Ylva Gasser
Seit der Eroberung der Hörsäle durch das Kleinbild-Dia, das vor einigen Jahren seinerseits durch digitale Präsentationsmedien verdrängt wurde, fristet das Foto- und Bildarchiv des Kunsthistorischen Instituts ein stiefmütterliches Dasein. Die an die 100’000 dort gelagerten Glasdiapositive, Kunstdrucke, Druckgrafiken, Postkarten, Silbergelatine- oder Albumin-Abzüge sind ihrer ursprünglichen Bestimmung beraubt, nämlich der Veranschaulichung und Wiedergabe von Kunstwerken jeglicher Gattung zum Zwecke des Studiums. Lediglich Teile des Archivbestandes, konkret das Bildmaterial aus der Schenkung Heinrich Wölfflins, finden derzeit in Zusammenhang mit dem Wölfflin-Editionsprojekt Beachtung.[1] Der reiche und vielfältige Bestand des Archivs jedoch ist bleibendes Zeugnis der Geschichte der Kunstgeschichte an der Universität Zürich, spiegelt das fotografische Wissen des Studienfaches, dokumentiert den Wert und Umgang mit Bildmaterial in der Lehre, erhellt Strömungen der hiesigen kunsthistorischen Forschung und beleuchtet Wirkung und Tätigkeit herausragender Persönlichkeiten. Um die Vielfalt und die grosse Zahl an Objekten überblicken und materialgerecht archivieren zu können und um ein Findmittel zu schaffen, das es Forschenden, Studierenden und Interessierten erlaubt, Einblick in den Bestand zu erhalten, hat die Mediathek des Instituts, der das Bild- und Fotoarchiv angegliedert ist, 2018 begonnen, ein Inventar zu erstellen und die Objekte zu digitalisieren.
In Zusammenhang mit dieser Arbeit ist eine kleine schwarze Schachtel ins Blickfeld gerückt, die Neugier weckte und Fragen aufdrängte. (Abb. 1) Darin fanden sich nicht nur dutzende kleinformatige fotografische Abzüge, die Landschaften, Strassenzüge und Bauwerke Italiens, der Westschweiz und Frankreichs wiedergeben, sondern auch Fotografien der Kathedrale von Durham und etliche Negative. Vom Bildmaterial und den handschriftlich beschrifteten Umschlägen und Couverts kann auf den ursprünglichen Besitzer und Fotografen geschlossen werden: Konrad Escher.[2] Dieser Persönlichkeit, seiner Tätigkeit als Dozent, Forscher und Förderer der Schweizerischen Kunstgeschichte sowie seinem Umgang mit Bildmaterial sind die folgenden Ausführungen gewidmet. All diese Aspekte spiegeln sich im Bestand des Archives des Kunsthistorischen Instituts wider, so dass jeweils ausgehend von einzelnen Objekten des Archivs das Wirken Eschers und damit ein kleines Stück Geschichte der Kunstgeschichte in Zürich näher beleuchtet werden kann. Der am 21. Oktober 1882 in Zürich geborene Konrad Escher studierte in Zürich, Strassburg und Berlin Kunstgeschichte, allgemeine Geschichte und Archäologie, schloss 1906 mit summa cum laude seine Dissertation Untersuchungen zur Geschichte der Wand- und Deckenmalerei in der Schweiz vom IX. bis zum Anfang des XVI. Jahrhunderts bei Prof. Rudolf Rahn ab und habilitierte 1909 in Basel.[3] 1918 kehrte Escher nach Zürich zurück, liess sich umhabilitieren und war ab 1918 als Privatdozent am Kunsthistorischen Institut Zürich zugelassen; seine Antrittsvorlesung mit dem Titel Das Nationale in der abendländischen Stilentwicklung musste jedoch wegen der damals grassierenden Grippe-Epidemie auf den 14. Juni 1919 verschoben werden. Am 23. November 1922 beschloss der Regierungsrat, Konrad Escher zum Titularprofessor zu ernennen.