Carola Jäggi
Als die Universität Zürich zum Sommersemester 1833 ihren Betrieb aufnahm, lag der Gedanke an eine Professur für Kunstgeschichte noch in weiter Ferne. Zwar besass die damals neu gegründete Zürcher Hochschule neben der Theologischen, der Staatswissenschaftlichen und der Medizinischen Fakultät auch eine Philosophische Fakultät, doch verteilten sich die dort tätigen acht Professoren auf die Bereiche Philosophie, Klassische Philologie und Altertumskunde, Geschichte, Mathematik und Naturkunde.[1] Die Kunstgeschichte erhielt – in Kombination mit Kulturgeschichte – erst 1870 eine institutionelle Verankerung, als mit Friedrich Salomon Vögelin (* 1837) und Johann Rudolf Rahn (* 1841) gleich zwei Extraordinarii für dieses Fachgebiet ernannt wurden. Dadurch, und erst recht nach der sieben Jahre später wiederum etwa gleichzeitig erfolgten Beförderung von Vögelin und Rahn zu ordentlichen Professoren, wurde die Kunstgeschichte nicht nur zu einem der personell am besten dotierten geisteswissenschaftlichen Fächer an der Universität Zürich, sondern diese auch auf einen Schlag zur führenden Hochschule für dieses Fachgebiet im deutschen Sprachraum.[2] Auch andernorts entstanden in dieser Zeit kunstwissenschaftliche Professuren, jedoch nie wie in Zürich in Doppelformation. In Deutschland war das erste Ordinariat für Kunstgeschichte 1860 an der Universität Bonn eingerichtet und mit Anton Springer, seit 1858 ebendort Extraordinarius, besetzt worden, der mit seinem Wechsel 1872 nach Strassburg und ein Jahr später (1873) nach Leipzig auch dort jeweils der Kunstgeschichte zur universitären Institutionalisierung verhalf.[3] In Österreich war es die Universität Wien, wo 1864 Rudolf Eitelberger von Edelberg, der damals schon über zehn Jahre als Extraordinarius für Kunstgeschichte und Kunstarchäologie gewirkt hatte, zum ersten ordentlichen Professor für Kunstgeschichte ernannt wurde.[4]
Zürich selbst war bereits 1855 Standort eines Ordinariats für Kunstgeschichte und Archäologie, doch war dieses nicht an der Universität, sondern am damals neu gegründeten Eidgenössischen Polytechnikum untergebracht und mit Jacob Burckhardt besetzt worden, was den Stellenwert, den man dem Fach dort beimass, dokumentiert.[5] Das Polytechnikum geht auf eine schon in der Helvetik formulierte Idee einer gesamtschweizerischen Meta-Universität zurück, war dann aber angesichts der Vorbehalte aus der Westschweiz auf eine technische Ausbildungsstätte redimensioniert worden, die vor allem für zukünftige Ingenieure, Architekten und Techniker aller Art gedacht war.[6] Die Kunstgeschichte war dort in der sogenannten Abteilung VI, der «philosophischen und staatswissenschaftlichen Abteilung», untergebracht, die nebst Physik und Mathematik diverse Fächer aus den Geistes- und Sozialwissenschaften umfasste.[7]
Das Angebot richtete sich einerseits an die Studenten der eigenen fünf Fachschulen, andererseits aber auch an jene der Zürcher Universität,[8] mit der man damals auch die Räumlichkeiten teilte – zunächst im sogenannten Hinteramt in den einstigen Klausurgebäuden der Augustinerkirche am Fröschengraben (heute Bahnhofstrasse), seit 1864 im Semper’schen Schulgebäude an der Rämistrasse 101 (Abb. 1), aus dem die Universität nach Fertigstellung des neuen Kollegienhauses 1914 auszog (Abb. 2).[9] Weshalb also sollte dieses Angebot, das doch auch den Studierenden der Universität offenstand, verdoppelt, ja gar verdreifacht werden? Die Studierendenzahl an der Zürcher Hochschule war seit dem Gründungsjahr 1833 zwar sukzessive angewachsen, war mit insgesamt 275 Immatrikulierten im Jahre 1870 aber immer noch überschaubar gering, so dass hier dieses Argument, das dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Rolle bei Ausbauwünschen spielen sollte, getrost übergangen werden kann.[10]
