinnen und Touristen nötige Ausstattung für ihre temporäre Verwandlung in den Gentleman-Dieb John Robie und die Millionärstochter Frances Stevens bereitstellen. «Der moderne Tourismus», schreibt Groebner, «ist eine Zeitwiederbeschaffungsmaschine, eine Agentur des Wieder-Holens.» Die Zeit, die der Tourismus den modernen Reisenden wieder zurückholt, ist aber nicht nur jene ewig verlorene Zeit des Authentischen, des ursprünglichen Erlebens einer vermeintlich a-historischen Vergangenheit. Sie lässt sich oft genug medial genau verorten: als Wiedergänger-Tourismus von Büchern, Filmen und Imaginationen, die selbst schon einen touristischen Blick inszenieren. Diesem Tourismus zweiter Ordnung ist wie allen Formen des Re-Enactments eine Melancholie eingeschrieben, die sich in der unhintergehbaren Spannung zwischen partiellem Eintauchen in die mediale Inszenierung (im Cabrio auf der Corniche) und ihren realen Bruchlinien (im Stau vor dem Autobahnzubringer in Richtung Cannes) zeigt. Die besten Ferien sind immer die, die man nicht mehr erleben kann. Das jedoch wussten auch schon die Mann-Geschwister. Bei Menton endet die Côte d’Azur, doch man konnte schon 1931 mit dem Zug weiterfahren in Richtung Italien. Doch dieser «Rivieraexpreß […]ist auch nicht mehr das, was er war», meinen die Manns. «Er geht zwar schneller als früher, aber das, was Urgroßvati immer von ihm erzählte, stimmt nicht mehr ganz. Er ist weder so reichtums-, noch so abenteuergeladen, wie damals, darin dem Gesamtzuschnitt der Küste entsprechend. Die Luft von Alltagsferne und phantastischen Ferien ist weg.» Die Zeitschichten des Tourismus lassen sich nicht abtragen, sondern ihrerseits nur geniessen – bis dann ab Ventimiglia der heutige Regionalzug fast nur noch durch Tunnels bummelt und der Blick aus dem Zugfenster aller meta-touristischen Illusionen beraubt wird.

F. Scott und Zelda Fitzgerald in Antibes, 1926

Literatur:

  • Erika und Klaus Mann, Das Buch von der Riviera, Hamburg 2019 [1931].
  • Valentin Groebner, Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt/Main 2018.

Jan-Friedrich Missfelder lehrt und erforscht die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Basel.

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