Das wär‘ antik! Ich wüßt‘ es nicht zu preisen,
Es sollte plump und überlästig heißen.
Roh nennt man edel, unbehülflich groß.
Schmalpfeiler lieb‘ ich, strebend, grenzenlos;
Spitzbögiger Zenit erhebt den Geist;
Solch ein Gebäu erbaut uns allermeist.
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust II, 1. Akt, V. 6409–6414)
Was Johann Wolfgang von Goethe so programmatisch in seinem Hymnus auf Erwin von Steinbach und das Straßburger Münster als Inbegriff deutscher Baukunst preist, wird in dieser etwas entlegeneren Stelle im ‚Faust‘ subtil eingespielt. Die Leistung dieses spezifisch ‚gotischen‘ architektonischen Modells zielt mit den Schlagwörtern „erheben“ und „erbauen“ auf den menschlichen „Geist“, dem (in einer christlich-vertikalen Denkordnung) eine Teilhabe an der grenzenlosen himmlischen Glaubensoffenbarung zuteil werde.
Das Straßburger Münster ist nicht nur im Hinblick auf seine materiale, ‚gotische‘ Monumentalität zum Erinnerungsort par excellence avanciert, sondern durch zahlreiche, ihm gleichsam eingeschriebene mediale ‚Reflexionen‘ von Heil: Merkmale wie die architektonische Form, die Bildprogramme der Skulpturen an den Portalen wie diejenigen der Glasfenster im Innenraum verweisen auf eine christlich-ekklesiologische Symbolwelt, in deren medialer Präsentation sich ein höchst diffiziles Verhältnis von Tradition und Novation im Bauprozess spiegelt.
Konkret manifestieren sich die Memorialzeichen an einzelnen ‚Erinnerungsorten‘, zumal im Innenraum des Münsters, die Leben und Tod historischer Persönlichkeiten präsent halten. Trägermedium solcher ‚Gedenktafeln‘ sind Stein und Schrift, die sowohl räumliche als auch zeitliche Dimensionen institutionalisierten Gedächtnisses eröffnen, exemplarisch ablesbar an den Epitaphien auf den berühmten Straßburger Münsterprediger Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510). Weil das steinerne Objekt als Träger von Schriftzeichen die memoria nicht nur an die Person, der die Inschrift gilt, sondern auch deren schöpferisches Subjekt für alle Zeiten bewahrt, verwundert es kaum, dass es unter den zeitgenössischen Literaten zu einem regelrechten Dichterwettstreit um die Formulierung gekommen ist, an dem sich einige der angesehenen Humanisten beteiligten: Sebastian Brant, Philipp Melanchthon, Johannes Reuchlin, Beatus Rhenanus, Jakob Wimpfeling. Zwar wählte man für den Grabstein eine schlichte Version (Anno Domini etc. mortuus est Dominus Joannes etc. Requiescat anima eius in pace); doch wurden in der eigens für Geiler von Kaysersberg im Jahr 1485 errichteten Kanzel die ersten beiden Distichen des von Sebastian Brant verfassten Epitaphs verewigt:
Quem merito defles urbs Argentina Ioannes
Geiler, Monte quidem caesaris egenitus,
Sede sub hac recubat quam rexit praeco tontantis
Per sex lustra docens verba salutifera (Brant, KT, Nr. 427)‚Johannes Geiler, den Du, Straßburg, zurecht beklagst, der freilich in Kaisersberg aufgewachsen ist, ruht unter diesem Sitz, den er als Prediger Gottes leitete und 30 Jahre lang heilbringende Rede lehrte.‘
Die Position der Epitaphien im Raum – der Grabstein in unmittelbarer Nähe zum Altar, die Kanzel im Kirchenschiff – markieren symbolisch Geilers Bedeutung als Prediger inmitten seiner Gemeinde von Gläubigen sowie seine ‚Berufung‘ als Sprachrohr Gottes. Als Schriftmedien von überzeitlichem Material sind sie Formen der Repräsentation der erinnerten Person, deren Gedächtnis sie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sichern.
Bedeutend über die Grenzen Straßburgs hinaus wurde Geilers 1498/99 gehaltene Predigtreihe über einen der größten Bucherfolge der Frühen Neuzeit:Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ (Basel: Johann Bergmann von Olpe 1494). Den in der Narrensatire angeprangerten orientierungslosen Zustand der Stadtgesellschaft sah Geiler auch in Straßburg als gegeben an und vermittelte durch das Medium der Predigt die von Brant fokussierten Inhalte direkt an die im Straßburger Münster anwesende Stadtbevölkerung. Der Sakralbau wird damit zum Reflexionraum grundlegender gesellschaftlicher Konzepte, innerhalb derer die durch den Zustand der blintheyt und vinstrer nacht gekennzeichnete Vergangenheit und Gegenwart mit einer auf Selbsterkenntnis basierenden zukünftigen Heilserwartung konfrontiert werden. Das Straßburger Münster erscheint in diesem Hinblick als Ort, an dem das durch die Epitaphien in Stein materialisierte Gedächtnis auf eine mediale Konstellation verweist, die das Medium zugleich selbst übersteigt.
Julia Frick lehrt und forscht Ältere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.