Carola Jäggi: Kunstgeschichte in Zürich

Einzug der Moderne: Gotthard Jedlickas Ernennung zum Professor für «neuere und neueste» Kunst (1939)

Carola Jäggi

Wölfflins Altersrücktritt 1934 bescherte seinem Kollegen Escher eine fünfjährige Alleinvertretung des Faches, da Wölfflins Ordinariat ad personam ausgesprochen worden war und deshalb keine automatische Nachfolgeregelung nach sich zog.[55] Schon zuvor hatte Escher «die Dissertationen auf dem Gebiete der mittleren und neueren Kunstgeschichte» alleine zu begutachten und sämtliche «Doktorprüfungen auf diesem Gebiet abzunehmen», da sich Wölfflin von Anfang an «von der Pflicht zur Abnahme von Prüfungen» hatte befreien lassen.[56]

Franz Stadler
Abb. 12: Franz Stadler, 1914.
UZH-Archiv AB.1.0949; Foto: Franz Schmelhaus, Zürich.

In der Lehre wurde Escher unterstützt durch die Privatdozenten Franz Stadler (1877–1959; Abb. 12), der schon 1913 unter Zemp seine Lehrtätigkeit aufgenommen hatte und 1929 zum Titularprofessor ernannt worden war,[57] Hans Hoffmann, dem wir weiter unten als Nachfolger von Escher wieder begegnen werden, Gotthard Jedlicka und Josef Gantner. 1939 gelangte die Fakultät an den Erziehungsrat mit der Bitte um Wiederbesetzung der zweiten Professur unter Hinweis darauf, dass die Kunstgeschichte seit einigen Jahren «ungünstiger da[stehe], als vorher viele Jahrzehnte lang»; die Universität Zürich sei die einzige Hochschule in der Schweiz, «in der dieses Fach, das im Doktorexamen als Hauptfach gewählt werden kann, nur durch ein einziges Extraordinariat vertreten wird».[58] Es gehe «auf die Dauer nicht an, sich auf das Vorhandensein von Privatdozenten zu verlassen. Neben dem dringend notwendigen Ausbau des Faches legt auch die Rücksicht auf die Förderung des akademischen Nachwuchses es nahe, nicht auf unbeschränkte Zeit Kräfte unentgeltlich in Anspruch zu nehmen, die nach der Leistung Anspruch auf eine solche Förderung haben.» Es wird bei dieser Gelegenheit daran erinnert, dass die Fakultät bereits beim Rücktritt Zemps 1928 und der Ernennung Eschers zu dessen Nachfolger erklärt habe, «daß es notwendig sein werde, nach dem Rücktritt Wölfflins neben Escher eine zweite Persönlichkeit zu stellen, […] da es im Wesen der Sache liege, daß in diesem Fache eine mehr stofflich gerichtete Persönlichkeit ergänzt werden müsse durch eine zu Systematik und allgemein geisteshistorischen Gesichtspunkten neigende». 1934, beim Rücktritt von Wölfflin, sei es «nur die Rücksicht auf die Krise» gewesen, die die Fakultät daran gehindert habe, «ihren Standpunkt erneut zu vertreten». Nach wie vor sei sie – die Fakultät – der Meinung, «daß dieses gewaltige Gebiet nicht von einer einzelnen Persönlichkeit vertreten werden» könne. Hinzu komme «als außerordentliche Erweiterung […] die Kunst des 19. Jahrhunderts», die «zu den bisherigen Aufgaben hinzugetreten» sei, weshalb es sich «von selber ergeben» werde, dass das hier erneut beantragte Extraordinariat «besonders dieses Gebiet als Zentrum haben wird». Aus diesen Erwägungen heraus habe die Fakultät eine Kommission damit beauftragt, «für einen zeitgemäßen Ausbau des akademischen Unterrichtes in Kunstgeschichte Vorschläge zu machen.» Außer den drei eigenen Privatdozenten Stadler, Hoffmann und Jedlicka sei auch der akademische Nachwuchs der übrigen Schweizer Universitäten «in die Überlegungen einbezogen» worden, wobei «hiervon einzig Privatdozent Dr. Reinhardt in Basel nach Persönlichkeit und Leistungen eine ernsthafte und sorgfältige Berücksichtigung bedurfte».[59]

Cover von Gotthard Jedlickas Buch Henri de Toulouse-Lautrec
Abb. 13: Cover von Gotthard Jedlickas Buch Henri de Toulouse-Lautrec (Berlin 1929), auf dessen Basis Jedlicka 1928 an der Universität Zürich promoviert worden war.
Foto: ZBZ.

