Carola Jäggi
Anders als in der Lehre, wo der Wille um die Vermittlung eines kunsthistorischen Kanons die allzu einseitige Berücksichtigung eines einzelnen Fachgebiets verbot, zeigt sich in den Publikationen von Vögelin und Rahn seit ihrem Stellenantritt an der Universität ein klares Bekenntnis zur Schweiz und ihrer historischen Kunstproduktion. Vögelin hatte schon in seinem Bewerbungsschreiben keinen Hehl daraus gemacht, dass er sein kulturhistorisches Programm insbesondere an der Schweiz zu exemplifizieren gedachte.[77] Bei Rahn, der seine akademischen Stufenleitern notabene auf der Basis von Arbeiten zur frühchristlichen Baukunst Roms und des byzantinischen Mittelmeerraumes erklommen hatte und «auf dem besten Wege» gewesen sein soll, «ein durchschnittlicher Kunsthistoriker zu werden, der genau das schreibt, was die Leser von ihm erwarten», erscheint die Exklusivität, mit der er sich nach seinem Amtsantritt als Professor an der Universität Zürich auf die Kunst in der Schweiz kaprizierte, weitaus erstaunlicher.[78] Allerdings hatte Rahn bereits als 16-Jähriger die Schweiz bereist und die dabei besuchten «Altertümer» gezeichnet.[79] 1859–1862 erschienen drei Miszellen von ihm zu Schweizer Themen, 1869 – nach einer Lücke von sieben Jahren, in denen Rahns Augenmerk auf Rom und Byzanz lag – vier weitere; danach ging es Schlag auf Schlag, zumeist Kurzbeiträge zu einzelnen mittelalterlichen Bauten oder Objekten in der Schweiz, bisweilen auch zu grösseren Themenkomplexen wie 1872 den Schweizer Zisterzienserkirchen.[80]
In den frühen 1870er-Jahren entstand auch Rahns Opus magnum, die Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz. (Abb. 16) Sie erschien ab 1873 in drei Lieferungen und lag 1876 schliesslich als 868-seitiges Buch vor, illustriert grösstenteils mit Zeichnungen von der Hand des Autors.[81] Bereits der Titel, aber auch der Aufbau des Buches inklusive der Nichtberücksichtigung der Neuzeit zeigt, dass sich Rahn eng an Schnaases Geschichte der bildenden Künste orientierte.[82] Innovativ war jedoch die Beschränkung auf die Kunst der Schweiz als eines ‹modernen› Staatsgebildes, das schon von seiner Genese her keinerlei Homogenität versprach, sondern als Berührungsraum der Ausläufer mehrerer Kulturlandschaften ein interessantes Feld künstlerischer Transfer- und Amalgamierungsprozesse darstellt. Die Forschung hat Rahns Ansatz mehrfach gewürdigt, auch die Hintergründe seines Insistierens auf der Bedeutung des Lokalen, der Kleinform, des Bäuerlichen.[83] Zumeist wird jene Passage aus dem Vorwort zitiert, in der Rahn von der künstlerischen Inferiorität der Schweiz spricht, hin und wieder auch jene aus der Einleitung, wo der Autor die «ästhetisch-philosophische Betrachtungsweise, wie sie noch im vorigen Jahrhunderte herrschend war», der «neueren Methode» einer «vorwiegend historisch-kritischen Richtung» gegenüberstellt.[84] «Wir sind nicht mehr gewohnt uns mit einem rein ästhetischen Urtheile zu begnügen, sondern wir verlangen zugleich die Verhältnisse des Kunstwerkes zu dem äusseren Leben kennen zu lernen, die Bedingungen zu erforschen, welche den einzelnen Erscheinungen zu Grunde liegen, die Zustände endlich, welche fördernd oder hemmend die künstlerische Productivität beeinflussten. Mit anderen Worten erst dann, wenn wir das Kunstwerk als einen Organismus betrachtet haben, in dem sich der Geist seines Schöpfers, seiner Zeit und seines Ortes wiederspiegelt [sic], sind wir im Stande ein sicheres Urtheil über den Werth desselben zu fassen.»[85] Allzuweit von Vögelins Konzept, Kunstwerke als historische Dokumente aufzufassen und als Bausteine kulturgeschichtlicher Narrative zu verwenden, ist dies nicht entfernt!