[4] Am 23. August 1928 wählte der Regierungsrat des Kantons Zürich Konrad Escher auf den 16. Oktober 1928 zum Nachfolger von Josef Zemp. Dem Beschluss ist zu entnehmen: «Die phil. Fakultät I der Universität Zürich schlägt zur Wahl zum ausserordentlichen Professor für mittlere und neuere Kunstgeschichte an Stelle Prof. Zemp’s, der auf Schluss des Sommersemesters 1928 zurückgetreten ist, Titularprofessor Dr. Konrad Escher vor […] In Titularprofessor Dr. Konrad Escher sei eine Persönlichkeit vorhanden, an der vorüberzugehen ganz unmöglich sei; denn Prof. Escher habe sich seit Jahren an unserer Universität mit zunehmenden Lehrerfolg betätigt; er habe sich durch umfangreiche wissenschaftliche Publikationen einen Namen gemacht; […]. Dabei hebt die Fakultät unter Nennung der Publikationen hervor, wie Prof. Escher in der Förderung der von Prof. Rahn seinerzeit in hervorragender Weise gepflegten schweizerischen Kunstgeschichte unter Beachtung der zürcherischen Kunst sich ein ansehnliches Verdienst erworben habe.»[5] Die im Regierungsratsbeschluss betonte «Förderung der schweizerischen Kunstgeschichte unter Beachtung der zürcherischen Kunst» war geradezu Programm und Zusammenfassung Eschers Wirken in seinen Zürcher Jahren bis zu seinem frühzeitigen Tod, wobei unter Förderung der schweizerischen Kunstgeschichte nicht nur Untersuchungen zu schweizerischen Kunstwerken und Denkmälern zu verstehen ist, sondern auch die Lehre an der Universität, die Förderung der Denkmalpflege, die Dozententätigkeit und Aufgaben als Exkursionsleiter an der Volkshochschule, deren erster Vorsitzender Escher von 1926 bis zu seinem Tode war. Escher lebte die Überzeugung, dass Kunst, Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft nicht ein Privileg weniger sein sollten: «Wenn ihr [der Kunstwissenschaft, Anm. Y. G.] keine allzu rosige Zukunft beschieden sein sollte, so darf sie doch, freilich nur unter steter Fühlungnahme mit den anderen Wissenschaften und stetiger Erweiterung ihres Gesichtskreises, und nicht zuletzt unter ständigem innigem Verkehr mit dem Leben, mit lebendiger Kunst und Künstlern hoffen, an der Erziehung der Menschheit mitzuwirken, nicht als Privileg für Wenige, sondern als Gut für Alle, die nach Veredelung verlangen.»[6] Am Ende des Regierungsratsbeschlusses sind zusammenfassend das staatliche Jahresgehalt, Umfang und Anspruch auf Kollegiengeld, Verpflichtungen und Aufgaben als Dozent und Lehrer aufgeführt. «Der Lehrauftrag umfasst bei einer Verpflichtung zu 5–8 wöchentlichen Vortrags- und Übungsstunden die mittlere und neuere Kunstgeschichte mit der Verpflichtung und dem Recht, im Einvernehmen mit dem Inhaber der Hauptprofessur Vorlesungen aus dem ganzen Gebiet der Kunstgeschichte zu halten.»[7] Ein Blick auf die im Laufe der Jahre gehaltenen Vorlesungen und Übungen belegen, dass Escher die Verpflichtung, «Vorlesungen aus dem ganzen Gebiet der Kunstgeschichte zu halten», vollumfänglich erfüllte. Er las u. a. über frühchristliche Kunst, Kunst des frühen Mittelalters, der Früh- und Hochgotik, über italienische Kunst im Zeitalter Dantes, über einzelne Künstler wie Leonardo und dessen Umkreis, Raffael und seine Schule, Michelangelo, Rubens, Rembrandt, über niederländische Malerei von van Eyck bis zu Brueghel, über Hoch- und Spätbarock in Italien, über französische Kunst, protestantischen Kirchenbau, die Kunst des 19. Jahrhunderts, über Van Gogh, Cézanne, Hodler wie auch über die Kunst der Gegenwart; schliesslich dürfen auch seine Einführung in die Kunstwissenschaft und seine Übung Grundlagen des kunstwissenschaftlichen Studiums nicht vergessen werden.