Vorgeschlagen wurde schliesslich Gotthard Jedlicka (1899–1965), der zunächst Primar- und Sekundarlehrer gewesen war und erst während seiner Lehrtätigkeit als solcher kunsthistorische Veranstaltungen an der Universität Zürich besuchte.[60] 1928 war er an seiner Alma Mater auf Basis einer Schrift über Toulouse-Lautrec, dessen Werk er während eines längeren Paris-Aufenthaltes kennengelernt hatte, promoviert worden (Abb. 13); für seine 1934 ebenfalls an der Universität Zürich vollzogene Habilitation hatte er eine Studie zum Meister der Karlsruher Passion und eine Schrift mit dem Titel Beiträge zu einer Charakteristik der Malerei von Edouard Manet eingereicht und die Venia für mittlere und neuere Kunstgeschichte erhalten.[61] Wölfflin und Escher als amtierende Fachvertreter hatten das Habilitationsgesuch von Jedlicka zwar unterstützt und seine «feine Einfühlungsgabe in künstlerische Werte» hervorgehoben, aber auch darauf hingewiesen, dass es aus Sicht des Faches derzeit (i. e. 1934) kein Bedürfnis nach einer weiteren Fachkraft gebe, da der aktuelle Lehrkörper mit seinen beiden Professoren und seinen drei das «Gesamtfach der mittleren und neueren Kunstgeschichte» abdeckenden Privatdozenten für die damals circa acht Fachstudierenden mehr als ausreichend sei.[62] Begründet wurde der Vorschlag zur Wahl Jedlickas zum Extraordinarius 1939 dann unter anderem damit, dass «der gegenwärtig einzige Fachvertreter der Fakultät, Professor Dr. Konrad Escher, […] bei all seiner umfassenden Tätigkeit […] die ältere Kunst einschließlich der Architektur» bevorzuge; «eine Hilfe und Entlastung würde er am ehesten in Hinblick auf Dissertationen und Vorlesungen über moderne Kunst begrüßen und erstreben. […]

Cover des 2019 erschienenen Buches zu Jedlicka und seinen spezifischen kunsthistorischen Analyse- und Lehrmethoden.
Abb. 14: Cover des 2019 erschienenen Buches zu Jedlicka und seinen spezifischen kunsthistorischen Analyse- und Lehrmethoden.
Foto: KHIST.

Die Weite des Werks von Dr. Jedlicka offenbart eine geistige Spannkraft, die ihn vor den drei andern Anwärtern deutlich heraushebt. Sie zeigt seine Gabe, in geordnetem Wechsel sich in ein Bild zu versenken und wieder sich über das Material zu erheben, die Inhalte und ihre Darstellungen durch mannigfaltige Beziehungen vom Bild zum Künstler und zu dessen Absicht zu deuten und in ihrer Bedeutsamkeit zu erfassen und zu schildern und dem Künstler in der Kunst und Kultur seinen Platz anzuweisen.»[63] Auf dieser Basis wurde Jedlicka zum Wintersemester 1939/40 zum «außerordentlichen Professor für Kunstgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts mit Einschluß der Schweizerischen Kunst dieses Zeitalters» ernannt, wie damals üblich zunächst für eine Amtsdauer von sechs Jahren. Als Lehrverpflichtung wurden 5–8 Wochenstunden Vorlesungen und Übungen festgesetzt, und erstmals ist im Regierungsratsbescheid zur Wahl von Jedlicka davon die Rede, dass mit der Professur «die Mitbeteiligung an der Leitung des Kunstgeschichtlichen Seminars» verbunden sei. Zudem, so wird festgehalten, sei Jedlicka «bei der Wahl von Vorlesungen aus der älteren Kunstgeschichte […] gehalten, sich des Einverständnisses von Prof. Dr. K. Escher zu versichern».[64]

Mit seinem Schwerpunkt in der neueren und neuesten Malerei hatte Jedlicka allerdings ein ganz eigenes Profil, so dass es nur selten – etwa im Bereich der Renaissancekunst – zu Doppelungen kam.[65] Seine Vorlesungen, etwa jene zu «Greco, Velazquez, Goya» (im WS 1946/47) oder «Der französische Impressionismus» (im WS 1947/48), erfreuten sich beim Publikum grosser Beliebtheit und zogen jeweils über 150 Studierende und Hörer:innen an.[66] (Abb. 14)

Übersicht über die Professuren für Kunstgeschichte an der Universität Zürich
Abb. 15: «Übersicht über die Professuren für Kunstgeschichte an der Universität Zürich», 1870-1944; Beilage zur «Eingabe der Philosophischen Fakultät I vom 27. Oktober 1944 betr. Professur für Kunstgeschichte».
UZH-Archiv AB.1.0444; Foto: Carola Jäggi.