Interessanterweise war jenes grössere Werk, an dem Vögelin gleichzeitig wie Rahn an seinem Opus magnum schrieb, nun keineswegs auf die Schweiz beschränkt, sondern den Denkmäler[n] der Weltgeschichte (Abb. 17) von den alten Ägyptern bis zur ‹Moderne› gewidmet, letztere vertreten durch Bauten wie die Galleria Vittorio Emanuele in Mailand (Abb. 18) oder das Wiener Opernhaus.[86]
In seiner Publikationsform als kommentierter Bilderatlas war es allerdings auf ein interessiertes Laienpublikum ausgerichtet, nicht wie Rahns Werk auf ein Fachpublikum: «Man wird […] die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Völker wie auch der Menschheit im Ganzen Grossen am sichersten aus ihren künstlerischen Monumenten erkennen. […] Es sind […] die künstlerischen Monumente der eigentliche Höhenmesser für die geistige Begabung und die innere Bedeutung eines Volkes; es ist die Kunstgeschichte das Buch, in das die Menschheit mit eigener Hand ihre Entwicklung eingeschrieben. Von dieser Anschauung ausgehend setzt sich das vorliegende Werk das Ziel, dem mit der strengern Kunstgeschichte nicht näher vertrauten Publikum einen Ueberblick über die Entwicklung der in unsern Kulturkreis gehörigen Völker an der Hand ihrer künstlerischen Monumente zu geben.»[87] Hinzu kamen zahlreiche Aufsätze zu jenen Themen, die auch in Vögelins Lehre eine Rolle spielten, zu Holbein also, Niklaus Manuel, zu den frühneuzeitlichen Fassadenmalereien in der Schweiz, zur Holzschneidekunst in Zürich im 16. Jahrhundert, Über das Volkstheater in der Schweiz, Über Meubles und Zimmer-Ameublements im 16., 17. und 18. Jahrhundert, zu Glasgemälden, zu Ägidius Tschudi etc.[88] Dass Vögelin auch zeitgenössischer Kunst gegenüber aufgeschlossen war, zeigt seine Beschäftigung mit dem 1879 verstorbenen Schweizer Historienmaler Ludwig Vogel oder mit dem sich zeichnerisch auch in die aktuellen politischen Auseinandersetzungen einmischenden Karikaturisten Martin Disteli (1802–1844).[89] In der Regel wird das Fehlen eines Vögelinschen Opus magnum mit der «Zersplitterung» seiner Interessen zusammengebracht, mit fehlender Konzentration für nur eine Sache.[90] Tatsächlich war Vögelin auf tausend Hochzeiten zugleich zu Gast, war in verschiedenen Funktionen als Politiker aktiv, hielt flammende Festreden an den Neujahrsfeiern der Demokraten, war 1871 bis 1877 zusätzlich Lehrer für Schweizergeschichte am Lehrerseminar Küsnacht und schrieb 1872 an einem Lehr- und Lesebuch für die Volksschule mit.[91]
Dass ihm dabei die Schweizer Kunst ein besonderes Herzensanliegen war, zeigt auch seine Koordination der sogenannten Gruppe 38 an der Schweizer Landesausstellung von 1883, in deren Zentrum die «Historische Kunst» stand – ein Auftakt für Vögelins Kampf um ein Schweizerisches Nationalmuseum.[92] Wenn es um die Rettung «schweizerischer Altertümer» ging (Abb. 19), sei es, dass sie vom Verfall bedroht waren oder aber ins Ausland verscherbelt werden sollten, fanden sich Rahn und Vögelin Seite an Seite.[93] So war es selbstverständlich, dass Vögelin in der massgeblich von Rahn mitbegründeten Schweizerischen Gesellschaft für die Erhaltung historischer Kunstdenkmäler im Kuratorium sass und Rahn nach Vögelins Tod dessen Engagement für ein gesamtschweizerisches Museum weiterführte, so dass dieses 1898 unter dem Namen Landesmuseum schliesslich eröffnet werden konnte.[94] Sowohl Vögelin als auch Rahn nahmen höchstpersönlich an spektakulären Auktionen im In- und Ausland teil, um Glasscheiben und andere Objekte schweizerischer Provenienz in staatlichem Auftrag zurückzukaufen.[95] Rahn soll sogar der «Mittelpunkt eines eigentlichen Spionagerings» gewesen sein, «dem in Stammheim ein Pfarrer, ein Drogist in Solothurn, der Inhaber einer Fremdenpension in Locarno und in Beromünster ein Kanonikus am Stift angehörten», die alle, wenn sie in einer Alphütte ein Altarbild entdeckten oder irgendwo ein «Muttergöttesli» vor dem Verscherbeltwerden bewahren wollten, an Rahn schrieben und anfragten, was sie tun sollten.[96] Den beiden ersten Zürcher Kunstgeschichte-Professoren wurde für diese Pionierleistungen in vielfältiger Weise gedankt, Vögelin etwa 1885 in Form der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Basel – als Dank für «hervorragende Leistungen für die Geschichte der Kunst, insbesondere der des Vaterlandes».[97]
Rahn wiederum wurde mehrfach mit Rufen an andere Hochschulen gelockt, bereits 1868 – noch vor seiner Ernennung zum Extraordinarius in Zürich – ans Polytechnikum Karlsruhe, 1877 an die Bauakademie Berlin, 1880 an die Universität Göttingen und im selben Jahr an die Universität Strassburg, 1891 schliesslich an die Technische Hochschule Hannover, doch stets lehnte er ab zugunsten eines Verbleibs in seiner Heimatstadt.[98] (Abb. 20) Seine über 40-jährige Tätigkeit an der Universität Zürich, verbunden mit seinen vielfältigen ausseruniversitären Engagements für die Schweizer Kunstdenkmäler hat Rahn den Ehrentitel des «Vaters» bzw. «Begründers» der Schweizer Kunstgeschichte und Denkmalpflege eingebracht. Dass Rahns Erfolg aber ohne Vögelins Initiativen und Mittun nicht denkbar gewesen wäre und die beiden Kollegen sich während ihrer gemeinsamen Wirkungsjahre in Zürich 1870–1888 geradezu symbiotisch ergänzt haben, wurde erst 1976 von Adolf Reinle erkannt: «Sicher ist, dass durch die organisch ineinandergreifende Tätigkeit der beiden Extraordinarii, die weit über die Universität hinausreichte, an der Hochschule wie in der Öffentlichkeit die Existenz des Faches Kunstgeschichte bekannt, ja sogar populär machte.»[99] Beide – sowohl Vögelin als auch Rahn – haben die Grundlage dafür gelegt, dass sich das Fach langfristig an der Universität Zürich etablieren konnte und die anfängliche Doppelspitze mit einigen wenigen Unterbrechungen über 100 Jahre bestehen blieb.