So erstaunt es nicht, im Fotoarchiv des Kunsthistorischen Instituts Zürich von Escher verwendetes Bildmaterial in unterschiedlichsten zeitlichen und thematischen Zusammenhängen anzutreffen. Was Bildmaterial für Escher bedeutete, wird deutlich in seinem Skript zur Einführung in die Kunstwissenschaft. (Abb. 2) Escher betont dort: «Photog & Lichtbilder sind ein Notbehelf / ein ‹notwendiges Übel›, ebenso die Buchillus u Tafelwerke.»[8] Wie mit diesem «notwendigen Übel», dem «Notbehelf», umgegangen und wo er eingesetzt wurde, beschreibt 1944 Gotthard Jedlicka, sich an eine als Student bei Escher besuchte Übung zu Bernini erinnernd, die bei Escher zu Hause stattfand: «Er [Escher, Anm. Y. G.] sass damals in seiner grossen, reichen Bibliothek, gleichsam als ein Mitlernender unter uns, beugte sich wie wir über seine Bücher und Photographien, beobachtete, fragte, wurde gefragt, gab Antwort, suchte mit uns nach dem richtigen Wort, der treffenden Bemerkung, dem wesentlichen Zusammenhang, dem entscheidenden Gegensatz zu anderer künstlerischen Gestaltung – und darum wurden diese Übungen für uns so fruchtbar.»[9] Jedlickas Beschreibung belegt nicht nur die Arbeitsweise mit fotografischen Materialien, sondern erhellt auch, wie in diesen Jahrzehnten an der Universität unterrichtet wurde, nämlich in den reich bestückten Privatbibliotheken der Professoren mit deren privaten Büchern und Fotografien. Ein kleines Notizbuch, mit Ausleihen beschriftet, belegt, dass Escher immer wieder Fotografien und Bücher an Schüler und Kollegen ausgeliehen hat. Der Eintrag 24. X. 23 Waldmann, Manet, Jedlicka belegt bereits zu Studienzeiten das Interesse Gotthard Jedlickas am französischen Künstler, über den Jedlicka 1941 eine Monografie veröffentlichen sollte. Und ein Hinweis wie 30. IX. 24 40 Lichtbilder Moderne Kunst Dr. Tobler deutet darauf hin, dass Escher auch über eine Sammlung an Lichtbildern verfügt haben muss.[10] Lichtbilder wurden in Vorlesungen und bei Vorträgen projiziert, wofür teure Gerätschaften benötigt wurden. Für deren Beschaffung scheint sich Escher eingesetzt zu haben, werden ihm doch 1935 vom Zürcher Hochschulverein 500 Franken für die Anschaffung eines Lichtbilderapparates «Baloptikum B» bewilligt, was damals in etwa zwei Monatslöhnen eines ledigen SBB-Streckenarbeiters entsprach.[11] Lichtbilder und Fotografien scheinen in den 1930er und 40er-Jahren sehr begehrt und bei Weitem nicht allerorts und jederzeit verfügbar gewesen zu sein.
Wie Briefe aus dem Nachlass belegen, hat Escher oft Bildmaterial ausgeliehen. Ob es sich dabei um Fotografien aus Eschers Privatsammlung oder um solche aus der Institutssammlung handelten, kann jedoch nicht beantwortet werden, da die Korrespondenz Eschers häufig als Notizpapier endete und deshalb nur lückenhaft erhalten blieb. Zerrissen oder zerschnitten in ungefähres A6-Format fanden Briefe eine neue Bestimmung: Sie wurden zu Notizbüchern des Gelehrten. Es gibt aber bei der Durchsicht des Nachlasses Eschers auch Glücksfälle, etwa wenn Teile eines zerrissenen Briefes beieinander liegen, zusammengefügt und gelesen werden können, so zum Beispiel bei einem Brief von Paul Ganz an Escher vom 15. September 1936. (Abb. 3 und 4) In diesem Schreiben bedankt sich Ganz für 32 ausgeliehene Fotos, die am 14. Congrès International d’Histoire de l’Art Suisse 1936 Verwendung fanden.
Eschers Forderung und Überzeugung, wenn irgend möglich Originale zu studieren, prägten massgeblich seine Lehre. «Für das Studium wichtig: Immer und immer wieder Studium Originalkunstwerk / nicht warten bis man Beste Gelegenheit hat grosse […] zu besuchen / sondern an Ort und Stelle anfangen.»[12] Ergänzend dazu hat Escher am Rand notiert: «Kunsthaus / Landesmus / […] Kupferstichsl / Kunsthandlung / Fauves bei […].»
