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Janine Wälty

Kultur für alle von allen?
Eine Untersuchung von kultureller Teilhabe und Teilnahme auf theoretischer, konzeptioneller und praktischer Ebene

Titelbild des Handbuchs kulturelle Teilhabe (Nationaler Kulturdialog, 2019) (Abgerufen 06.06.2020).

Die kulturelle Teilhabe wurde für die Jahre 2016-2020 in der Kulturbotschaft des Bundes als eine von drei Hauptachsen für die Schweizer Kulturpolitik festgelegt. Seither mussten sich Kulturinstitutionen, Kulturbeauftragte, Fachstellen, Künstler*innen und Partizipierende mit dem Thema auseinandersetzen. Gleichzeitig wurde natürlich auch viel darüber geredet und geschrieben, zum Beispiel aus sozialwissenschaftlicher, politischer oder künstlerischer Perspektive.

Um den Begriff der kulturellen Partizipation besser zu verstehen, habe ich mich ihm für meine Bachelorarbeit aus drei Perspektiven angenähert: Aus theoretischer Perspektive – mithilfe von Fachliteratur-, aus konzeptioneller – anhand von Kulturleitbildern verschiedener politischer Ebenen – und für die praktische Perspektive habe ich die Kulturbar Raum132 in Wetzikon als Beispiel untersucht. Die Frage war dabei, wie verstehen diese Ebenen die kulturelle Teilhabe und welche Bedeutung hat sie?

Was ist mit „kultureller Teilhabe“ gemeint?

Diese Frage kann (wie so oft in den Sozialwissenschaften) nicht eindeutig beantwortet werden, sondern ist von unterschiedlichen Perspektiven, Akteur*innen und Ambivalenzen geprägt. Die Auseinandersetzung mit der Literatur hat aufgezeigt, wie viele unterschiedliche Dimensionen mit dem Begriff beschrieben werden können. Es kann heissen, dass man an einem Ort toleriert wird und mit dabei sein darf. Es kann auch bedeuten, dass man in einen gleichberechtigten Entscheidungsprozess in einem Projekt eingebunden ist oder gar bei Aushandlungsprozessen von Gesellschaft und Politik mitwirken kann.

Was kann kulturelle Teilhabe bewirken?

Während ich in verschiedene Texte eingetaucht bin, hat sich daraus eine ganze Palette verschiedener Wirkungsweisen von kultureller Partizipation gezeigt: eine positive Persönlichkeitsentwicklung bis zur Konstruktion von Lebenssinn. Sie ermöglicht Kontakt mit unterschiedlichen Menschen und die Begegnung mit klassischer Kultur. Es wird dazu angeregt, die eigenen Wertmassstäbe und Hierarchien zu hinterfragen , in denen wir uns befinden und darin agieren. In Extrema wird die Beschäftigung mit Kultur als Partizipations- und Demokratisierungsmaschine verstanden, die inkludierende Prozesse bewältigen und die nächste Generation auf ihre Herausforderungen vorbereiten kann.

Weshalb müssen wir noch darüber diskutieren? Gibt es auch gegensätzliche Meinungen?

Zur kulturellen Teilhabe gibt es auch gegensätzliche Meinungen und daher Diskussionen. Wichtig ist ein kritischer Umgang damit, denn es besteht die Gefahr der Idealisierung oder der normativen Aufladung. Es kann weder von einer direkten Übertragung von kultureller zu politischer Partizipation oder zu Engagement in der Bürgergesellschaft ausgegangen werden, noch kann sie unmittelbar Machtasymmetrien zum Verschwinden bringen. Ausserdem stehen ihr die Kulturschaffenden teilweise kritisch gegenüber und sehen die Qualität ihrer künstlerischen Arbeit gefährdet.

Welche praktischen Vorschläge zur Förderung gibt es ?

Für die konkrete Umsetzung werden verschiedene Ansätze vorgeschlagen, beispielsweise die Erschaffung eines kulturellen Milieus, die Integration eines sozialen Zwecks in die Kulturinstitutionen oder die Einführung eines breiten Kulturbegriffs. Von grosser Bedeutung ist dabei die Frage nach der Einstellung und der Definitionsmacht. In der Sendung Sternstunde Philosophie vom 31.05.2020 die Frage besprochen, wie man sich noch über Kultur unterhalten können soll, wenn nicht von einem gemeinsamen Kanon, z.B. Goethes Faust, ausgegangen werden kann? [1] Auch wenn die Gäste dies nicht als verheerenden Zustand sahen, bleibt die Angst vor dem Verlust der Deutungshoheit doch im Raum.

