Carola Jäggi
Als Rahn Anfang 1912 mit 71 Jahren seinen Dienst an der Universität quittierte und kurz darauf starb, war im Unterschied zur Situation nach dem Tod Vögelins 24 Jahre zuvor klar, dass diese Stelle möglichst bald wieder zu besetzen sei, wobei die übergeordneten politischen Behörden ein Ordinariat anvisierten, die Fakultät hingegen eine Doppelbesetzung auf Extraordinariatsniveau, d. h. zwei Stellen mit jeweils geringerem Lehrdeputat und entsprechend geringerem Einkommen, bevorzugte: «Bei der Behandlung der Frage der Wiederbesetzung der in Frage stehenden Professur gingen Erziehungsrat und Hochschulkommission von der Ansicht aus, es sollte der Kunstgeschichte an unserer Universität vermehrte Bedeutung gegeben und zu diesem Zwecke wieder ein volles Ordinariat eingerichtet werden, wie ein solches in früheren Zeiten bestanden hatte. Die philosophische Fakultät, I. Sektion, nahm zuvor eine ablehnende Haltung ein, indem sie der Schaffung zweier voller Extraordinariate (mit Vorschlag Zemp, Brun) den Vorzug gab mit der Begründung, daß dadurch den Bedürfnissen unserer Hochschule besser gedient sei, als mit einem Ordinariat. Auf Veranlassung der vorberatenden Behörden brachte die Fakultät jedoch Vorschläge für die Besetzung eines Ordinariates ein (Privatdozent Dr. Rintelen, Berlin; Professor Weese, Bern; Privatdozent Dr. Wackernagel, Leipzig). Diese Vorschläge wurden zunächst zurückgelegt, in der Absicht, zu versuchen, einen tüchtigen Kunsthistoriker schweizerischer Herkunft für die Professur zu gewinnen; dabei wurde insbesondere an Professor Dr. Paul Ganz, Basel, gedacht. Es ergab sich indes, daß Professor Ganz wohl in ganz hervorragender Weise zur Leitung eines Kunstmuseums befähigt ist, daß er aber als Dozent nicht in jeder Hinsicht die Qualifikationen besitzt, die von einem Ordinarius für Kunstgeschichte gefordert werden müssen. Da inzwischen Dr. Rintelen von der preußischen Regierung in amtlicher Mission nach Rom versetzt worden war, mußte dieser Vorschlag der Fakultät aufgegeben werden. Ein mit Mehrheit eingebrachter Antrag der Hochschulkommission, es sei Professor Zemp ein volles Ordinariat zu übertragen, fand die Zustimmung des Erziehungsrates nicht. Die Behörde stellte sich vielmehr auf den Standpunkt, die Frage der Wiederbesetzung eines Ordinariates für Kunstgeschichte zunächst noch offen zu lassen und Professor Zemp als Extraordinarius in Vorschlag zu bringen.»[16]
Josef Zemp (Abb. 5 und 6) war 1893 bei Rahn mit einer Arbeit über die Schweizer Bilderchroniken und ihre Architekturdarstellungen promoviert worden und 1898 in Zürich habilitiert. Seit 1893 arbeitete er an Rahns Kunstdenkmäler[n] des Kantons Solothurn mit, wurde 1894 Assistent am Schweizerischen Landesmuseum, lehrte 1898–1904 Kunstgeschichte an der Universität Fribourg, um 1904 als Vizedirektor des Landesmuseums nach Zürich zurückzukehren.[17] Gleichzeitig mit der Aufnahme seines letztgenannten Amtes wurde er 1904 zum Titularprofessor am Eidgenössischen Polytechnikum ernannt und 1912 ebendort zum Ordinarius für Kunstgeschichte und Archäologie befördert, wo er die gesamte Architekturgeschichte von den Ägyptern bis zur Gegenwart abdeckte. Seine Ernennung zum Extraordinarius der Kunstgeschichte an der Universität Zürich erfolgte schliesslich zum Sommersemester 1913 mit dem oben zitierten Regierungsratsbeschluss vom 23. Januar 1913. Wie bereits Rahn lehrte Zemp also gleichzeitig am Polytechnikum und an der Universität und war wie dieser über seine früheren Tätigkeiten im Landesmuseum und in der Schweizerischen Gesellschaft für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler in vielfältige ausseruniversitäre Netzwerke integriert.[18] Anders, als man dies erwarten würde, bot Zemp an der Universität vor allem Lehrveranstaltungen zur neuzeitlichen Kunst bis 1900 an, während Veranstaltungen zum Mittelalter und explizite Architekturthemen in seinem Lehrportfolio an der Universität selten waren.[19] Durch seine «streng wissenschaftliche Arbeitsmethode» habe Zemp die «heranwachsende Generation für verschiedene, die Kunstgeschichte berührende Berufszweige vorbereitet»[20] – Linus Birchler wird ihn 1942 als den letzten «ragende[n] Vertreter der historisch denkenden Kunstgeschichtsforschung» bezeichnen.[21]
1922 wurde – in etwa parallel zum Ausscheiden von Carl Brun und durchaus in Abhängigkeit davon – die ausserordentliche Professur von Zemp in eine ordentliche mit demselben Lehrgebiet (Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit) umgewandelt: «Die Fakultät weist darauf hin, daß Prof. Zemp diese Würdigung zufolge seines Ansehens als Kunsthistoriker verdiene; daß aber auch ein Grund darin liege, daß seit dem Rücktritt von Prof. Brun die Kunstgeschichte an der Universität Zürich lediglich durch ein Extraordinariat vertreten sei, während sie nach ihrer Bedeutung Gegenstand eines Ordinariates zu sein verdiente.»[22] Tatsächlich hatte die Philosophische Fakultät I schon früher in jenem Jahr einen entsprechenden Antrag gestellt, hatte dabei betont, dass es zu keiner finanziellen Mehrbelastung komme und sich die Vorlesungen von Zemp eines grossen Zuspruchs von «Auditoren» erfreuten.[23] Vor allem aber sei «nach dem Rücktritt des Herrn Prof. Dr. Brun die ‹Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit› an unserer Universität nur durch ein einziges Extraordinariat vertreten», was «nicht im Entferntesten der Bedeutung dieses wichtigen Faches» entspreche. Dabei wird explizit auf andere Universitäten «des In- und Auslandes» verwiesen, zudem auf die Situation «zu Lebzeiten des Herrn Prof. Rahn». Die Hochschulkommission hatte sich zunächst kritisch gegen dieses Ansinnen gestellt und dabei u. a. zu bedenken gegeben, «ob nicht in der Frequenz der Vorlesungen für Kunstgeschichte ein erhebliches Überwiegen solcher Auditoren weiblichen Geschlechts sich ergibt, die bloß aus Liebhaberei die Vorlesungen besuchen».[24]
Zemps Lehrverpflichtung umfasste seit seiner Beförderung zum Ordinarius 4–6 Stunden, als seine Lehrgebiete wurden «Christliche Baukunst, bildende Kunst des Mittelalters und schweizerische Kunst» festgeschrieben.[25] 1928, noch vor seinem 60. Geburtstag, gab Zemp sein Ordinariat an der Universität jedoch auf und lehrte von da an bis zu seinem Altersrücktritt 1934 nur noch am benachbarten Polytechnikum.[26] Der Universität Zürich blieb er aber auch weiterhin als Honorarprofessor verbunden.[27]