Escher führte vorzugsweise Übungen vor dem Original durch, auch wenn die Möglichkeiten dazu in Zürich sehr bescheiden waren, wie Dietrich Schwarz beschreibt: «Wenn die Zürcher Sammlungen auch wenig Anschauungsmaterial für eine Geschichte der grossen Kunst liefern konnte, so bot die Zentralbibliothek mit ihrem reichen Handschriftenbestand Anlass, seine Schüler vor die Originale mittelalterlicher Miniaturenkunst zu führen. Hier konnte dann vor den Kunstwerken selbst die ihm so überaus wichtig erscheinende Stilkritik und der damit zusammenhängende Stilvergleich exemplifiziert werden.»[13] In einer Zeit, in der Bildmaterial teuer und zumeist nur in Schwarz-Weiss zur Verfügung stand, kann die Bedeutung, die dem Studium der Originale vor Ort beigemessen wurde, nachvollzogen werden. Escher lebte diese Überzeugung seit seiner eigenen Studienzeit, und es erstaunt nicht, in Rahns Bericht über die Dissertation von Escher den Hinweis zu finden: «Während mehreren Jahren […] hat er die Schweiz durchwandert und keine Stelle unberücksichtigt gelassen, die ihm einen Fund verhiess.»[14] (Abb. 5) Eschers Studienreisen werden auch im Regierungsratsbeschluss, der die Ernennung zum ausserordentlichen Professor protokolliert, anerkennend erwähnt: «Nach einem längeren Aufenthalt in Italien und der vorübergehenden Besorgung der Assistentenstelle an der öffentlichen Kunstsammlung in Basel habilitierte er sich im Sommersemester 1909 an der Universität Basel, wo er in dieser Stellung bis 1918 wirkte. Während dieser Zeit machte er wiederholt Studienreisen in seinen Fachdisziplinen in Italien, Deutschland, Österreich, Frankreich und England.»[15] Die zwischen beiden Kriegen liegende Zeit nutzte Escher immer wieder für grössere Reisen nach Italien, Spanien, Frankreich, England, Schottland, in die Niederlande, nach Deutschland, Skandinavien und Osteuropa.[16] «Das Reisen bedeutete für ihn als Forscher überhaupt eine ernsthafte Tätigkeit, die zur Arbeit des Kunsthistorikers integral hinzugehört.»[17]
Ein Instrument, seinen Schülern eine umfassende Bildung als angehende Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen zukommen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, Originale von herausragender Bedeutung zu studieren, waren die bis dahin in dieser Form noch nicht durchgeführten Auslands-Exkursionen. Escher notierte im Skript zur Einführung in die Kunstwissenschaft: «Der Kunsthistoriker muss auch über das Material, das er bearbeitet, völlig im Klaren sein. Er muss die Kunstwerke nach den verschiedensten Seiten hin kennen.»[18] Die Exkursionen wurden sorgfältig geplant und vorbereitet, wobei Escher die ganze ‹Reisetechnik› gerne einem Studierenden überliess. Wie dicht gedrängt und vielfältig sich das Programm einer solchen Exkursion gestaltete, zeigt dasjenige der Studienreise nach Paris vom 5.–19. April 1934. (Abb. 6)
Am Nachmittag des 14. Aprils haben die Studierenden zum Beispiel das Musée de Cluny besucht. Auch dieser Besuch scheint gründlich vor- oder zumindest nachbereitet worden zu sein, finden sich doch von damals dort ausgestellten Werken zehn Fotografien aus dem ehemaligen Besitz Eschers in der Mediathek des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich, wie die jeweiligen Stempel verso belegen. (Abb. 7) Diese ausgedehnten Studienreisen waren für die Teilnehmenden Herausforderung, Horizonterweiterung und Bereicherung zugleich, wie Dietrich Schwarz in seinem Nachruf zu Escher ausführt: «Auf derartigen Exkursionen begnügte er sich nie mit der Betrachtung einzelner Kunstwerke oder Gruppen von Kunstwerken, sondern er war stets bestrebt, sie in den grossen stilistischen Rahmen zu stellen, sie aus ihren eignen Voraussetzungen und aus Beeinflussungen zu erklären und die davon ausgehenden Ausstrahlungen anzudeuten.
Die Teilnehmer an diesen Reisen bildeten darum oft richtige Arbeitsgemeinschaften, wobei nach anstrengenden Bemühungen auch der Naturgenuss oder Theaterbesuche zur notwendigen schöpferischen Entspannung eingeschaltet wurden […].»[19] Aber nicht nur hinsichtlich der geforderten Studien und Arbeit der Teilnehmenden im Vorfeld und während der Reise stellte eine Exkursion eine Herausforderung dar, auch die Höhe der Kosten darf nicht unerwähnt bleiben. (Abb. 8) Dem Programm der erwähnten Paris-Exkursion und den an die Teilnehmenden abgegebenen Unterlagen ist zu entnehmen, dass jeder Teilnehmer 194 Franken zu bezahlen hatte und zusätzlich mit 70–80 Franken für die Verpflegung rechnen musste, wobei Métro, Taxi und Bad noch nicht einberechnet waren.
