Carola Jäggi: Kunstgeschichte in Zürich

Zwischen Tradition und Neuanfang: Josef Zemp (1869–1942) als Nachfolger Rahns

Carola Jäggi

Als Rahn Anfang 1912 mit 71 Jahren seinen Dienst an der Universität quittierte und kurz darauf starb, war im Unterschied zur Situation nach dem Tod Vögelins 24 Jahre zuvor klar, dass diese Stelle möglichst bald wieder zu besetzen sei, wobei die übergeordneten politischen Behörden ein Ordinariat anvisierten, die Fakultät hingegen eine Doppelbesetzung auf Extraordinariatsniveau, d. h. zwei Stellen mit jeweils geringerem Lehrdeputat und entsprechend geringerem Einkommen, bevorzugte: «Bei der Behandlung der Frage der Wiederbesetzung der in Frage stehenden Professur gingen Erziehungsrat und Hochschulkommission von der Ansicht aus, es sollte der Kunstgeschichte an unserer Universität vermehrte Bedeutung gegeben und zu diesem Zwecke wieder ein volles Ordinariat eingerichtet werden, wie ein solches in früheren Zeiten bestanden hatte. Die philosophische Fakultät, I. Sektion, nahm zuvor eine ablehnende Haltung ein, indem sie der Schaffung zweier voller Extraordinariate (mit Vorschlag Zemp, Brun) den Vorzug gab mit der Begründung, daß dadurch den Bedürfnissen unserer Hochschule besser gedient sei, als mit einem Ordinariat. Auf Veranlassung der vorberatenden Behörden brachte die Fakultät jedoch Vorschläge für die Besetzung eines Ordinariates ein (Privatdozent Dr. Rintelen, Berlin; Professor Weese, Bern; Privatdozent Dr. Wackernagel, Leipzig). Diese Vorschläge wurden zunächst zurückgelegt, in der Absicht, zu versuchen, einen tüchtigen Kunsthistoriker schweizerischer Herkunft für die Professur zu gewinnen; dabei wurde insbesondere an Professor Dr. Paul Ganz, Basel, gedacht. Es ergab sich indes, daß Professor Ganz wohl in ganz hervorragender Weise zur Leitung eines Kunstmuseums befähigt ist, daß er aber als Dozent nicht in jeder Hinsicht die Qualifikationen besitzt, die von einem Ordinarius für Kunstgeschichte gefordert werden müssen. Da inzwischen Dr. Rintelen von der preußischen Regierung in amtlicher Mission nach Rom versetzt worden war, mußte dieser Vorschlag der Fakultät aufgegeben werden. Ein mit Mehrheit eingebrachter Antrag der Hochschulkommission, es sei Professor Zemp ein volles Ordinariat zu übertragen, fand die Zustimmung des Erziehungsrates nicht. Die Behörde stellte sich vielmehr auf den Standpunkt, die Frage der Wiederbesetzung eines Ordinariates für Kunstgeschichte zunächst noch offen zu lassen und Professor Zemp als Extraordinarius in Vorschlag zu bringen.»[16]

Josef Zemp
Abb. 5: Josef Zemp, 1914.
UZH-Archiv AB.1.1164; Foto: Franz Schmelhaus, Zürich; https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=75189969 (aufgerufen am 25. Mai 2022).