Für mich sind mehr Fragen aufgetaucht, als sie beantwortet wurden: Wie können die schwer erreichbaren Gruppen angesprochen werden? Wie ihre Familien in den Prozess eingebaut? Dafür ist eine Zusammenarbeit der Forschung und dem Kulturbereich notwendig, um konkrete Handlungsstrategien zu erproben. Ausserdem muss in Zukunft die Frage gestellt werden, welches Ziel mit „mehr kultureller Teilhabe“ erreicht werden soll. Diese Frage ist auch stark mit den Definitionen der einzelnen Begriffe verbunden. (Partizipation, Teilhabe und Teilnahme wurden von verschiedenen Autor*innen definiert, doch eine durchgängige Verwendung hat sich nicht durchgesetzt und sie werden teils synonym verwendet.) Geht es um ein passives oder ein aktives Verständnis? Sollen sich plötzlich alle als Gladiatoren in die Kultur-Arena begeben? Es können offensichtlich nicht alle die Kunst zum Beruf machen oder sich in ihrer Freizeit nur noch mit Kunst beschäftigen, haben doch die Menschen noch so viele andere Interessen.


Und was versteht nun der Bundesrat in der Kulturbotschaft unter kultureller Teilhabe?

Der Bundesrat schreibt in der Kulturbotschaft für die Jahre 2016-2020, dass es aktuell fünf grosse Herausforderungen gibt (und diese in der Botschaft 2021-2024 als bestätigt erachtet): Die Globalisierung – die einen harten internationalen Wettbewerb und eine Herausforderung für die Wahrung der kulturellen Vielfalt darstellt -, die Digitalisierung als grossen Einflussfaktor der Produktion und des Vertriebs von kulturellen Gütern und Dienstleistungen, der demografische Wandel – herbeigeführt durch Migration, Alterung und Bevölkerungswachstum. Ausserdem die Individualisierung und die damit verbundene Multioptionsgesellschaft – der Grund für die divergierenden Erwartungen und Ansprüche an das Kulturangebot – und die Urbanisierung und die Abnahme der Kulturangebote auf dem Land.

Diese Faktoren führten in den letzten Jahrzehnten zu einer steigenden Heterogenität der Gesellschaft. Um auf diese Umstände zu reagieren, hat sich der Bund entschieden, sich neben den beiden Handlungsachsen gesellschaftlicher Zusammenhalt und Kreation und Innovation auch auf die kulturelle Teilhabe zu fokussieren:

Als Gesellschaftspolitik verstanden, hat Kulturpolitik die gesamte Bevölkerung und ihr Miteinander im Auge. Kulturelle Teilhabe meint die aktive und passive Teilnahme möglichst vieler am Kulturleben und am kulturellen Erbe. Kulturelle Teilhabe zu stärken bedeutet, die individuelle und kollektive Auseinandersetzung mit Kultur und die aktive Mitgestaltung des kulturellen Lebens anzuregen. […] Teilhabe am kulturellen Leben wirkt den Polaritäten in der Gesellschaft entgegen und ist damit eine zentrale Antwort auf die Herausforderungen der kulturell diversen Gesellschaft. Wer am kulturellen Leben teilnimmt, wird sich der eigenen kulturellen Prägungen bewusst, entwickelt eine eigene kulturelle Identität und trägt so zur kulturellen Vielfalt der Schweiz bei.“ [2]

Der Bund versteht die kulturelle Teilhabe also sowohl aktiv als auch passiv, als zentrale Antwort auf die diverse Gesellschaft. Mit drei Massnahmen soll der Zugang zu Kultur, zu musikalischer Bildung und zum Lesen besonders gefördert werden, um damit mehr kulturelle Teilhabe hervorzurufen. Besonders hervorzuheben ist der erste Satz und betont den Zusammenhang der kulturellen und der sozialen Teilhabe.

Und wie hat der Kanton Zürich die Handlungsachse aufgenommen?

Auch im Kulturleitbild des Kantons Zürich wird der Schwerpunkt kulturelle Teilhabe festgehalten, und zwar mit der Erklärung:

Kultur schafft Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Sie ermöglicht Teilhabe unabhängig der sozialen oder nationalen Herkunft. In Zeiten massiven Wandels im lokalen wie im globalen Wertesystem leisten kulturelle Werke Orientierungshilfe und bilden das Fundament individueller und gemeinschaftlicher Identität. Der Kanton Zürich engagiert sich für die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten am kulturellen Leben.“ [3]

Konkrete Fördermassnahmen sind partizipative Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Publikum, die Stärkung von Foren und die Vergabe von Anerkennungsbeiträgen an Institutionen. Die Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft soll sich auch in der Kunst wiederspiegeln, um möglichst alle Menschen anzusprechen. Da stellt sich mir die Frage: Wie kann eine so gesellschaftsübergreifende und komplexe Forderung von einer Fachstelle erreicht werden?

