Carola Jäggi
Seit ihrem gleichzeitigen Amtsantritt zum Wintersemester 1870/71 haben Vögelin und Rahn sowohl in der Lehre als auch in ihren Forschungen eine erstaunlich kohärente Wirkung entfaltet, die nur in enger gegenseitiger Absprache denkbar ist. So verschieden die beiden Kollegen auch gewesen sein mögen, so einig scheinen sie sich in ihrem gemeinsamen Ziel gewesen zu sein, die Schweizer Kunst aus ihrem Nischendasein des Staffagehaften und Randständigen zu befreien und die Zeitgenossen für den Wert des Lokalen zu sensibilisieren. Dies macht sich sowohl im Lehrprogramm der beiden Professoren als auch in ihren Forschungen und nicht zuletzt in ihren zahlreichen ausseruniversitären Aktivitäten bemerkbar. In der Lehre haben sich Vögelin und Rahn insofern ergänzt, als Rahn vorwiegend über mittelalterliche Kunst doziert hat und sein Augenmerk vor allem – wenn auch keineswegs ausschliesslich – der Architektur zuwandte, Vögelin hingegen über «neuere» Malerei lehrte sowie diverse kulturhistorische Themen anbot, wie dies von der Denomination seiner Professur vorgesehen war. Kernelement von Vögelins Lehre war ein dreiteiliger Vorlesungszyklus zur Kulturgeschichte der Schweiz, geteilt in einen Abschnitt «von den ältesten Zeiten bis 1500» und zwei dem 16.–18. Jahrhundert gewidmeten Teilen.[44] Hinzu kamen in regelmässigen Abständen angebotene Vorlesungen zur Geschichte der neueren Kunst (vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart),[45] zu Raffael[46] und Holbein,[47] aber auch Über Theatergebäude und Theatereinrichtungen im Alterthum, im Mittelalter und in der Neuzeit,[48] zu Zwingli,[49] zu Herders Leben und Schriften,[50] zu den Beziehungen der Schweiz zum päpstlichen Stuhl,[51] zu den Anfänge[n] des Christenthums[52] und zur Geschichte der eidgenössischen Bünde und der schweizerischen Bundesverfassung.[53]
Wiederholt bot Vögelin zudem kunst- und kulturgeschichtliche Übungen an, in der Regel – soweit rekonstruierbar – im Rahmen des Angebots in Allgemeingeschichte am Historischen Seminar.[54] (Abb. 12 und 13) Ricarda Huch, die seit 1887 in Zürich Geschichte studierte, nahm im Sommersemester 1888 – nur wenige Monate vor Vögelins Tod am 17. Oktober 1888 – an zwei seiner Veranstaltungen teil und erinnert sich in ihren 1938 publizierten Jugenderinnerungen wie folgt: «Sachlich sehr wenig hatte ich von demjenigen Professor, der mich persönlich am meisten interessierte: ich meine Salomon Vögelin. Ich hörte bei ihm ein Kolleg über Schweizer Humanisten und nahm an einem Seminar teil, wo über Holbein gearbeitet wurde, das in seinem schönen alten Hause an der Bahnhofstrasse abgehalten wurde; es ist längst abgerissen. Einmal führte Vögelin das Seminar nach Basel, um die dort befindlichen Bilder von Holbein zu zeigen. Mir kamen damals altdeutsche Bilder noch schlechtweg hässlich vor. Von der Schönheit der Holbeinschen begann ich zwar etwas zu ahnen, besonders starken Eindruck machten mir die Zeichnungen zu den Orgelflügeln des Basler Münsters, aber liebevollere Blicke warf ich doch im Vorübergehen auf die Gemälde von Böcklin. Im ganzen war ich für die Vorlesungen von Vögelin nicht genügend vorbereitet, und doch glaube ich gerade von ihm etwas vernehmen zu müssen, was mich besonders anginge. In seinem sehr markanten Gesicht war etwas Schwermütiges, etwas Zweifelndes und Problematisches, das mich beschäftigte; dazu kam, daß mit einer gewissen Zurückhaltung von ihm gesprochen wurde, als sei etwas Anstößiges an ihm, was besser verschwiegen bleibe. Mein erstes Semester war das letzte, in dem er las; er war schon schwerkrank und ist bald darauf gestorben.»