Carola Jäggi
In der Diskussion um den Zuschnitt der Zürcher Kunstgeschichte nach dem Rücktritt von Escher im Sommer 1944 legten Fakultät und übergeordnete Behörden grossen Wert auf eine Lösung, die nicht nur die professoralen Einzelpersönlichkeiten berücksichtigte, sondern ein Gesamtinstitut ins Auge fasste: Bereits in ihrem Schreiben vom 27. Oktober 1944 betonte die Fakultät mit grossem Nachdruck, dass es ihrem Antrag um Schaffung eines Ordinariats und dessen Besetzung durch Gotthard Jedlicka keineswegs nur «um einen kunstgeschichtlichen Lehrstuhl im engeren Sinne des Wortes» gehe, vielmehr sei diesem «ein in den Anfängen zwar bereits bestehendes, aber des Ausbaus und der Vollendung dringend bedürfendes kunstgeschichtliches Institut zur Seite zu stellen. […] Viel weniger als in einem andern Fall reichen die üblichen Bibliotheken und Sammlungen aus. Nur eine planmässige und durch lange Zeit zentral und verantwortlich geleitete Sammlung von Druckschriften und Kopien jeder Art kann den Vorlesungen des Dozenten denjenigen Rahmen geben, welcher eine fruchtbare Vertiefung seitens der Studenten ermöglicht.»[93] Die «kunstgeschichtliche Abteilung der Philosophischen Fakultät I» habe in diesem Sinne bereits «höchst verdankenswerte Schritte getan, die nur der letzten Krönung durch eine geeignete Persönlichkeit bedürfen, um Zürich als einen Platz für kunstgeschichtliche Studien von hohem Rang erscheinen zu lassen».
Auch in ihrem 1946 wieder aufgenommenen Antrag auf Beförderung von Hans Hoffmann zum Extraordinarius untermauerte die Fakultät ihr Anliegen mit institutionellen Argumenten: Das Bedürfnis nach zwei Fachvertretern sei «heute umso dringlicher, als die umfangreichen und wertvollen Schenkungen der Professoren Wölfflin und Escher der sach- und fachkundigen Bearbeitung und Nutzbarmachung harren».[94] Escher hatte wenige Jahre zuvor seine über 4’000 Bände umfassende Bibliothek dem kunstgeschichtlichen Seminar vermacht.[95] Den Grundstock zu einer kunsthistorischen Seminarbibliothek und -fotothek hatte aber Wölfflin gelegt, der während seiner Zürcher Jahre (1924–34) unter der beengten Unterbringung der Kunstgeschichte an der Universität und ihrer schlechten Ausstattung gelitten hatte: «keine Diapositive, keine Bibliothek, kein eigentlicher Seminarraum».[96] 1941 schenkte Wölfflin «seine kunsthistorische Bibliothek summarisch dem Kunsthistorischen Seminar der Universität Zürich», des Weiteren verfügte er, dass auch «sein Material an Abbildungen, soweit er es für zweckdienlich erachtet», «den Büchern mitgegeben werden [solle], ebenso sein großer Schreibtisch, die Büchergestelle und Bilderkästen» und nicht zuletzt die zahlreichen Porträtbüsten, die von ihm angefertigt worden waren (vgl. Abb. 8).[97]
Unmittelbar nach seiner Beförderung zum Ordinarius 1945 setzte Jedlicka alles daran, diese Bestände zu systematisieren[98] und dadurch die chaotische Situation zu überwinden, in der sich Seminar in seinen – Jedlickas – eigenen Anfangsjahren präsentierte: «Heinrich Wölfflin hatte es Joseph Zemp und Konrad Escher überlassen, das Kunstgeschichtliche Seminar einzurichten und auszubauen, und diese hatten keine Lust, in dieser Angelegenheit irgendetwas zu unternehmen. Sogar der kleine Raum, der Bibliothek, Photothek und Diapositive vereinigte, bestand im wesentlichen aus Glasschränken ohne Inhalt: vielleicht zweitausend Diapositive, einige Mappenwerke, Thieme-Becker bis zum Jahre 1930 und im übrigen noch 73 Bücher und Broschüren: alles in einem unbeschreiblichen Zustand der Verwahrlosung. Unmöglich, mit diesem ‹wissenschaftlichen Apparat› die einfachste Seminararbeit auszuführen. Ich [Jedlicka, Anm. C. J.] bin überzeugt, daß Heinrich Wölfflin jeder Wunsch des Kunstgeschichtlichen Seminars erfüllt worden wäre: wie keinem vor ihm, wie keinem nach ihm. Aber er hatte keine Wünsche: sogar die geringste Anstrengung in dieser Richtung war ihm zuwider […]».[99] (Abb. 20) In seiner Institutsgeschichte von 1976 versuchte Reinle diesen Sachverhalt damit zu begründen, dass «die deutsche Idealvorstellung eines straff durchorganisierten und von einem Ordinarius beherrschten ‹Instituts› […] den individualistischen und unbeamtenhaften Schweizer Gelehrten zudem auch wesensmässig fern» gelegen habe.[100]