Eschers krankheitsbedingter Rücktritt im Sommer 1944 bescherte Jedlicka ein unerwartet rasches Upgrade zum Ordinarius.[67] Obwohl Escher vor Erreichung der Altersgrenze ausschied, sein Rücktritt also zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeplant war, reagierte die Fakultät umgehend und nahm die Situation zum Anlass, «für die Kunstgeschichte die Schaffung eines vollen Ordinariates zu beantragen. Sie weist darauf hin, daß die Kunstgeschichte an Bedeutung ständig zunehme und sowohl im Rahmen der Fakultät als nach außen einer Vertretung bedürfe, die dieser Bedeutung angemessen sei. Mit Nachdruck hebt die Fakultät ferner hervor, daß nur eine planmäßig durch lange Zeit zentral und verantwortlich geführte Sammlung von Druckschriften und Kopien aller Art den Vorlesungen des Dozenten denjenigen Rahmen zu geben vermöge, der eine fruchtbare Vertiefung seitens der Studierenden ermögliche, und daß die Betreuung der stark anwachsenden und weiter sich vermehrenden Bestände der kunstgeschichtlichen Abteilung eine Aufgabe sei, die über den Aufgabenkreis eines Extraordinariates hinausgehe. Die Fakultät hofft, das heutige kunstgeschichtliche Seminar könne dereinst zu einem eigentlichen Institut ausgebaut werden. Wenn sie noch keinen festumrissenen Antrag in dieser Richtung stellt, läßt sie sich vor allem durch die Rücksicht auf die gegenwärtige Raumnot an der Universität leiten.»[68] (Abb. 15) Hochschulkommission und Erziehungsrat stimmten der Errichtung eines Ordinariates für Kunstgeschichte zu und schlugen «für das Ordinariat und die Betreuung des Seminars oder eines allfälligen künftigen kunstgeschichtlichen Institutes» Gotthard Jedlicka vor, da von den «denkbaren schweizerischen Anwärtern» keiner diesem gleichzustellen sei und das «deutschsprachige Ausland […] aus naheliegenden Gründen» – der 2. Weltkrieg war noch nicht beendet – «außer Betracht gelassen» werde.[69] Jedlicka wurde daraufhin zum Sommersemester 1945 ordentlicher Professor für neuere und neueste Kunstgeschichte mit einer Lehrverpflichtung von 8–12 Wochenstunden. Zusätzlich sei mit dieser Professur «die Leitung des Kunstgeschichtlichen Seminars und der Bibliothek verbunden».[70] Mehrfach also – und dies ist der Grund, weshalb dieser Regierungsratsbeschluss so ausführlich zu Worte kommt – wird hier auf eine Institutionalisierung der Zürcher Kunstgeschichte angespielt, auf die Notwendigkeit, sie zu einem ‹eigentlichen Institut› auszubauen und mit den nötigen Infrastrukturen, allen voran einer adäquaten Bibliothek und einer Bildersammlung, auszustatten. Weiter unten wird dieser Punkt nochmals gesondert thematisiert werden.