[55] Das «Anstössige», das Huch hier nennt, dürfte Vögelins Engagement für die radikaldemokratische Bewegung gewesen sein, was andererseits wohl gleichzeitig für das besondere Interesse verantwortlich war, dass Huch für Vögelin entwickelte. Vögelins politische Vorliebe für die Demokraten machte sich nicht nur in seinen politischen Ämtern bemerkbar, die er parallel zu seiner Hochschultätigkeit ausübte – 1869–1884 als Zürcher Kantonsrat, 1872–1881 als Mitglied des kantonalen Erziehungsrats, 1875–1888 als Nationalrat und 1883–1888 als Mitglied des Grossen Stadtrats von Zürich[56] –, sondern auch in vereinzelten Angeboten innerhalb seines Lehrprogramms, etwa zur Entwicklung der Demokratie in der Antike (WS 1885) und im 16.–19. Jahrhundert (SS 1886, WS 1886/87, SS 1887, WS 1887/88), zum Antheil der Schweiz an der humanistischen Bewegung (SS 1885, WS 1887/88, SS 1888) oder zu David Friedrich Strauss (WS 1877/88).[57] Vermutlich waren es vor allem diese Vorlesungen, in denen sich «eine schlecht rasierte, langhaarige, äußerst kunstlos frisierte Hörerschaft» versammelt haben soll, «begeisterte Schwärmer- und Prophetengesichter», «Märtyreraugen sowie Fanatikerprofile», alle «für das Evangelium der Gleichheit und Brüderlichkeit entflammt» und «Eigentum Diebstahl nennend», kurz: «Kommunisten».[58]
Vögelin wird von seinen Hörer:innen als «eine von den geistig lebendigsten Persönlichkeiten der Hochschule» beschrieben, als brillanter Redner und mitreissender Dozent, der seinen Vortrag auf der Basis eines kleinen Merkzettels frei entwickelte.[59] Allerdings haben sich von ihm auch ausformulierte Vorlesungsmanuskripte erhalten, die eine systematische Darlegung des Gegenstands inklusive der angewandten Methodik dokumentieren.[60] (Abb. 14) Vögelins Kollege Rahn scheint zeit seines Lebens auf der Basis ausformulierter Manuskripte doziert zu haben, was ihm bisweilen den Ruf eines Pedanten eingebracht hat.[61] Insgesamt wird Rahn als Liebhaber des Festen, «Wohlgefügten» und Nachprüfbaren geschildert, dem jede «geniale Spekulation» zuwider gewesen sei.[62] Ricarda Huch besuchte bei Rahn eine Vorlesung über Gotik, in der sie «das Gefühl wesentlicher Belehrung und Bereicherung genoß. Rahn trug höchst klar und anschaulich vor.
Ich begriff erst jetzt, daß Gebäude nicht schlechtweg nach jeweiligem Geschmack errichtet werden können, sondern daß ihr Zweck und statische Gesetze die Bedingungen sind, mit denen der Bauwille sich auseinandersetzen muß innerhalb der Formenwelt, die er vorfindet.»[63] (Abb. 15) Tatsächlich ging es in vielen von Rahns Lehrveranstaltungen um Architektur und die komplexen Bedingtheiten, die für das Zustandekommen von Bauwerken verantwortlich waren, doch zeigt das Portfolio seiner Vorlesungen und Seminare, dass er sich in der Lehre keineswegs auf die Architektur beschränkte, sondern auch die Malerei und die graphischen Künste berücksichtigte und neben Schweizer Themen stets auch das Internationale im Blick hatte. Seine allererste, noch als Privatdozent im Sommersemester 1869 angebotene Vorlesung war der Geschichte des Kirchenbaus im Mittelalter gewidmet, es folgten – immer noch vor seiner Ernennung zum Extraordinarius – Veranstaltungen Ueber die mittelalterlichen Kunstdenkmäler der Schweiz und ihr Verhältniss zu denjenigen der Nachbarländer (WS 1869/70), zu Lionardo, Raffael und Michelangelo (SS 1870) und zur Schweizerische[n] Kunst im Reformationszeitalter (WS 1870/71).