Laut Thise Gloor (vom Raum132) muss für diese Aufgabe bei den Menschen angesetzt werden, die schon lange Kultur veranstalten, denn sie haben das Wissen und die Erfahrung für die Umsetzung. Das klingt nach einem guten Ansatz, aber trotzdem: Wie kann mehr Vielfalt in die bestehenden Organisationen gebracht werden, ohne dass es als Degradierung ihrer bisherigen Arbeit aufgefasst oder dadurch die Qualität gemildert wird?

Inwiefern will die Kulturkommission Zürioberland die kultureller Teilhabe stärken?

Als Koordinations- und Beratungsstelle ist es das Anliegen der Kulturkommission Zürioberland (KuKoZo), das Kulturangebot der Region zu fördern und die Gemeinden zu vernetzen. Ein Konzept, um die ländlichen Regionen zu stärken und den Unterschied zu den Städten zu verringern, ist eine bessere örtliche Erreichbarkeit der Angebote. Die KuKoZo setzt an diesem Punkt an, um die Kulturschaffenden in den Regionen zu verankern und eine räumliche Nähe der Bevölkerung zu den Institutionen und Projekten zu schaffen. Gerade weil die Kantone ohne einheitliches Konzept agieren, sind Austauschmöglichkeiten wie der Nationale Kulturdialog oder die Vernetzungstreffen der KuKoZo sehr wichtig, um aus den Erfahrungen anderer zu lernen.

Und was sagt das Wetziker Konzept?

„Die Stadt Wetzikon soll Brücken bauen zwischen Alltag und Kunst, Kulturvermittlungsangebote fördern, vernetzen, beraten und den Kindern/Jugendlichen die Teilhabe an Kulturinstitutionen und der künstlerischen Praxis ermöglichen.“ [4]

Die Bevölkerung soll aktiv am Stadtleben teilhaben und es mitgestalten. Ausserdem will die Stadt besonders auf den Vereinen aufbauen – die in den anderen Leitbildern nicht erwähnt wurden. An dieser Stelle zeigt sich die Verbindung von kultureller und gesellschaftlicher Partizipation. Interessant ist dabei auch die Brücke zwischen Alltag und Kunst, die erbaut werden soll, damit Kultur nicht als einzelne Anlässe wahrgenommen, sondern Teil der Alltagsrealität wird. Genaue Massnahmen sind dem Leitbild nicht zu entnehmen, es scheint aber in die Richtung des kulturellen Milieus zu gehen (Kröner 1996).


Kommen wir zum Raum132.
Welche partizipativen Momente gibt es?

Die Datenanalyse hat drei Kategorien von partizipativen Momenten im Raum132 ergeben. In der ersten Kategorie Organisation und Administration werden die Aufgaben des Büros als Möglichkeit zur Partizipation gedacht. Mitgliedern des Vorstandes werden Teilhabemöglichkeiten eröffnet, gleichzeitig aber auch Pflichten auferlegt, die bei Nichterfüllung Konsequenzen für den ganzen Verein haben. Weiter kann der Umbau als Akt der Selbstverwirklichung verstanden werden, der durch kulturelle Teilhabe ermöglicht wird.

Die zweite Kategorie Kunst und Kultur zeigt, wie durch Kunst an dem Raum teilgenommen wird und dass der Begriff des Künstlers für Thise Gloor einen Teil des Selbstverständnisses ausmacht. Wichtig dabei ist das Verständnis von Kultur als Bühnenkunst auf der einen Seite, auf der anderen auch als Erlebniskultur.

Die dritte Kategorie umfasst die Gemeinschaftlichkeit und das Soziale, die auch in der Theorie zur kulturellen Teilhabe vieldiskutiert ist. Menschen, die am Raum132 teilhaben, sind automatisch in eine soziale Umgebung eingebettet. Der Raum wird auch bewusst aufgesucht, beispielsweise von Jugendlichen, um eine Party zu feiern, was dann stärker als Erlebniskultur, denn als Teilhabe an Kunst verstanden werden kann.

Wie zeigte sich das Verhältnis von Kultur und Politik?