274 Franken waren in jener Zeit eine sehr stattliche Summe: Sie entsprach bis auf einen Franken genau dem damaligen Monatslohn eines ausgebildeten Metzgers mit zwei Jahren Berufserfahrung.[20] Hatte die oben skizzierte Praxis, die Studierenden zu Hause in der Privatbibliothek mit eigenen Büchern und Fotografien auszubilden, Lichtbilder an Vorlesungen zu projizieren und der Grundsatz, wenn möglich das Original zu studieren, in deren Folge Übungen in Sammlungen und Exkursionen durchgeführt wurden, Auswirkungen auf den Bücher- und Bildmaterialbestand des Kunsthistorischen Instituts?
Jedlicka beschreibt den Zustand des Kunsthistorischen Instituts in einer oft zitierten Passage: «[…] Heinrich Wölfflin hatte es Josef Zemp und Konrad Escher überlassen, das Kunstgeschichtliche Seminar einzurichten und auszubauen, und diese hatten keine Lust, in dieser Angelegenheit irgendetwas zu unternehmen. Sogar der kleine Raum, der Bibliothek, Photothek und Diapositive vereinigte, bestand im Wesentlichen aus Glasschränken ohne Inhalt: vielleicht 2000 Diapositive, einige Mappenwerke, Thieme Becker bis zum Jahre 1930 und im übrigen Bücher und Broschüren: alles in einem unbeschreiblichen Zustand der Verwahrlosung.»[21] Verstehen wir Jedlickas Beschreibung auf Grund der Thieme Becker-Bände als Zustand frühestens um 1931, so hat sich in den darauffolgenden zwölf Jahren, in denen Escher als Ordinarius am Institut und für kurze Zeit – 1942 – auch als Dekan der Philosophischen Fakultät gewirkt hat, einiges verändert.
Trotz des Krieges hatte sich der Zustand der Bibliothek und Fotosammlung in jenen Jahren merklich verbessert und immens vergrössert. Auch die Besoldung des Bibliothekars, dem die Verwaltung der Fotothek übertragen war, wurde deutlich erhöht. Dank der erhaltenen Korrespondenz Eschers können Zustand, Ausbau, Pflege und Umfang der Fotothek und Bibliothek in den letzten Jahren von Eschers Wirkungszeit belegt werden. So heisst es in einem Schreiben Eschers vom 26. Oktober 1942 an die Erziehungsdirektion Zürich (Abb. 9): «Das kunstgeschichtliche Seminar der Universität Zürich, d. h. Raum 103, ist im Laufe dieses Jahres umgebaut worden, um ausschliesslich als Arbeitsraum für die Studierenden zu dienen und um die Vergrösserung der Bibliothek zu ermöglichen; […]
Vor Semesterbeginn war eine systematische Katalogisierung und Neuaufstellung des Bestandes an Büchern, Zeitschriften und Broschüren unumgänglich nötig.»[22] Ende desselben Jahres listete Escher die im laufenden Jahr eingegangenen Schenkungen auf, und zu den verschiedenen Büchern, die er dem Institut übergab, gehörten auch etliche Abbildungen und «10 Schachteln mit ca. 500 Fotografien». (Abb. 10) Da Escher seine Fotografien und Bücher durch einen Stempel zu kennzeichnen pflegte, wären diese einfach zu ermitteln. Doch kann heute nicht mehr präzise nachvollzogen werden, um welche ca. 500 Einheiten es sich handelt, da die Kartons, auf welche die Abzüge kaschiert waren, in den letzten Jahrzehnten oftmals beschnitten oder die Fotografien abgelöst, bisweilen auch verschenkt oder gar weggeworfen wurden, da deren Nutzen nicht mehr ersichtlich war. Das eingangs erwähnte Inventar des Fotoarchives weist deshalb bei weitem keine 500 Fotografien aus, die aufgrund der rückseitigen Stempelung gesichert Konrad Escher als Schenker zuweisbar wären.