Mit Jedlicka war es dann allerdings durchaus ein Schweizer Gelehrter, der Ordnung in die Sache brachte und dem Kunsthistorischen Seminar nicht nur eine funktionstüchtige Bibliothek, sondern auch ein neues ‹Zuhause› bescherte. Als Dekan, der er 1950–1952 war, dürfte er nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass ‹sein› Seminar, dem er seit seiner Beförderung zum Ordinarius anno 1945 ex officio vorstand, zum Sommersemester 1954 zusammen mit dem Archäologischen Institut in die alte Augenklinik an der Rämistrasse 73/Ecke Karl Schmid-Strasse (Abb. 21) einziehen konnte und nicht mehr in jenen beengten räumlichen Verhältnissen im Kollegiengebäude verblieb, wo es seit dessen Eröffnung 1914 untergebracht war.[101] Jedlicka selbst schenkte dem Seminar anlässlich des Einzugs in die neuen Räumlichkeiten einen grossen Teil seiner eigenen Fachbibliothek, konkret 1’246 Bücher, zu denen 1968 aus seinem Nachlass nochmals 1’790 Einheiten hinzu kommen sollten.[102] Weitere ca. 2’000 Bücher waren 1951 durch das Vermächtnis von Heinrich Bodmer, dem ehemaligen «Leiter des Deutschen kunsthistorischen Institutes in Florenz», in den Besitz der Seminarbibliothek gekommen.[103] Für die systematische Erschliessung dieser Bücherschenkungen war bereits 1946 die Stelle eines Assistenten geschaffen worden[104], die zunächst mit einem Bibliothekar, seit Mitte der 1950er-Jahre mit einem «fortgeschrittenen Studenten» besetzt wurde,[105] stets mit einem 25%-Pensum, was sich immer wieder als ungenügend erwies, zumal besagter Assistent auch für die Foto- und die Diasammlung zuständig war, die «gegen Entschädigung» auch einer weiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stand.[106] Mehrfach beantragte Jedlicka deshalb bei den zuständigen Stellen eine Hilfskraft zur temporären Unterstützung des Assistenten und 1962 schliesslich die Anhebung der Assistenz auf eine Vollstelle, wie sie dem Seminar schon 1946 vom Regierungsrat zugesagt worden war.[107] Für all diese Bemühungen sollte Jedlicka später als «eigentlicher Gründer der heute bestehenden Kunstgeschichtlichen Seminarbibliothek» gewürdigt werden,[108] und mit Fug und Recht könnte man dies auch auf die Fotothek und die Diathek ausweiten, die im vordigitalen Zeitalter wichtige Hilfsmittel für Forschung und Lehre waren.
Aber nicht nur Jedlicka, sondern auch dessen Kollege Peter Meyer trug zur Mehrung der Buch- und Bildbestände des Seminars bei. So kündigte Meyer kurz vor seiner Pensionierung dem Rektor brieflich an, er habe vor, seine «schätzungsweise 35’000 Abbildungen umfassende Bilder-Kartothek» sowie seine Bibliothek, «soweit sie aeltere und neuere Kunst betrifft», dem Kunsthistorischen Seminar der Universität zu vermachen; schon jetzt übergebe er dem Seminar «einen gerahmten Kupferstich von Raffaels ‹Madonna della Sedia› aus dem Besitz des Architekten Gottfried Semper, er kann im Seminar oder im Bodmerhaus Platz finden, sofern dieses für Universitätszwecke verwendet wird».[109] Bereits 1956, zu seinem Amtsantritt, hatte Meyer dem Kunsthistorischen Seminar bzw. dessen Vorsteher Jedlicka seine Sammlung von 1’800 Diapositiven zum Kauf angeboten und dafür einen Pauschalbetrag von 8’000.- Franken erbeten.[110] Wie kostbar und teuer die vor dem digitalen Zeitalter für kunsthistorische Vorträge üblichen Diapositive waren, zeigt auch die besondere Gebühr, die Zemp schon Jahre zuvor mit obrigkeitlicher Erlaubnis von seinen Auditoren «für die mit Lichtbildern verbundenen Vorlesungen» erhoben hatte, «in der Meinung, daß der erzielte Einnahmebetrag für Neubeschaffung von Lichtbildern verwendet werde»; 1927 betrug diese Gebühr – notabene zusätzlich zu dem ohnehin anfallendem Kollegiengeld – immerhin 4 Fanken pro Hörer:in und Vorlesungsstunde, was Zemp in die Lage versetzte, den damaligen Diabestand systematisch um gezielte Zukäufe zu erweitern.[111]