Carola Jäggi
Mit der Doppelberufung von Friedrich Salomon Vögelin (1837–1888; Abb. 2) und Johann Rudolf Rahn (1841–1912; Abb. 3) zum Wintersemester 1870/71 war eine klare Agenda verbunden: Gewünscht war explizit ein breiter kulturhistorischer Ansatz, der den Studierenden der Medizin, Jurisprudenz und Theologie zugutekommen sollte, damit diese sich an der Universität nicht nur Fachwissen, sondern auch eine umfassende Allgemeinbildung aneignen konnten. Mit Vögelin und Rahn war aber auch erstmals die Möglichkeit geboten, Kunstgeschichte schwerpunktmässig zu studieren und in diesem Fach zu promovieren. Vögelin selbst war von Hause aus Theologe, während Rahn 1866 zwar auf der Basis einer kunsthistorischen Abhandlung promoviert wurde, dies aber unter der Ägide von Conrad Bursian, einem «Philolog und Alterthumsforscher»[3], sowie des Allgemeinhistorikers Max Büdinger erfolgt war.[4]
Schon 1880 konnten Vögelin und Rahn die erste kunsthistorische Dissertation approbieren, und bis zum Tod Vögelins waren es bereits vier Doktorarbeiten, die die beiden Kunsthistorikerprofessoren gemeinsam betreut hatten, thematisch angesiedelt zwischen der dürerzeitlichen Grafik bis zur niederländischen Skulptur des 16. Jahrhunderts.[5] Unter den ersten vier Promovierenden war notabene auch eine Frau, Claere Schubert, deren 1885 approbierte Arbeit über Die Brunnen der Schweiz, Denkmäler der Kunst- und Culturgeschichte mit ihren 74 Seiten die Dissertationen ihrer Kommilitonen an Umfang weit übertraf.[6] Die Universität Zürich war bekanntlich eine der ersten Hochschulen im deutschsprachigen Raum, die Frauen zum Studium zuliess; allerdings war es die Medizin, die das Gros der weiblichen Studierenden anzog, während die Philosophische Fakultät 1870 – sechs Jahre nach Einführung des Frauenstudiums 1864 – erst sieben Studentinnen zählte.[7]
Vögelin und Rahn waren für die Zürcher Kunstgeschichte insofern grundlegend, als beiden die Beschäftigung mit den Kunst- und Baudenkmälern der Schweiz ein besonderes Anliegen war, und zwar nicht nur im Rahmen ihrer Tätigkeit als Hochschullehrer, sondern auch in einem weiteren Sinne als gesellschaftspolitische Aufgabe.[8] Sowohl Vögelin als auch Rahn engagierten sich neben ihrer universitären Lehrtätigkeit für die Rettung gefährdeten Kulturguts, waren beteiligt am Aufbau des Schweizerischen Landesmuseums und legten die Grundlagen für eine systematische Inventarisierung der Schweizer Kunstdenkmäler. Dass es vor allem Rahn ist, der in diesem Kontext im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt überlebt hat, liegt insbesondere daran, dass Rahn seinen früh verstorbenen Professorenkollegen um 24 Jahre überlebt hat und in diesen zweieinhalb Jahrzehnten das spezifische, von Objektnähe und Praxisbezug geprägte Profil der Zürcher Kunstgeschichte weiter schärfen sowie eine stattliche Anzahl von ‹Schülern› heranziehen konnte, die dieses Profil noch lange perpetuieren sollten.[9] Fast 15 Jahre lang blieb Vögelins Professur unbesetzt, so dass Rahn in dieser Zeit – abgesehen von einigen episodenhaften Lehrangeboten der Privatdozenten Franz Friedrich Leitschuh, Ernst Alfred Stückelberg und Friedrich Carstanjen[10] – die Zürcher Kunstgeschichte im Alleingang vertrat.
Erst in Rahns letzten Lebens- und Wirkungsjahren kam mit Carl Brun (Abb. 4) ein neuer Kollege hinzu, wie damals nicht selten über einen internen Beförderungsprozess und deshalb auch nicht als Ordinariat besetzt. Carl Brun (1851–1923) hatte bei Vögelin und Rahn an der Universität Zürich und bei Semper und Kinkel am Eidgenössischen Polytechnikum, der heutigen ETH, studiert, lehrte ab 1883 Kunstgeschichte an der höheren Töchterschule der Stadt Zürich, wurde 1888 Konservator der Zürcher Künstlergesellschaft und 1890 Kustos der Kupferstichsammlung des Polytechnikums.[11] 1890 war auch das Jahr seiner Habilitation an der Universität Zürich. Dass Brun nicht promoviert war, wurde 1897 durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät I «in Anerkennung seiner Verdienste um die wissenschaftlichen Vereinigungen und Institute der Schweiz und seiner Forschungen insbesondere auf dem Gebiete der italienischen Kunstgeschichte»[12] gleichsam ‹geheilt›. 1902 erfolgte auf Antrag derselben Fakultät die Ernennung Bruns zum ausserordentlichen Professor für Geschichte der Malerei mit einer Lehrverpflichtung von 2–4 Vorlesungen pro Woche. Begründet wurde dies mit dem Umstand, dass «der Ordinarius für Kunstgeschichte, Prof. Dr. Rahn, aus Gesundheitsrücksichten seine Vorlesungen auf 2–3 habe reduziren und zudem sich in den letzten Jahren wiederholt habe beurlauben lassen müssen. Da aber unter den Studirenden der Hochschule immer einige Kunsthistoriker seien, so sei eine so geringe Zahl von Vorlesungen und Übungen durchaus ungenügend und es sei eine außerordentliche Professur für Geschichte der Malerei und des Kupferstichs ein entschiedenes Bedürfnis.»[13] Brun bot in der Folge vor allem Vorlesungen zur Kunst der italienischen Renaissance und zur deutschen sowie französischen Malerei und Skulptur des 17., 18. und 19. Jahrhunderts an, ausserdem Übungen zur frühneuzeitlichen Grafik «mit Benützung der Kupferstichsammlung der Eidg. Technischen Hochschule», deren Kustos er bis 1922 blieb.[14] Aus dem Universitätsdienst war er ein Jahr früher, im Sommer 1921, entlassen worden, wie damals üblich nach Vollendung des 70. Lebensjahres.[15]