[55] Vgl. dazu den Schriftwechsel zwischen Dekanat der Philosophischen Fakultät I und Erziehungsdirektion im November 1934 (UZH-Archiv AL.7.41).
[56] Vgl. die «Beilage 1) zur Eingabe der phil. Fakultät I vom 27. Oktober 1944 betr. Professur für Kunstgeschichte» im Dossier AB.1.0444 des UZH-Archivs.
[57] Der gebürtige Ungare Stadler hatte zuerst «technische Studien» in München und Berlin, dann Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin und Basel studiert; 1906 Promotion in Münster i. W. zu Hans Multscher und dessen Werkstatt, 1913 Habilitation in Zürich mit einer Arbeit über Michael Wolgemut und den Nürnberger Holzschnitt im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, seit WS 1913/14 PD mit venia «Neuere Kunstgeschichte»; 1929 Ernennung zum Titularprofessor (alle Angaben aus Dokumenten in den Dossiers AB.1.0949 und AB.1.0487 des UZH-Archivs).
[58] So resümiert im RRB vom 13. Juli 1939, Nr. 1990 (UZH-Archiv AB.1.0487).
[59] Alle Zitate aus dem in der letzten Anm. genannten RRB. Dass Joseph Gantner nicht unter den in die engere Wahl genommenen Kandidaten figuriert, war seiner Wahl als Ordinarius für Kunstgeschichte an die Universität Basel zum WS/SS 1938 geschuldet; vgl. den Eintrag zu Joseph Gantner in: Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www.munzinger.de/document/00000007877 (aufgerufen am 24. August 2021).
[60] Biographische Angaben zu Jedlicka aus dem RRB vom 13. Juli 1939, Nr. 1990 und weiteren Dokumenten im Dossier AB.1.0487 des UZH-Archivs. Vgl. auch Reinle, Adolf: Professor Gotthard Jedlicka, 6. Mai 1899 bis 9. November 1965 (Nekrolog), in: JbUZH 1965/66, S. 90f. sowie den Beitrag von Roger Fayet in diesem Band.
[61] RRB vom 30. Juli 1934, Nr. 555. Im Schreiben des Dekans an die Direktion des Erziehungswesens des Kantons Zürich vom 25. Juli 1934 heisst es, dass die Fachvertreter in den Gutachten zur Habilitation von Jedlicka vor allem dessen «künstlerische Einfühlungsgabe» betont hätten «und sein lebendiges Verhältnis zur modernen Malerei», aber seiner «Darstellungsgabe» ein «feuilletonistischer Einschlag» attestiert hätten. Beide Dokumente finden sich im Dossier AB.1.0487 im UZH-Archiv.
[62] Vgl. das von Wölfflin und Escher unterzeichnete Schreiben «Habilitationsgesuch von Dr. Gotthard Jedlicka» vom 18. bzw. 19. Juni 1934 (UZH-Archiv AB.1.0487).
[63] Dieses und die nachfolgenden Zitate stammen wiederum aus dem in Anm. 58 genannten RRB vom 13. Juli 1939, Nr. 1990. Maurer zählte Jedlicka 1983 «zu den letzten Repräsentanten der Erlebnisästhetik»; Maurer 1983 (wie Anm. 2), S. 552.
[64] RRB vom 13. Juli 1939, Nr. 1990 (wie Anm. 58 und 63).
[65] Vignau-Wilbert 1976 (wie Anm. 4), S. 124.
[66] Dies ist der «Frequenz der Vorlesungen von PD G. Jedlicka, von WS 1935/36 bis SS 1949» zu entnehmen (UZH-Archiv AB.1.0487).
[67] Zur Entlassung von Escher siehe den RRB vom 22. Juni 1944, Nr. 1459 (UZH-Archiv AB.1.0228). Escher stand damals in seinem 63. Lebensjahr, im September desselben Jahres starb er.
[68] RRB vom 11. Januar 1945, Nr. 72 (UZH-Archiv AB.1.0487). Im zugrundeliegenden Antrag der Fakultät an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich vom 27. Oktober 1944, Betreff: Professur für Kunstgeschichte, heisst es: «Die bisherige Besetzung des Lehrstuhls für Kunstgeschichte an der Universität Zürich» habe «im Zeichen der traditionellen Verbindung mit der E.T.H. respektive der Nachwirkung dieser Verbindung» gestanden. Diese Umstände hätten es mit sich gebracht, dass «nie eine geschlossene, von einer einzigen Persönlichkeit mit gesamter Arbeitskraft geleitete Forschungs- und Lehrtätigkeit» entwickelt werden konnte. Der «jetzige Zustand» mit zwei Extraordinariaten sei «eine letzte indirekte Auswirkung der genannten Verflechtung», jetzt aber sei der Zeitpunkt gekommen, «um für die Kunstgeschichte, die sichtbar an Bedeutung gewinnt, ein volles Ordinariat zu errichten und dasselbe einer geeigneten Persönlichkeit zu übergeben.» (UZH-Archiv AB.1.0444).
[69] RRB vom 11. Januar 1945, Nr. 72 (UZH-Archiv AB.1.0487). Die Fakultät hatte in ihrem Antrag vom 27. Oktober 1944, Betreff: Professur für Kunstgeschichte, Jedlicka als «Gesamtpersönlichkeit» alle Qualitäten «eines zum Ordinariat bestimmten Gelehrten» attestiert: «wissenschaftliche Originalität, Begabung zum Dozieren, Verantwortlichkeit gegenüber der neu heranwachsenden Generation, Fähigkeit zur Bildung einer ‹Schule›, Trieb zur Totalität auf dem eigenen Fachgebiet, erstaunliche Arbeitskraft». Als Inhaber eines der beiden gegenwärtigen Extraordinariate erfülle er alle Bedingungen «für den zu errichtenden ordentlichen Lehrstuhl und das auszubauende Institut, mit dessen bisheriger Entwicklung er bereits in verdienstlichster Weise verbunden ist.» (UZH-Archiv AB.1.0444).
[70] RRB vom 11. Januar 1945, Nr. 72 (UZH-Archiv AB.1.0487).

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