Ein weiterer Aspekt – der auch Teil späterer Untersuchungen werden sollte-, ist das Verhältnis von Kultur und Politik. Diese sollen jedoch nicht als abstrakte Institutionen, sondern als eine Beziehung zwischen zwei Personen gefasst werden, die geprägt ist von persönlichen Begegnungen und charakterlichen Eigenschaften. Ausserdem ist sie von Hierarchie geprägt und beide Seiten verfolgen grundsätzlich das gleiche Ziel: die Stärkung der Kultur. Auch wenn von der „Politik“ und der „Kunstszene“ gesprochen wird, hat sich hier gezeigt, es sind zwei Menschen, die in einer kleinen Stadt doch sehr persönlichen Kontakt haben und nicht nur durch Formulare kommunizieren. Aus diesem Grund kann es auch leicht zu Auseinandersetzungen kommen. Um an gemeinsamen Zielsetzungen zu arbeiten, wäre eine Vertrauensbasis erforderlich, die nicht von Skeptizismus geprägt oder erschwert werden darf.

Sind die Finanzen auch von Bedeutung?

Die Frage nach den Finanzen ist eine zentrale Angelegenheit des Raum132, denn wenn die Mietkosten nicht gedeckt sind, wird es auch keine Veranstaltungen mehr geben. Das zentrale Instrument der Kulturpolitik sind die Förderbeträge, sodass der finanzielle Aspekt auf konzeptioneller und praktischer Ebene von grosser Bedeutung ist. Umso auffallender erscheint die Tatsache, dass in der Theorie über kulturelle Teilhabe nur wenig bis gar nicht darüber debattiert wird. Angesprochen wurde die Kritik am New Public Management und dass sozial schwächere Familien eher weniger kulturelle Partizipation erfahren. Hier besteht auf jeden Fall noch Nachholbedarf bei der Untersuchung dieses Zusammenhangs: Wie kann die Verbindung der kulturellen Teilhabe und der finanziellen Mittel der staatlichen Stellen verstanden werden? Oder welche anderen Methoden können genutzt werden?

Und was hat es mit dem lokalen und kulturellen Selbstverständnis auf sich?

Mehrmals wurde in der Literatur erwähnt, welche Bedeutung die kulturelle Teilhabe für das Selbstverständnis der Menschen in einem Dorf oder auch einer Stadt hat. Im Kulturleitbild des Kantons Zürich wird diese Frage explizit genannt und auch der Kulturbeauftragte von Wetzikon, Christophe Rosset, setzt sich intensiv damit auseinander. In einer Stadt, die historisch aus sieben einzelnen Gemeinden entstanden ist und mehrere strukturelle Probleme aufweist – innerhalb des Stadthauses und zwischen den Kulturveranstalter*innen-, stellt dies eine Herausforderung dar.

Gerade wenn der Raum132 in Zukunft mehr an Private vermietet wird, um die Finanzen aufzubessern, bedeutet dies in Konsequenz, dass es weniger kulturelle Veranstaltungen geben wird und deshalb weniger Möglichkeit zur kulturellen Partizipation. Wenn wir davon ausgehen, dass gerade die Veranstaltungen eine identitätsstiftende Wirkung haben, lautet die Schlussfolgerung, dass das Selbstverständnis der Stadt darunter leiden wird.


Was bedeutet das jetzt alles für die Zukunft?

„Abschliessend kann also gesagt werden, dass der kulturellen Partizipation ein grosses Potenzial innewohnt, Verbindungen zwischen Menschen herzustellen, soziale Kontakte zu erschaffen und Brücken in der heterogenen Gesellschaft zu bauen. Zu beachten ist dabei, dass der Akt der Erarbeitung neuer Angebote oder Institutionen bereits partizipativ geschehen muss und dass sich alle Mitwirkenden auf Augenhöhe begegnen.“ [5]

[1] Vgl. Sternstunde Philosophie: Wozu Kultur? Schweiz 2020, Raymonde Zürcher (SRF1, 31.05.2020).

[2] Schweizerischer Bundesrat (Hg.): Botschaft zur Förderung der Kultur in den Jahren 2016–2020 (Kulturbotschaft) (28.11.2014). In: Schweizerische Eidgenossenschaft Bundesamt für Kultur, https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/themen/kulturbotschaft.html (Abrufdatum: 13.05.2020), 525.

[3] Fachstelle Kultur Zürich (Hg.): Leitbild Kulturförderung (25.02.2015). In: Fachstelle Kultur, https://kultur.zh.ch/internet/justiz_inneres/kultur/de/kulturpolitik/kulturfoerderungsleitbild.html (Abrufdatum: 13.05.2020), 23.

[4] Stadtrat Wetzikon: Kulturleitbild Wetzikon 2018 (08.06.2018). In: Wetzikon, https://www.wetzikon.ch/stadtleben/kultur/kulturfoerderung (Abrufdatum: 13.05.2020).

[5] Wälty, Janine: Kultur für alle und von allen? Eine Untersuchung von kultureller Teilhabe und Teilnahme auf theoretischer, konzeptioneller und praktischer Ebene. 2020, 43.