Wichtiger dürfte die Tatsache gewesen sein, dass sich die anfänglich erspriessliche Kohabitation der beiden Hochschulen in Zürich im Laufe der 1860er-Jahre zusehends verschlechterte, sprich: die Zugänglichkeit der Polytechnikum-Kurse für Universitätsangehörige sukzessive eingeschränkt wurde.[11] Allerdings hatte die Philosophische Fakultät I der Zürcher Universität, die seit Inkrafttreten des neuen Unterrichtsgesetzes von 1859 nur noch die Geistes- und Sozialwissenschaften umfasste, schon 1862 auf Nachfrage des damals liberalen Erziehungsrates, welche neuen Lehrfächer und Lehrkräfte sie zur «Hebung der Hochschule» einzuführen wünsche, neben Ordinariaten für Schweizergeschichte und vergleichende Sprachkunde einen Lehrstuhl der Kunstarchäologie genannt, ausserdem Professuren für die romanischen Sprachen und Literaturen – «wegen der heimischen Sprachverhältnisse».[12] Damit nahm sie Bezug auf das bereits genannte neue Unterrichtsgesetz von 1859, in dem in Blick auf den Hochschulunterricht explizit eine stärkere Berücksichtigung der «Erfordernisse der Gegenwart» und der «besonderen Bedürfnisse der Schweiz» gefordert wurde.[13] Die Umsetzung dieser Wünsche erfolgte allerdings erst, nachdem sich das politische Seilziehen zwischen Liberalen und Demokraten zugunsten letzterer entschieden und der demokratische Erziehungsdirektor Kaspar Sieber 1869 sein Amt angetreten hatte.[14] Im März 1870 stellte Sieber beim Regierungsrat den Antrag auf Einrichtung von vier neuen Universitätsprofessuren mit der Begründung, «einige Zweige der Wissenschaft, die theils durch Bedürfnisse der Gegenwart hervorgerufen sind […], theils bei der Verbindung der Lehramtsschule mit der Hochschule unentbehrlich erscheinen», seien «bis jetzt […] an unserer Hochschule gar nicht oder doch in ungenügender Weise vertreten».[15]
Unter den wünschenswerten «Lehrstellen» nannte Sieber auch explizit eine «für Culturgeschichte und insbesondere Kunstgeschichte». Diese wurde im April 1870 vom Regierungsrat bewilligt, im Mai desselben Jahres ausgeschrieben und im August mit Friedrich Salomon Vögelin (Abb. 3 und 4), einem «Gesinnungsgenossen» von Sieber, besetzt.[16] Vögelin war zu diesem Zeitpunkt Pfarrer in Uster, woher ihn Sieber kannte, der vor seinem Wechsel in die Erziehungsdirektion in Uster als Sekundarlehrer gewirkt hatte.[17] Der 1837 in Zürich geborene Vögelin hatte 1857–1861 in Basel und Zürich Theologie studiert und im April 1861 sein Studium in Zürich mit der Ordination zum Pfarrer abgeschlossen.[18]
Insbesondere in Basel hatte er neben theologischen Lehrveranstaltungen regelmässig Vorlesungen und Übungen aus Nachbardisziplinen besucht, unter anderem bei Jacob Burckhardt (Abb. 5), dessen kulturhistorischer Ansatz ihn nach eigener Aussage nachhaltig prägte.[19] Als frisch ordinierter Theologe war Vögelin 1861/2 durch Deutschland und Italien gereist, hatte an den Universitäten Heidelberg und Berlin an kunsthistorischen Lehrveranstaltungen teilgenommen und in Florenz und Rom die Werke der Antike und der Renaissance studiert.[20] Frucht seiner Italienreise war ein Aufsatz Über die neuentdeckte Katakombe San Callisto in Rom, der 1863 – ein Jahr später als seine Beiträge zu Glasgemälde[n] aus der Schweiz im Berliner Museum und zum Kloster Rüti – erschien.[21] Zurück in der Schweiz, nahm er gegen Ende des Jahres 1862 eine Pfarrverweserstelle in Uster an, die 1864 in eine volle Pfarrstelle umgewandelt wurde.