Josef Zemp (Abb. 5 und 6) war 1893 bei Rahn mit einer Arbeit über die Schweizer Bilderchroniken und ihre Architekturdarstellungen promoviert worden und 1898 in Zürich habilitiert. Seit 1893 arbeitete er an Rahns Kunstdenkmäler[n] des Kantons Solothurn mit, wurde 1894 Assistent am Schweizerischen Landesmuseum, lehrte 1898–1904 Kunstgeschichte an der Universität Fribourg, um 1904 als Vizedirektor des Landesmuseums nach Zürich zurückzukehren.[17] Gleichzeitig mit der Aufnahme seines letztgenannten Amtes wurde er 1904 zum Titularprofessor am Eidgenössischen Polytechnikum ernannt und 1912 ebendort zum Ordinarius für Kunstgeschichte und Archäologie befördert, wo er die gesamte Architekturgeschichte von den Ägyptern bis zur Gegenwart abdeckte. Seine Ernennung zum Extraordinarius der Kunstgeschichte an der Universität Zürich erfolgte schliesslich zum Sommersemester 1913 mit dem oben zitierten Regierungsratsbeschluss vom 23. Januar 1913. Wie bereits Rahn lehrte Zemp also gleichzeitig am Polytechnikum und an der Universität und war wie dieser über seine früheren Tätigkeiten im Landesmuseum und in der Schweizerischen Gesellschaft für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler in vielfältige ausseruniversitäre Netzwerke integriert.[18] Anders, als man dies erwarten würde, bot Zemp an der Universität vor allem Lehrveranstaltungen zur neuzeitlichen Kunst bis 1900 an, während Veranstaltungen zum Mittelalter und explizite Architekturthemen in seinem Lehrportfolio an der Universität selten waren.[19] Durch seine «streng wissenschaftliche Arbeitsmethode» habe Zemp die «heranwachsende Generation für verschiedene, die Kunstgeschichte berührende Berufszweige vorbereitet»[20] – Linus Birchler wird ihn 1942 als den letzten «ragende[n] Vertreter der historisch denkenden Kunstgeschichtsforschung» bezeichnen.[21]

Josef Zemp
Abb. 6: Johann Rudolf Rahn (Mitte) zusammen mit Josef Zemp (links) und Eugen Ziegler (rechts) auf Schloss Hagenwil, 1894; die Aufnahme entstand im Zusammenhang mit den Arbeiten an der Statistik der mittelalterlichen Kunstdenkmäler des Kantons Thurgau.
ZBZ, Graphische Sammlung und Fotoarchiv, Rahn’sche Sammlung, Fotoschachtel 534; Foto: ZBZ.

1922 wurde – in etwa parallel zum Ausscheiden von Carl Brun und durchaus in Abhängigkeit davon – die ausserordentliche Professur von Zemp in eine ordentliche mit demselben Lehrgebiet (Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit) umgewandelt: «Die Fakultät weist darauf hin, daß Prof. Zemp diese Würdigung zufolge seines Ansehens als Kunsthistoriker verdiene; daß aber auch ein Grund darin liege, daß seit dem Rücktritt von Prof. Brun die Kunstgeschichte an der Universität Zürich lediglich durch ein Extraordinariat vertreten sei, während sie nach ihrer Bedeutung Gegenstand eines Ordinariates zu sein verdiente.»[22] Tatsächlich hatte die Philosophische Fakultät I schon früher in jenem Jahr einen entsprechenden Antrag gestellt, hatte dabei betont, dass es zu keiner finanziellen Mehrbelastung komme und sich die Vorlesungen von Zemp eines grossen Zuspruchs von «Auditoren» erfreuten.[23] Vor allem aber sei «nach dem Rücktritt des Herrn Prof. Dr. Brun die ‹Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit› an unserer Universität nur durch ein einziges Extraordinariat vertreten», was «nicht im Entferntesten der Bedeutung dieses wichtigen Faches» entspreche. Dabei wird explizit auf andere Universitäten «des In- und Auslandes» verwiesen, zudem auf die Situation «zu Lebzeiten des Herrn Prof. Rahn». Die Hochschulkommission hatte sich zunächst kritisch gegen dieses Ansinnen gestellt und dabei u. a. zu bedenken gegeben, «ob nicht in der Frequenz der Vorlesungen für Kunstgeschichte ein erhebliches Überwiegen solcher Auditoren weiblichen Geschlechts sich ergibt, die bloß aus Liebhaberei die Vorlesungen besuchen».[24]

Zemps Lehrverpflichtung umfasste seit seiner Beförderung zum Ordinarius 4–6 Stunden, als seine Lehrgebiete wurden «Christliche Baukunst, bildende Kunst des Mittelalters und schweizerische Kunst» festgeschrieben.[25] 1928, noch vor seinem 60. Geburtstag, gab Zemp sein Ordinariat an der Universität jedoch auf und lehrte von da an bis zu seinem Altersrücktritt 1934 nur noch am benachbarten Polytechnikum.[26] Der Universität Zürich blieb er aber auch weiterhin als Honorarprofessor verbunden.[27]