[64] Alle diese Themen hat Rahn auch später wiederholt angeboten, jene zu den mittelalterlichen Kunstdenkmälern in der Schweiz – bisweilen ergänzt um einen Blick ins 16. und 17. Jahrhundert – im WS 1871/72, SS 1878, SS 1879, WS 1879/80, WS 1880/81, WS 1881/82, SS 1882, SS 1883, WS 1883/84, SS 1886, WS 1886/87, SS 1887, SS 1889, WS 1890/91, SS 1891, WS 1892/93, WS 1894/95, SS 1895, WS 1895/96, WS 1897/98, SS 1898, WS 1998/99, WS 1901/02, WS 1903/04, SS 1904, WS 1907/08, SS 1908, WS 1911/12 und im SS 1912, jene zu den drei Malerheroen der italienischen Renaissance im SS 1873, WS 1885/86, WS 1889/90, WS 1891/92, WS 1896/97, SS 1901, WS 1906/07, WS 1910/11, jene zur Geschichte des Kirchenbaus im WS 1874/75, SS 1878 und jene zur frühneuzeitlichen Kunst in der Schweiz im SS 1872, WS 1873/74, SS 1875, WS 1876/77, SS 1902, WS 1904/05, WS 1908/09. Hinzu kamen Vorlesungen und Seminare zur italienischen Malerei bis zum 16. Jahrhundert,[65] zur Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei bis zum 16. Jahrhundert,[66] zur Geschichte der Glasmalerei, mit besonderer Berücksichtigung der Schweiz,[67] zur Geschichte des Holzschnitts und des Kupferstiches nebst Vorweisungen,[68] zur Kunst «im gothischen Zeitalter»,[69] zur Geschichte der altchristlichen Kunst (SS 1872), zu Stadt, Burg und Edelsitz des Mittelalters und der Renaissance in der Schweiz,[70] zur Allgemeine[n] Kunstgeschichte des Mittelalters,[71] ferner eine Einleitung in die mittlere und neuere Kunstgeschichte, verbunden mit Uebungen und Besprechungen (SS 1873). Wie Vögelin hat auch Rahn kunstgeschichtliche Übungen am Historischen Seminar angeboten, komplementär zu Vögelin jeweils im Sommersemester, bisweilen «mit besonderer Berücksichtigung der romanischen und gothischen Denkmäler der Schweiz» (SS 1874) und «wenn möglich mit Excursionen».[72] Im Wintersemester 1894/95 taucht innerhalb von Rahns Lehrangebot erstmals das Thema Ueber Erhaltung und Wiederherstellung historischer Baudenkmäler auf, das ebenfalls zu einem seiner ‹Klassiker› wurde (WS 1896/97, SS 1900).
Die alten Vorlesungsverzeichnisse zeigen, dass sowohl Vögelin als auch Rahn in ihre Lehre regelmässig Originale und anderes Anschauungsmaterial einbezogen haben; Ricarda Huch erwähnt für Vögelin eine Exkursion nach Basel, um Holbeins Werke im Original betrachten zu können, bei Rahn verweisen die insbesondere bei den Kunstgeschichtlichen Übungen auftauchenden Vermerke «wenn möglich mit Exkursionen», «mit Benutzung der Kupferstichsammlung des eidgenössischen Polytechnikums» oder «im Landesmuseum» auf die gemeinsame Autopsie vor Ort. Rahn hatte seit 1883 neben seinem Ordinariat an der Zürcher Universität auch die Professur für Kunstgeschichte am Polytechnikum inne und war dort massgeblich am Auf- und Ausbau der Kupferstich- und der Gipsabgusssammlung beteiligt.[73] Auch für Vögelin ist im Zusammenhang mit seinen kunsthistorischen Übungen der Einbezug von Gipsabgüssen sowie «eigenen Stichen, Photographien oder Zeichnungen» in die Lehre bezeugt.[74] Bei Rahn wurden die Studierenden angehalten, selbst zu zeichnen – auch auf Exkursionen und bisweilen schon auf der Zugfahrt zu einem kunst- bzw. architekturhistorischen Reiseziel.[75] Diese intime Studienatmosphäre war nicht unwesentlich dem Umstand geschuldet, dass kunsthistorische Lehrveranstaltungen damals selten von mehr als zehn Personen besucht wurden und eine «Schülerzahl» von 14 bereits als stattlich galt.[76]
1) In das Studium und die Kritik der Quellen allgemeiner sowohl als schweizerischer Geschichte einzuführen
2) Zu selbständiger Behandlung historischer Themata anzuleiten und
3) In der Kunst und Fertigkeit des historischen Unterrichts zu üben.»
Zur «Erreichung dieses Zweckes» würden «zwei Arten von Uebungen» angeboten, nämlich «Vortragsübungen und kritische Übungen». Bei den von Vögelin und Rahn (vgl. unten) angebotenen Übungen dürfte es sich um zweitere gehandelt haben. ↵