Carola Jäggi
Mit Zemps vorzeitigem Rücktritt von seiner Universitätsprofessur im Jahr 1928 stellte sich – wie bereits 1912 nach der Emeritierung Rahns – erneut die Frage, wie es weitergehen solle mit der Zürcher Kunstgeschichte. War die 1923 erfolgte Wahl Wölfflins explizit als Ergänzung zu der damals durch Zemp vertretenen positivistischen Kunstgeschichte der Rahn-Schule gedacht gewesen,[45] so war nun zu überlegen, wie dieses Gleichgewicht perpetuiert werden konnte. Die Lösung hiess Konrad Escher (1882–1944; Abb. 10). Escher hatte in Zürich bei Rahn und Zemp studiert, ausserdem bei Georg Dehio in Strassburg (1902–1904) und bei Wölfflin in Berlin.[46] Nach der Promotion, die 1905 an der Universität Zürich auf Basis einer Arbeit über Wand- und Deckenmalerei in der Schweiz vom 9. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts erfolgt war, wurde Escher Assistent an der Öffentlichen Kunstsammlung Basel. In Basel wurde Escher 1909 mit seiner Studie zu Barock und Klassizismus habilitiert, doch liess sich Escher neun Jahre später an die Universität Zürich umhabilitieren und erhielt hier 1918 die Venia legendi für mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte.[47] Das 1922 parallel zum Antrag der Fakultät auf Beförderung Zemps vom Extraordinarius zum Ordinarius gestellte Gesuch auf Beförderung des Privatdozenten Konrad Escher zum Extraordinarius in der Nachfolge des kurz zuvor pensionierten Carl Brun wurde von den übergeordneten Behörden abgelehnt und als Kompensation ein vierstündiger Lehrauftrag sowie die Ernennung zum Titularprofessor bewilligt.[48] Begründet wurde die Ablehnung damit, dass «der Vorgeschlagene» zwar «durch großen Fleiß, durch gründliches Wissen und durch anerkennenswerte Erfolge als Forscher auf dem Gebiet der Kunstgeschichte sich ausgewiesen» habe, seine Lehrtätigkeit aber «noch nicht allen Anforderungen» entspreche.[49] Wichtiger aber scheinen pekuniäre Überlegungen gewesen zu sein: «Wesentlich ist sodann, daß Prof. Brun nicht ein volles Extraordinariat inne hatte, was in seiner Lehrverpflichtung und demgemäß auch in einem verminderten Besoldungsansatz Ausdruck fand.» Die Schaffung eines vollen Extraordinariates sei deshalb «für den Staat mit einer Mehrausgabe verbunden» und ergo zu vermeiden.[50]
Bei der Diskussion um die Nachfolge Zemps kam Escher dann aber doch noch zum Zuge: Zum Wintersemester 1928/29 erfolgte seine Ernennung zum ausserordentlichen Professor für mittlere und neuere Kunstgeschichte mit einer Lehrverpflichtung von 5–8 Wochenstunden. Im entsprechenden Regierungsratsbescheid vom 23. August 1928 wird betont, dass Escher eine perfekte Ergänzung darstelle zu Wölfflin, in dessen Händen die «Hauptprofessur» liege, und – vielleicht wichtiger noch – «daß es notwendig sei, auch in der Zukunft zwei kunstgeschichtliche Professuren zu unterhalten».[51] (Abb. 11) Dieser letztgenannte Punkt war auch im Antrag des Dekans an die Erziehungsdirektion vom 19. Juli 1928, der dem Wahlentscheid zugrunde lag, mit Nachdruck formuliert, ja gefordert worden: Auch nach dem absehbaren Ausscheiden seien zwei Kunstgeschichtsprofessuren zwingend notwendig, liege es doch «im Wesen der Sache […], dass in diesem Fache eine mehr stofflich und auf Einzeltatsachen gerichtete Forscherpersönlichkeit ergänzt werden muss durch eine zur Systematik und allgemein geisteshistorischen Gesichtspunkten neigende».[52] Das Lehrgebiet von Escher sei deshalb nur provisorisch zu bestimmen, «um später nicht der andern Professur hinderlich zu sein». Bei einer «Neuordnung der Dinge» könne der Lehrauftrag Eschers dann eventuell «in dem Sinne, dass die schweizerischen Kunstdenkmäler in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit gestellt werden», neu umschrieben werden.
Eschers Lehrtätigkeit deckte ein schwindelerregend breites Themenfeld ab, von der Kunst des Frühmittelalters über die romanische Baukunst, die Interdependenz von Mystik und bildender Kunst, Leonardo und die Kunst der Renaissance bis zu den künstlerischen Bewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts, nicht selten begleitet durch Exkursionen in der Schweiz und ins Ausland, was damals eine Neuerung darstellte.[53] Von der Anziehungskraft konnte es Escher mit Wölfflin aber nicht aufnehmen. Dennoch war auch Escher ein «Mann der Öffentlichkeit», indem er sich – ganz in der Tradition Rahns – auch ausserhalb der Universität für kunsthistorische Anliegen engagierte, sei es als Präsident der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK) oder als erster Vorsitzender der Volkshochschule Zürich, an der er auch kunsthistorische Kurse anbot.[54]