[16] RRB vom 23. Januar 1913, Nr. 175 (UZH-Archiv AB.1.1164; vgl. StAZH MM 3.27 RRB 1913/0175). Zur Vorgeschichte dieses Beschlusses s. die Dokumente in StAZH U 109.2 (Teil 7) sowie Reinle 1976 (wie Anm. 1), S. 81–83.
[17] Alle biographischen Informationen zu Zemp sind den Würdigungen anlässlich seines Todes am 4. Juli 1942 entnommen: Escher, K[onrad]: Professor Josef Zemp, 17. Juni 1869 bis 4. Juli 1942, in: JbUZH 1942/43, S. 63f.; Gysin, F[ritz]: Josef Zemp (geboren in Wolhusen, 17. Juni 1869; gestorben in Zürich, 4. Juli 1942, in: ZAK 4, Heft 3 (1942), S. 129–136; Birchler, L[inus], in: NZZ vom 8. Juli 1942. Vgl. auch Reinle 1976 (wie Anm. 1), S. 81–83; Vignau-Wilbert 1976 (wie Anm. 4), S. 118; Schmid, Alfred A.: Der Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Freiburg, in: Kunstwissenschaft an Schweizer Hochschulen 1976 (wie Anm. 1), S. 59–70, hier S. 63f.; Meier 2012 (wie Anm. 9), S. 383–386.
[18] Vgl. Anm. 17. In den zitierten Würdigungen wird ausserdem immer wieder auf die künstlerische Begabung von Josef Zemp hingewiesen, die ihn u. a. Entwürfe für Fahnen, Wappen und Möbel anfertigen liessen; auch dies verband Zemp mit Rahn.
[19] Vgl. die Aufstellung bei Vignau-Wilbert 1976 (wie Anm. 4), S. 130. Die Fakultät hatte in ihrem Schreiben an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich vom 4. Juni 1912 explizit darauf hingewiesen, dass «neben der Behandlung der ältern Kunstgeschichte und der schweizerischen Kunst […] auch eine stärkere Berücksichtigung der neuesten Kunst zu wünschen [wäre]»; StAZH U 109.2 (Teil 7). Vgl. Reinle 1976 (wie Anm. 1), S. 82.
[20] So Escher in seinem Nachruf auf Zemp 1942 (wie Anm. 17), S. 63.
[21] Birchler, in: NZZ vom 8. Juli 1942 (wie Anm. 17). Vgl. auch Reinle 1976 (wie Anm. 1), S. 83: «Die Namen Rahn und Zemp wurden in der Schweiz und darüber hinaus so etwas wie ein Gütezeichen für solide Forschung und Denkmalpflege.»
[22] RRB vom 23. November 1922, Nr. 2918 (UZH-Archiv AB.1.1164).
[23] Brief des Dekans der Philosophischen Fakultät I vom 28. Oktober 1922 an die Erziehungsdirektion mit dem Antrag, Josef Zemp «bei unveränderter Lehrverpflichtung Rang und Titel eines Ordinarius für ‹Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit› zu verleihen» (UZH-Archiv AB.1.1164).
[24] RRB vom 26. September 1922, Nr. 934 (UZH-Archiv AB.1.1164).
[25] RRB vom 23. November 1922, Nr. 2918 (UZH-Archiv AB.1.1164).
[26] RRB vom 21. Juni 1928, Nr. 1160 (UZH-Archiv AB.1.1164).
[27] Vgl. das Gesuch von Dekan Waser vom 30. Mai 1928 an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich sowie den Gratulationsbrief des Rektors an Zemp zu dessen 60. Geburtstag am 17. Juni 1929 (beides in UZH-Archiv AB.1.1164).

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150 Jahre Kunstgeschichte an der UZH Copyright © 2022 Carola Jäggi. Alle Rechte vorbehalten.

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