Welche Bedeutung den Lichtbildern beigemessen wurde und wo sie insbesondere Verwendung fanden, wird in einem Schreiben Eschers deutlich, in dem er begründet, wieso mehr Geld für Lichtbilder als für Bücher ausgegeben werden musste. Im Begleitbrief zu Bericht und Jahresrechnung des Kunstgeschichtlichen Seminars an Regierungsrat Dr. Hafner, Erziehungsdepartement, vom Januar 1943 ist zu lesen: «Wie Sie aus der Rechnung ersehen, waren die Ausgaben für Bücher gering, wogegen die Anschaffung von Lichtbildern einen weit höheren Betrag ausmachen, was in erster Linie durch das Erfordernis neuer Vorlesungsthemen zu erklären ist. Ferner ergibt sich immer deutlicher die Notwendigkeit, ausser der Gesamtansicht eines Kunstwerkes auch eine Reihe von guten Detailaufnahmen vorzuführen um das Kunstwerk möglichst eingehend erläutern zu können. Der Bezug von Diapositiven aus dem Ausland ist gegenwärtig (Italien vorläufig ausgenommen) vollständig gesperrt, so dass jedes Lichtbild beim Photographen bestellt werden muss, wobei natürlich mit beständiger Erhöhung der Materialkosten zu rechnen ist. […] Das jährliche Salair von Frs 80.- für den Bibliothekar erweist sich als sehr gering in Anbetracht dessen, dass er auch die Lichtbildersammlung zu verwalten, d. h. namentlich die Ausleihe von Diapositiven für Vorträge zu besorgen und die Rückgabe zu kontrollieren hat.» (Abb. 11)
Angesichts des von Jedlicka für 1931 geschätzten Bestands an 2’000 Lichtbildern müssen die Anschaffungen an Lichtbildern in den kommenden zwölf Jahren enorm gewesen sein, denn im Rapport über die vorgenommene Zählung der Lichtbilder im kunstgeschichtlichen Apparat der Universität Zürich, datierend vom 31. Dezember 1943, werden 21’632 Lichtbilder ausgewiesen. «Inhalt der 11 Schränke (528 Schubladen) total 21’229 Stück, Bei den Herren Dozenten total 327 Stück, Ausgeliehen laut Ausleiheft (Frau Heider 72, Frl. Leuzinger 4) total 76 Stück, zusammen: 21’632 Stück. […] Ferner befinden sich im Schrank rechts beim Fenster ca 400 Stück früher ausgeschiedener Dupletten und teilweise defekte Platten, […].»[23] (Abb. 12)
Zum Zeitpunkt, als dieser Rapport erstellt wurde, arbeitete Escher zu Hause in Winterthur an Band II Stadt Zürich der Reihe Kunstdenkmäler des Kantons Zürich. Zehn Tage nach seinem 60. Geburtstag hatte ihn ein erster Schlaganfall heimgesucht, so dass er sich gezwungen sah, das ehrenvolle Amt als Dekan niederzulegen und sich für ein Semester von der Lehrtätigkeit beurlauben zu lassen, um seine Kräfte voll und ganz der Fertigstellung des zweiten Bandes zur Stadt Zürich der Kunstdenkmäler der Schweiz widmen zu können. Die Herausgabe dieses Bandes, wie auch seine jahrelange Tätigkeit für die Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, lagen Escher besonders am Herzen. Escher wirkte bei der Reorganisation der Schweizerischen Gesellschaft für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler mit, war von 1922 bis 1933 Mitglied der Redaktionskommission und seit 1933 sogar Präsident der sog. Erhaltungsgesellschaft. Die Namensänderung in Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte erfolgte 1934 im zweiten Jahr von Eschers Amtszeit als Präsident und war Ausdruck des Zieles, aus der zahlenmässig beschränkten und in weiten Kreisen unbekannten Gesellschaft die für wissenschaftliche Fragen zur Schweizer Kunst massgebliche, überall bekannte Instanz zu machen.