[22] Mit seinen theologischen Positionen stiess Vögelin bei seinen Pfarrkollegen in Zürich und Umgebung zunehmend auf Kritik, wohl begünstigt durch sein politisches Engagement für die radikaldemokratische Bewegung, deren Interessen er seit 1869 im Kantonsrat vertrat.[23] Gründe genug also für eine berufliche Umorientierung, die Vögelin 1869 gemeinsam mit Sieber in die Wege geleitet haben dürfte. In diesem Zusammenhang muss auch Vögelins Vortragsreihe zu Raffael gesehen werden, durchgeführt im Winter 1869/70 in Zürich «vor gemischtem, sehr zahlreichem Publikum» und wohl gezielt dazu gedacht, den Referenten als Kunsthistoriker zu positionieren.[24] Seine Vorstellungen zur Kulturgeschichte und insbesondere zur Bedeutung der Kunst als «populäre Übersetzung» religiöser, politischer und sozialer Weltanschauungen hatte Vögelin bereits 1868 in einem in Basel gehaltenen Vortrag über Die Religion im Spiegel der Kunst dargelegt.[25] In seinem Bewerbungsschreiben auf die im Mai 1870 ausgeschriebene Zürcher Professur betonte Vögelin dann erneut, «dass die Geschichte überhaupt auf die Kulturgeschichte insbesondere nicht ohne Beiziehung der Kunstdenkmäler betrieben werden» könne, da sich in diesen «der Geist einer Zeit» meist viel bestimmter ausspreche «als im bloßen Worte».[26] Primär gehe es darum, den Studierenden die «richtige wissenschaftliche Methode» zu vermitteln und sie für das Wichtige zu sensibilisieren. Dazu eigne sich die Kulturgeschichte der Schweiz aufgrund des überblickbaren Umfangs bei gleichzeitigem «innern Reichthum» geradezu prototypisch. Er erinnert daran, dass die Zürcher Uni vor allem für Landeskinder gedacht sei, denen die Kulturgeschichte «zur Heimatkunde im höhern geschichtlichen Sinne» werden solle.[27] Damit lag Vögelin ganz auf der Linie der demokratischen Bildungspolitik, die eine breite Volksbildung anstrebte und nicht zuletzt für die Volksschul- und Sekundarlehrer, für die 1869 an der Zürcher Universität eine eigene Lehramtsschule eingerichtet worden war, eine solide Ausbildung forderte.[28]
Am 13. August 1870 wurde Vögelin vom Zürcher Regierungsrat zum Extraordinarius für Kultur- und Kunstgeschichte berufen «mit der Verpflichtung zu Vorlesungen von wenigstens 4 bis 6 wöchentlichen Stunden sowie zu besonderer Bethätigung an historischen Uebungen, an der Lehramtsschule, & für die historische Fortbildung der Volksschullehrer, gegen einen [sic] außer den gesetzlichen Collegiengeldern zweitausend Franken & eintausend Franken Zulage betragenden Jahresgehalt» und – auf eigenen Wunsch Vögelins – befristet auf sechs Jahre, ganz im Sinne seiner demokratischen Grundüberzeugung, die das Prinzip der Lebenslänglichkeit auch für Universitätslehrerstellen ablehnte.[29] (Abb. 6) Auf die ausgeschriebene Professur hatte sich nur ein weiterer Kandidat, «ein gewisser Dr. Lemcke aus Heidelberg», beworben, Extraordinarius für Ästhetik und deutsche Literaturgeschichte an der Universität Heidelberg und Verfasser einer 1867 bereits in Zweitauflage erschienenen Populäre[n] Ästhetik, der von der Fakultät jedoch disqualifiziert wurde, da er die Kulturgeschichte nicht abdecke und deshalb die Anforderungen der zu besetzenden Stelle nur teilweise erfülle.[30] Fünfzehn Studierende aus allen Fakultäten hatten zudem im Mai 1870 beim Erziehungsrat eine Petition eingereicht und darin in Hinblick auf die ausgeschriebene Professur ein Wort für ‹ihren› Dozenten «Dr. Rudolf Rahn» eingelegt.[31]
Der 1841 in Zürich geborene Rahn (Abb. 7 und 8) hatte 1866 an der Philosophischen Fakultät der Zürcher Universität «die allererste schweizerische kunsthistorische Dissertation»[32] eingereicht und war im Dezember 1868 ebendort habilitiert worden.
Nach ersten Studienerfahrungen (ab Wintersemester 1860/61) in seiner Heimatstadt, wo er vor allem bei Wilhelm Lübke und Gottfried Semper am Eidgenössischen Polytechnikum hörte, ist Rahn 1863 nach Bonn gewechselt und hat dort bei Anton Springer seine Dissertation Über den Ursprung und die Entwicklung des christlichen Central- und Kuppelbaus begonnen, die er anschliessend – 1864/5 – in Berlin und Dresden niederschrieb und 1866 – bereits publiziert – in Zürich einreichte.[33] (Abb. 9)
Unmittelbar nach der Promotion im Oktober 1866 reiste er nach Italien, wo er sich zunächst einige Monate in Rom aufhielt und endlich jene Monumente zu sehen bekam, über die er in seiner Dissertation auf der Basis von Sekundärliteratur gearbeitet hatte.[34] (Abb. 10) Die Rückreise nach Zürich führte ihn 1867 über Ravenna, dessen Baudenkmäler ihn offenbar besonders beeindruckten. Es folgte die Mitarbeit an der Neuauflage von Carl Schnaases Geschichte der bildenden Künste, für die er als Spezialist für «altchristliche» Kunst engagiert worden war. Gleichzeitig publizierte Rahn einen Aufsatz über seinen Besuch in Ravenna und die dortigen Monumente sowie einige Miszellen zu Schweizer Kunstdenkmälern, stets begleitet von eigenen Zeichnungen, mit denen er das Gesehene und Erlebte dokumentierte.[35] Seine Habilitation inklusive Ernennung zum Privatdozenten «für das Fach der Kunstgeschichte, insbesondere des Mittelalters» erfolgte im Dezember 1868 auf Basis einer Probevorlesung, die sich mit dem Thema Rom als Ausgangspunkt für die kirchliche Architektur des Occidents und Orients wiederum der sogenannten byzantinischen Frage annahm, welche Rahn schon ins Zentrum seiner Dissertation gestellt hatte.[36] Dass der konservative, tief im Zürcher Patriziat verankerte Rahn in derselben Regierungsratssitzung vom 13. August 1870, an der die Wahl Vögelins zum Extraordinarius für Kultur- und Kunstgeschichte vollzogen wurde, «in Anerkennung» seiner «bisherigen akademischen Lehrthätigkeit» ebenfalls zum Extraordinarius «an der philosophischen Faktultät, Sektion I der Hochschule», ernannt wurde, muss als kluger politischer Schachzug bezeichnet werden.[37] Allerdings war dies kein volles Extraordinariat, wie bisweilen zu lesen ist, sondern zunächst eine Anstellung ohne Gehalt, so dass Rahn aus seinem Universitätsjob einzig die sogenannten Kollegiengelder, d. h. die Direktabgaben der Hörer:innen für die von ihnen besuchten Veranstaltungen, einnahm und ansonsten vom eigenen Vermögen oder jenem seiner Frau gelebt haben muss.[38] Erst Anfang 1873 erhielt Rahn eine jährliche Besoldung von 1’000 Franken zugesprochen – bei gleichzeitiger Festlegung der Lehrverpflichtung auf zwei Wochenstunden.[39] Dieses Ungleichgewicht in Bezahlung und Lehrdeputat scheint auch dann noch fortbestanden zu haben, als die beiden Extraordinarii 1877 zu ordentlichen Professoren befördert wurden.
Die Beförderung des «Herrn Salomon Vögelin von Zürich, der Zeit außerordentlicher Professor für Kultur und Kunstgeschichte an der philosophischen Facultät I. Section der Hochschule, zum ordentlichen Professor für sechs Jahre mit der Verpflichtung zu Vorlesungen von wenigstens zehn bis zwölf wöchentlichen Stunden, ferner zu besonderer Bethätigung bei historischen Uebungen an der Lehramtsschule & bei der historischen Fortbildung der Volksschullehrer gegen einen außer den gewöhnlichen Collegiengeldern Frs. 4’500.- betragenden Jahresgehalt» (Abb. 11) wurde im Oktober 1876, mit Ablauf von Vögelins erster sechsjähriger Amtszeit, beschlossen, «jedoch in der Meinung, dass dieses neue Verhältnis erst auf Ostern 1877 in Kraft trete».[40] Bei Rahn erfolgte die Beförderung erst ein halbes Jahr später, im Herbst 1877, und zwar auf Antrag der Fakultät «in Anerkennung seiner Verdienste um die Wissenschaft und seiner Wirksamkeit als akademischer Lehrer»; allerdings ging es bei Rahn lediglich um «Titel, Rang und Befugnisse eines ordentlichen Professors», ohne dass damit eine Erhöhung der bereits 1873 gewährten 1’000 Franken Jahresbesoldung verbunden gewesen wäre.[41] Eine Anhebung des jährlichen Einkommens auf 2’000 Franken erfolgte bei Rahn erst 1882 – im Vergleich zu Vögelin immer noch eine bescheidene Entlohnung.[42] Möglicherweise war dies auch mit ein Grund, weshalb Rahn 1883 zusätzlich zu seiner Universitätsprofessur die Professur für Kunstgeschichte am Polytechnikum annahm; die Tatsache jedenfalls, dass sich Rahns jährliches Ruhegehalt ab 15. Oktober 1912 aus 1’000 Franken vom Kanton «unter Verdankung der geleisteten Verdienste» an der Universität und 4’000 Franken «von der eidgenössischen technischen Hochschule» zusammensetzen sollte, lässt annehmen, dass Rahns Tätigkeit am Polytechnikum wesentlich einträglicher war als seine Professur an der Universität.[43] Leider starb Rahn, bevor diese Ruhegehaltsregelung in Kraft treten konnte.