[24] Dieses Ziel hatte Escher erreicht, als er sich 1942 gezwungen sah, aus gesundheitlichen Gründen das Amt niederzulegen. Paul Ganz würdigte in seiner Trauer-Ansprache diesen Einsatz mit den Worten: «[…] ich möchte im Gegenteil nur einen für seine persönliche Eigenart besonders charakteristischen Aufgabenkreis hervorheben, die Erforschung der Kunstdenkmäler der Heimat und seine Bestrebungen zur Erweckung des allgemeinen Interessens für diese Zeugen unserer künstlerischen Kultur. […] er stellte sich aber auch als guter Schweizer in den Dienst unserer wissenschaftlichen Gesellschaften und half bei der Umwandlung der alten Gesellschaft zur Erhaltung historischer Kunstdenkmäler in die neue Gesellschaft für schweizerische Kunstgeschichte die neue Organisation zur Herausgabe der Kunstdenkmäler der Schweiz aufzubauen. Während 9 Jahren stand er unserer Gesellschaft als Präsident vor und durfte nach Abschluss seiner dreifachen Amtsperiode feststellen, dass sich die Zahl der Mitglieder um das zehnfache vermehrt hatte und die Behörden aller Kantone zur Mitarbeit an der wichtigen nationalen Aufgabe gewonnen waren.»[25]
Das Verfassen eines Bandes der Reihe Kunstdenkmäler des Kantons Zürich bedeutete für Escher auch intensive Auseinandersetzung mit dem Bildmaterial, das wiedergegeben werden sollte. Nicht nur die Auswahl der treffenden Fotografie hatte Escher bestimmt, sondern auch den jeweiligen Bildausschnitt festgelegt und bestimmt, wo und wie die fotografischen Vorlagen nachzubessern, zu ergänzen und zu retuschieren seien. Dies kann z. B. an Hand der erhaltenen Vorlagen der Abbildungen seines ersten 1939 erschienenen Bandes der Kunstdenkmäler der Stadt Zürich nachvollzogen werden. Abbildung 5 auf Seite 9 in diesem Buch gibt den «untere[n] Teil des städtischen Limmatufers. Schipfe und Lindenhof. – Bauzustand 1938» wieder. (Abb. 13)
Die Vorlage dazu gehört zum Bestand des Fotoarchives des Kunsthistorischen Instituts und lässt bei näherer Betrachtung Retuschen erkennen. (Abb. 14 und 15) Verso hat der Autor nicht nur den Bildausschnitt, den es abzubilden galt, eingezeichnet, er hat auch präzise Angaben darüber notiert, was abgedeckt und ergänzt werden musste, damit die Abbildung im Buch bei Drucklegung seinem ästhetischen Empfinden und einer in seinen Augen stimmigen Inszenierung der Ansicht des unteren linken Limmatufers entsprach.
Die Fotografie des Predigerchores auf Seite 206 irritiert den heutigen Betrachter. (Abb. 16) Die Bildunterschrift Zürich – Die Predigerkirche. Ansicht des Chors von Südosten. Bauzustand 1938 suggeriert eine Realität, wie sie auch 1938 nicht anzutreffen war. So fehlt etwa der Turm, der aus dem gewählten Blickwinkel des Fotografen zu sehen war und deshalb auch auf dem Bild sein müsste. Ein nicht retuschierter Abzug der Fotografie belegt, dass dort links im Hintergrund der Glockenturm zu sehen ist. (Abb. 17) Konrad Escher schreibt zu diesem Turm: «1898–1900: Turm in Verbindung mit einem Konfirmandenzimmer am Westende der Nordseite nach Plänen von Prof. G. Gull von Friedrich Wehrli gebaut».[26] Was den Autor bewog, den Turm wegretuschieren zu lassen, kann nur vermutet werden. Vielleicht sollte der Anblick und die Wirkung des Chores durch andere, in diesem Zusammenhang unbedeutende Bauelemente nicht gestört werden.
Mit demselben Eifer, intensiver Recherche, sorgfältiger Auswahl und unermüdlichem Einsatz, den Escher bei der Fertigstellung seines Bandes I der Kunstdenkmäler der Stadt Zürich aufgewendet hatte, wollte er auch den zweiten Band zum Abschluss bringen. Doch sein Gesundheitszustand verbesserte sich leider nicht, die Anfälle wiederholten sich, so dass er nach schwerem Ringen 1943 dem Regierungsrat ein Entlassungsgesuch einreichte. In Anerkennung seiner grossen Verdienste ernannte ihn der Regierungsrat in Folge zum Honorarprofessor.
Am 18. September 1944 verstarb Escher, ohne den zweiten Band vollendet zu haben. Die Förderung der Schweizerischen Kunstgeschichte erfüllte er aber noch ein letztes Mal über seinen Tod hinaus: Er vermachte dem kunstgeschichtlichen Seminar testamentarisch seine ca. 3’000 Bände umfassende wertvolle Bibliothek.[27]